Es schreibt: Ingeborg Fiala-Fürst

(Echos, 25. 5. 2015)

In der Gestalt eines mehr als 300-seitigen Buches mit dem bereits wohlbekannten Layout des Arco Verlags liegen uns unter dem Titel Prag – Provinz (erschienen im Herbst 2014) zwölf Beiträge zu verschiedenen Themen der deutschböhmischen Literatur vor, die während der gleichnamigen Konferenz in Reichenberg 2011 vorgetragen wurden. Es ist freilich ein Jammer, dass der Weg vom Vortrag zu dessen Buchpublikation ganze drei Jahre gedauert hat, so dass eine aktuelle und lebendige Diskussion der hier präsentierten Thesen kaum möglich ist: Inzwischen gab es etliche weitere Konferenzen und Diskussionsforen, welche die hier vorgestellten Gedanken weiter geführt haben.

 

Denn diesmal eilt es (was sonst in den eher ruhigen Geisteswissenschaften selten passiert): Es scheint auf dem Gebiet der deutschböhmischen Literatur in den letzten etwa zehn Jahren etwas in Bewegung gekommen zu sein, das ohne Verzögerung diskutiert werden will. Die Bewegung lässt sich als Verlegung, Aufweichung oder gar Beseitigung der Grenzen zwischen „der“ Prager deutschen und der umliegenden „provinz-deutschen“ Literatur der böhmischen Länder beschreiben, zugleich als Bereicherung der Forschungsmethoden um kulturgeschichtliche, literatursoziologische, rezeptionsästhetische, medienspezifische Fragestellungen (die es freilich vorher vereinzelt auch schon gab) und als maßgebliche Erweiterung des Korpus‘ der behandelten Texte.

 

Alle Autoren (Peter Becher als Autor des einführenden Essays mit eingerechnet) hielten sich lobenswert streng an die vorgegebene Aufgabenstellung, die Beziehung zwischen dem Prager Zentrum und der böhmisch-mährischen Peripherie darzustellen. Diese Darstellung gestaltet sich einmal als Polemik (so im einführenden Beitrag Jörg Krappmanns und Manfred Weinbergs) gegen Paul Reimann und Eduard Goldstücker, die als Verfasser der einführenden Studien des Bandes Weltfreunde (1965) für die damalige, heute behindernde, Grenzziehung zwischen „der einen“ Prager deutschen Literatur und der sonstigen deutsch geschriebenen Literatur des böhmischen, mährischen und schlesischen Raumes verantwortlich gemacht werden. Die Abrechnung mit Goldstückers Begriff der einen Prager deutschen Literatur, die „zu theoretisch inkonsistenten Bedingungen hergeleitet“ und „den tatsächlichen Verhältnissen nicht gerecht“ wird (S. 36), sowie die Einstufung der Ergebnisse der zweiten Liblicer Konferenz, nach der sich „als die eigentliche ‚Leistung‘ der 1965 unter dem Titel Weltfreunde ausgerichteten Konferenz in Liblice tatsächlich die Verkoppelung des Begriffs ‚Prager deutsche Literatur‘ mit dem bestimmten Artikel veranschlagen [lässt]“ (S. 28), ist – so ganz ohne Rücksichten auf die Entstehungszeit dieser Formulierungen – ziemlich hart und ungerecht, doch trotz allem legitim, denn was interessiert die Nachkommen, unter welchen Umständen ihre geistigen Väter ihre Theorie-Gebäude (auf welche es schließlich allein ankommt) gebaut haben? Die Erträge der weiteren Aufsätze zeigen aber deutlich, dass Goldstücker vielleicht der einflussreichste Befürworter, mitnichten aber der Erfinder dieser Dichotomie war, die spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts in verschiedenen Ausformungen und mit verschiedenen Akzentuierungen in den Texten der deutschböhmischen Literatur selbst formuliert wurde.

