Es schreibt: Tilman Kasten

(22. 6. 2015)

In jüngster Zeit entstanden mehrere Studien, die die Unterscheidung zwischen der „sudetendeutschen“ und „Prager deutschen“ Literatur (1890–1938) infrage stellen sowie neue Betrachtungsweisen der Geschichte der deutschsprachigen Literatur Böhmens, Mährens und Österreichisch-Schlesiens bzw. Mährisch-Schlesiens anregen. Revisionsbedürftig erscheinen vor allem die Implikationen jener Dichotomisierung, der zufolge die Prager deutschen Literaten humanistisch (und modern) und die „sudetendeutschen“ Schriftsteller nationalistisch bzw. völkisch (d. h. antimodern) orientiert gewesen seien und es keine Transfers zwischen beiden Literaturen gegeben habe. Unter Anknüpfung an die territoriale bzw. regionale Literaturgeschichtsschreibung wird dagegen als Alternative vorgeschlagen, „Prager deutsche“ und „sudetendeutsche“ Literatur als Teile einer deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens aufzufassen (freilich mit „unscharfen“ Rändern und Binnendifferenzierungen sowie im Kontext der modernen Literatur insgesamt). Diesen Forschungsdiskurs greift Kristina Lahl in ihrer Dissertation über Das Individuum im transkulturellen Raum. Identitätsentwürfe in der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens 1918–1938 (Bielefeld: transcript Verlag 2014) auf und widmet sich der Analyse eines engeren Textkorpus von elf Romanen/Erzählungen (darunter Hermann Ungars Die Verstümmelten, F. C. Weiskopfs Das Slawenlied, Paul Kornfelds Blanche oder das Atelier im Garten, Alice Rühle-Gerstels Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit und Friedrich Jakschs bzw. Bodenreuths Alle Wasser Böhmens fließen nach Deutschland). Dabei grenzt sich die Autorin von sozialgeschichtlich orientieren Ansätzen ab, die ihrer Ansicht nach die Spezifik literarischer Texte einem historischen Erkenntnisinteresse unterordneten und oftmals nur selektiv auf einzelne Textpassagen rekurrierten. Lahl möchte „die Literatur selbst“ (S. 28) in den Mittelpunkt stellen und so „den Texten und nicht vorgefertigten Mustern und Theorien gerecht werden“ (S. 176) – ohne dabei freilich die Beziehungen zwischen den Texten und ihren historischen Kontexten zu vernachlässigen.

 

Wie bereits angedeutet, stellt Lahl mit Bedacht ein heterogenes Textkorpus zusammen; dieses reicht von Werken kommunistischer AutorInnen bis hin zu „Grenzlandromanen“ und von Werken, die explizite Bezüge auf böhmische/mährische „Realien“ aufweisen, bis hin zu Texten, bei denen dies nicht der Fall ist. In ihren Textanalysen (Kap. 5) arbeitet Lahl ein allen gemeinsames thematisches (und damit verbundenes ästhetisches) Moment heraus: Alle Werke stellten eine „Aufarbeitung der Zwischenstellung des Individuums zwischen Kollektiven, der Identitätsproblematik und der Selbstverortung des Individuums im modernen multikulturellen Raum“ (S. 421) dar – freilich auf unterschiedliche Art und Weise: So affirmierten v. a. die „Grenzlandromane“ nationale Essentialismen, während etwa bei Ungar eine Infragestellung dieser Essentialismen zu beobachten sei. Trotzdem bildeten beide mit „ihrer Thematisierung der Identitätsproblematiken im modernen kulturellen Raum zwei Seiten einer Medaille“; beide gäben sich als „Teile einer zusammenhängenden Literaturlandschaft“ (S. 416) zu erkennen. Dem ästhetisch-inhaltlichen Befund wird somit eine literaturgeschichtliche Reichweite verliehen, die weit über einen Vergleich der genannten Romane hinausreicht. Wie groß die Reichweite allerdings genau sein soll, bleibt offen: Wird in der Einleitung eine innovative Form der „Literaturgeschichtsschreibung über einen heterogenen Raum in einer Zeit der Umbrüche“ (S. 32) als Ziel formuliert, so ist im Schlusswort nur noch von der Antizipation einer solchen Literaturgeschichtsschreibung die Rede (S. 418). Auch wenn die literaturgeschichtliche Reichweite nicht genau definiert ist, als Erkenntnisziel genannt ist explizit die Herausarbeitung eines „Spezifikum[s]“ (S. 9) oder eines „Identitätsmuster[s]“ (S. 13) der deutschsprachigen Literatur Böhmens und Mährens. Somit muss die Verfasserin notwendigerweise auch auf Kongruenzen (innerhalb der „Literaturlandschaft“) sowie Differenzen (nach außen hin, gegenüber anderen „Literaturlandschaften“) eingehen, denn nur so lassen sich ja positive wie negative Definitionskriterien umreißen, anhand derer eine deutsch-böhmisch-mährische Literaturlandschaft in ihrer „Besonderheit“ (S. 13) charakterisiert werden kann.