 

Die Darstellung gestaltet sich in weiteren Beiträgen ruhiger als die Suche nach anderen, globaleren und moderneren Theorie-Konzepten, welche die schroffe Zweiteilung auffangen und aufweichen würden (Krappmann/Weinberg, Bescansa, Maidl), und sie gestaltet sich in den meisten Aufsätzen als konzentrierte und kritische Durchsicht „unüblicher“ Texte, solcher nämlich, die von der Literaturwissenschaft höchstens als „Rhizome“ und kulturgeschichtliche Umgebung, als „Prä- und Epiphänomene der Literatur“ (Karlheinz Rossbacher: Heimatkunstbewegung und Heimatroman, 1975, S. 66) wahrgenommen werden, die für eine angestrebte Neubestimmung der deutschböhmischen Literatur aber enorm wichtig sind: Verlagsverzeichnisse und statistische sowie programmatische Veröffentlichungen der Buchhändlervereinigungen, deren Durchsicht überraschenderweise zeigte, „wie fast nebensächlich die deutschsprachige Prager Verlagslandschaft war“ (Hall, S. 56). Die Pressebeiträge, über welche Barbara Köpplová seit Jahrzehnten forscht – für diesen Band unternahm sie eine „vorläufige Sondierung der literarisch-kulturellen Kommunikation auf den Seiten deutschsprachiger Periodika“ (S. 71) am Beispiel des Teplitz-Schönauer Anzeigers und des Prager Abendblattes und bestätigte das Prag-Provinz-Gefälle –, allerdings aus ungewohnten Perspektiven (Leserspektrum, Absatz- und Vertriebsmöglichkeiten, richtungweisender politischer Diskurs und dergleichen mehr). Ein Presseorgan, nämlich Sauers Deutsche Arbeit, analysiert auch Steffen Höhne und verfolgt deren „Ziel, eine deutschböhmische Identität“ (S. 123) – erst (unter Sauers Leitung) mit Prag als geistigem Zentrum, später ohne Prag – zu kreieren, wobei der Autor zu einer spannenden, erneut sehr ungewohnten Bestimmung der Rolle Prags (für die umliegende Provinz) kommt: „Prag bildet […] die potenzielle Leerstelle eines fehlenden Zentrums.“ (S. 128) Die Ziele der Deutschen Arbeit vergleicht Höhne mit Mühlbergers Zeitschrift Witiko, dessen „Anspruch einer Vermittlung in utraquistischer Tradition […] alles andere als selbstverständlich, geschweige denn mehrheitsfähig war“ (S. 135) und deswegen – wie bereits häufig festgestellt – „zwischen allen Stühlen“ (S. 115) landete. Einen enormen Wissensschub leistet auch die Durchsicht der deutschen Schul- und Lesebücher der Ersten Republik – samt der präzisen Darstellung der kulturpolitischen Kontexte ihrer Entstehung – seitens Mirek Němec‘.

 

Auch dort, wo sich die Autoren „üblichen“, also belletristischen Texten zuwenden – so Gerhard Trapp den essayistischen Beiträgen Johannes Urzidils, Karsten Rinas der Gattung der Grenzlandromane (überraschend anhand der Analyse eines eminent „pragerischen Romans“, der Familie Lowositz Auguste Hauschners), Kurt Krolop dem Sudetendeutschen Narrenspiegel Fritz Hernecks (wieder eine typische Krolopsche detektivische Neuentdeckung), Kristina Lahl Romanen mit zentraler Lehrer-Figur, Carme Bescansa zwei Romanen mit dem Thema des Heimatverlusts (Pleyer: Der Puchner, Rühle-Gerstel: Der Umbruch), Klaus Heydemann den Gedichten Hugo Salus‘ –, auch dort sind sie bemüht, „die scharfe Trennung der Zwei-Literaturen-Hypothese“ (S. 163) kritisch zu befragen, um sie schließlich als problematisch, wenig hilfreich und ergo nicht haltbar abzutun.

 

Die Beiträge des Bandes Prag – Provinz sind sicher kein bloßer Streit um die Nomenklatur, sondern tatsächlich wertvolle Ansätze einer „Neubestimmung“ der deutschböhmischen Literatur (die Prager deutsche inbegriffen) als Forschungsgegenstand. Höchst lesbare Beispiele eines vorurteilsfreien, Grenzen missachtenden, methodisch vielfältigen, zeitlich und epochenmäßig breit gefassten (wobei die Diskussion um die Beziehung Prag – Provinz natürlich das Einbeziehen älterer literarischer Epochen, etwa der Romantik und des Vormärz bereichern würde – Sammelbände, die sich dieser Epoche widmeten und widmen werden, sind als Ko-Referate dieses Bandes anzusehen) Erforschens einer Menge von bisher manchmal vernachlässigten Quellen aller Schriftgattungen, das die – bis heute – ideologisch fehlgeleitete Forschungslandschaft entschlacken und entzerren könnte. 


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