 

Die angestrebte Betrachtung der Prager sowie der „sudetendeutschen“ Literatur im Kontext eines territorialen literaturgeschichtlichen Zugriffs erscheint prinzipiell sinnvoll, doch die Art und Weise, wie Lahl die Zugehörigkeit der Texte zu jenem Raum (und so die Kongruenz der zu einer Literaturlandschaft gehörenden Texte) begründet, ist weniger überzeugend. Von zentraler Bedeutung für ihre Argumentation ist nämlich neben der Feststellung thematischer Parallelen der Verweis auf die Sozialisation der Autoren in der „multikulturellen Gesellschaft“ Böhmens und Mährens (S. 78f.). Dieser dient letztlich als Begründung dafür, dass Texte von Ungar oder Bodenreuth/Jaksch als zwei Seiten einer regionalliterarischen „Medaille“ betrachtet werden und Texte ohne expliziten räumlichen Bezug (wie der Roman Kornfelds) oder der im Exil entstandene Roman Rühle-Gerstels ebenso als der Literatur Böhmens und Mährens zugehörig bezeichnet werden könnten. Wird mit dem angestrebten „Mittelweg zwischen der reinen autobiographischen Deutung […] und der poststrukturalistischen Idee der transzendentalen Aussagekraft von literarischen Texten“ (S. 29) nicht also doch ein außerliterarisches Kriterium „der Literatur selbst“ (s. o.) übergeordnet, um einen inhaltlich-ästhetischen Befund territorial rückzubinden? Dies scheint letztlich der Fall zu sein, denn allein anhand des abstrakten inhaltlichen Aspekts der Individualitätsproblematik und unabhängig vom Auftreten böhmischer oder mährischer Realien ließe sich nur sehr schwer die postulierte räumliche Spezifik der Texte erklären.

 

Problematisch wirkt hier auch die Abgrenzung gegenüber anderen Literaturlandschaften (Definitionskriterium der Differenz), denn vergleichbare Thematisierungen der Identitätsproblematik könnten ja auch in Werken nichtböhmischer bzw. ‑mährischer Autoren (z. B. bei dem Elsässer René Schickele) beobachtet werden. Daher erscheint mir der Abgrenzungsversuch von der Literatur der Weimarer Republik (S. 13f.) problematisch. Lahl vertritt hier mit Verweis auf Helmut Lethens Verhaltenslehren der Kälte die These, in der Literatur der Weimarer Republik herrschten neue Identifikationsangebote (absolutes Außenseitertum oder neue Kollektive – S. 13ff., 170f.) vor, während die Protagonisten in den von ihr untersuchten böhmischen/mährischen Texten für die Unmöglichkeit neuer Identifikationen stünden. Mit dem Rekurs auf Lethens Ausführungen wird freilich nur ein Teil der Literatur der Weimarer Republik berührt und dieser wiederum allein ästhetisch-programmatisch definiert; dies geschieht wiederum mit dem Ziel, die räumlich bedingte Spezifik der deutschen Literatur Böhmens und Mährens nachzuweisen. Die Vergleichskategorien sind hier wenig überzeugend gewählt. Sicherlich hätte ein Vergleich mit einer anderen Regionalliteratur der Zeit zu aussagekräftigeren Ergebnissen geführt; zudem hätten eine weniger lückenreiche Berücksichtigung sowie eingehendere Diskussion der Forschungsliteratur zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Regionalliteratur zu einer differenzierteren Sicht auf die Möglichkeiten einer territorialen Rückbindung und entsprechenden Abgrenzung literarischer Phänomene sowie zu einer definitorischen Schärfung des Begriffs „Literaturlandschaft“ beigetragen.

 

Doch nicht nur die Art und Weise, wie der Zusammenhang zwischen Text und Kontext hergestellt sowie Kongruenz und Differenz begründet werden, erscheint kritikwürdig, auch die Darstellung der Kontexte selbst wirft in vielerlei Hinsicht Fragen auf. Diese erfolgt im dritten Kapitel und ist dem Anspruch nach eine „detaillierte[] Aufarbeitung der Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Region“ (S. 29). Diesen Anspruch erfüllt die Autorin allerdings nicht, ja sie kann ihn nicht erfüllen, böte eine solche Aufarbeitung doch allein schon Stoff für (mehr als) eine Monographie. Auch wenn der Titel bereits auf das Phänomen der Transkulturalität verweist, wird die entsprechende tschechische Sozial- und Mentalitätsgeschichte erstaunlicherweise bewusst vernachlässigt (S. 91); es bleibt auch eine Reflexion des Begriffs Transkulturalität (alternativ ist auch von Inter- oder Multikulturalität die Rede, z. B. S. 28, 409, 418) aus – im Literaturverzeichnis ist keine Arbeit Wolfgang Welschs aufgeführt. Mögliche Konsequenz dessen sind zum Teil fragwürdige, pauschalisierende Charakterisierungen der ethnischen/nationalen Verhältnisse in Böhmen und Mähren („multikulturelle[] Gesellschaft“, S. 10; die „Transkulturalität“ Prags, S. 251), bei denen die erheblichen regionalen Unterschiede, die Vielzahl an (regionalen, ethnischen, nationalkulturellen) Identitätsentwürfen (Pavel/Paul Eisners Ghetto-These wird zwar kritisiert, als relativ bekannte zeitgenössische Identitätskonstruktion kommt sie hingegen nicht in den Blick) oder interethnischen Beziehungen und Literaturtransfers (z. B. F. C. Weiskopfs Beteiligung am „Devětsil“) nicht berücksichtigt werden. Der für diesen „transkulturellen Raum“ so zentrale tschechische Referenzrahmen kommt somit nur in groben Umrissen in den Blick, und insofern läuft die Arbeit mit der beschriebenen Art der Fokussierung auf die „deutsche[] Literaturlandschaft Böhmens und Mährens“ (S. 25) Gefahr, jene nationalphilologischen Blickbeschränkungen zu reproduzieren, gegen welche die vom spatial turn inspirierte Literaturgeschichtsschreibung mit angetreten ist. Doch auch in der Beschränkung auf deutschsprachige literarische und publizistische Dokumente bleiben wichtige Aspekte und Protagonisten ausgespart (z. B. wird der „sudetendeutsche“ Erinnerungsort „4. März 1919“ im entsprechenden Abschnitt [3.4] nicht erwähnt), weshalb der Anspruch auf eine „detaillierte[] Aufarbeitung“ (S. 29) viel zu hochgegriffen wirkt. Dies gilt nicht zuletzt auch angesichts der Tatsache, dass einschlägige Arbeiten zum Thema (Ines Koeltzsch) nicht rezipiert wurden (als Referenz dient stattdessen häufig Andrea Hohmeyers „Böhmischen Volkes Weisen“, 2002) und Fehler (die Erste Republik endete nicht im März 1939, sondern mit dem Münchner Abkommen, vgl. S. 132) sowie Ungenauigkeiten (nach 1918 waren die Deutschen in Böhmen und Mähren nicht „tschechische“ [S. 11, 50], sondern tschechoslowakische Staatsangehörige) festzustellen sind.

 

Es überzeugt also weder die Art der Text-Kontext-Korrelation noch die Darstellung der Kontexte selbst. Was als positiver Lektüreeindruck bleibt? Immerhin der Versuch, wenig bekannte Autoren und Texte für die germanistische Forschung zu erschließen, eine in der Moderne-Forschung eingeforderte Zusammenschau ästhetisch und weltanschaulich divergenter Texte zu leisten, sowie gut nachvollziehbare und „nah am Text“ entwickelte Interpretationen.


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