Es schreibt: Julia Hadwiger

(13. 4. 2015)

Fortsetzung des Echos vom 2. 2. 2015

 

Es ist absolut legitim, dass sich Steffi Böttger beim Schreiben ihrer Biographie über Hans Natonek einschränken musste, denn „eine literaturwissenschaftliche Analyse der Romane konnte so wenig Gegenstand dieses Buches sein wie eine kulturgeschichtliche Auswertung von Natoneks kaum zu überschauendem publizistischen Werk“ (S. 231). Doch stellt sich die Frage, inwieweit es dann nicht besser gewesen wäre, von Beurteilungen seiner Romane ganz abzusehen, laut ihrer – meines Erachtens ungerechtfertigten – Einschätzung seien die beiden ersten Romane, Der Mann der nie genug hat (1929) und Geld regiert die Welt oder Die Abenteuer des Gewissens (1930), als „unvollkommene Versuche eines Anfängers“ (S. 56) zu betrachten. Sie kommt zu folgendem kontroversen Schluss: „Die wirkliche Tragik, der große Lebensirrtum Hans Natoneks bestand wohl darin zu glauben, er sei ein Romancier. [...] Die kleine Form, die Kurzgeschichte, die Glosse, die Schnurre, die Anekdote – all dies waren Formate, in denen es ihm gelang, Atmosphäre einzufangen und Charaktere zu schaffen [...]. Auch als Beobachter von Alltagssituationen brillierte Natonek [...], aber wenn er sie zu einem größeren Erzählzusammenhang zusammenzufügen suchte, scheiterte er mit grausamer Regelmäßigkeit“ (S. 180f.). Für Böttger war Natonek ein „Vollblut-Journalist“ (S. 82) und „unter den 2500 Zeitungstexten, die er zwischen 1913–1941 geschrieben hat, gibt es kaum einen, der nicht einen eigenen, besonderen Reiz hat“ (S. 81).

 

Darin mag der Grund liegen, dass in der 2013 publizierten Werkauswahl, die den Titel Letzter Tag in Europanach einem der bekanntesten Essays Natoneks aus dem Jahr 1941 – trägt, weniger dem Literaten als dem Journalisten Natonek Stimme verliehen wird: Im Anhang befinden sich Anmerkungen Zu dieser Ausgabe, in denen Böttger die erschwerten Publikationsbedingungen der emigrierten deutschsprachigen Autoren beschreibt und ihre Editionskriterien darlegt. Sie berücksichtigte vor allem „politische [sic] aktuelle Texte“ (S. 307) in dieser Ausgabe, bei den literarischen herrschte im Gegensatz dazu eine „strenge Auswahl“, die sie folgendermaßen – in wissenschaftlicher Hinsicht ziemlich fragwürdig – begründet: „Viele dieser kleinen Geschichten folgen dem literarischen Geschmack und Humor der dreißiger Jahre, der uns heute etwas abgestanden und schal erscheint. Deshalb wurden nur die aus Sicht der Herausgeberin wertvollsten Texte ausgewählt“ (S. 308). Diese sind chronologisch nach Entstehungs- bzw. Publikationsdaten gereiht und unterteilt in die Lebensstationen Prag, Paris und New York / Tucson, Arizona. Es handelt sich dabei einerseits um Typoskripte aus dem Nachlass im Bundesarchiv Berlin, andererseits um zahlreiche Nachdrucke aus diversen Tageszeitungen und Periodika (wie z. B. Prager Tagblatt, Pariser Tageszeitung, Das neue Tage-Buch, Die neue Weltbühne und Aufbau sowie „unbekannte Zeitungsausschnitte“ aus dem Nachlass-Bestand, bei denen anscheinend die Publikationsdaten nicht zu ermitteln waren).

 

Vielfach kommt in den Texten Natoneks böhmische Heimat bzw. Prag zur Sprache, wie z. B. in den Essays, die während seines Aufenthaltes 19331938 dort entstanden sind, u. a. Ein Mensch fällt um – Typologie der Straße, Nobles Volk, Die Wirtshausrauferei, Prager Straßen, Böhmisches Tagebuch und Schicksal der Wanderung. Natonek setzt sich darin außer mit der politischen Lage und den Eigenheiten der Stadt auch mit der Auswanderungsproblematik auseinander: „Viel hat die Republik verloren, aber im Kern ist sie intakt geblieben. Die Deutschen, die zu ihrer unteilbaren böhmischen Heimat standen, haben dagegen alles verloren; das letzte, was ein Mensch verlieren kann: die Heimat. Sie können jetzt das Lied singen, das erschütterndste, das je aus dem Herzen eines vielgeprüften Volkes kam: Kde domov můj? Wo ist meine Heimat?“ (S. 105). Der erneute Abschied von Prag fiel ihm schwer, in späteren Texten, die er in Paris verfasste, spielt das Heimatland ebenso immer wieder eine Rolle, wie z. B. in Episoden der Kapitulation, Monolog des letzten Blattes, Gespenstische Rencontres oder Gespenster von Prag, einem Essay, in dem sich Natonek u. a. zum Ende der Prager Literatur und insbesondere zu Gustav Meyrinks Golem äußerte.

 

Auch in den aufgenommenen literarischen Texten begegnet man Prag vielfach, so z. B. in den eindringlichen Schilderungen Ein Bild-DokumentDas Kind in der Schwebe und Drinnen und Draußen. Im letzten Teil überwiegt thematisch die Auseinandersetzung mit der Flucht, dem Abschied von Europa, dem schwierigen Beginn eines neuen Lebens in Amerika und der Sprachproblematik, es wurden darüber hinaus vereinzelt Gedichte Natoneks abgedruckt. Ein paar der Texte decken sich mit der Auswahl, die Wolfgang U. Schütte in einem Sammelband zu Beginn der achtziger Jahre herausgegeben hat (Hans Natonek: Die Straße des Verrats. Publizistik, Briefe und ein Roman. Berlin, Der Morgen 1982), allerdings sind nun bei Böttger einige mit veränderten Titeln angeführt, so z. B. bei der Erzählung Der Apparat. Ein Akt der tschechischen Tragödie, die hier Vondratschek hilft dem Henker betitelt ist. Dagegen ist an sich nichts einzuwenden, da die Herausgeberin sich an den Erstdrucken orientiert hat (bei Schütte wurden diese nicht ausgewiesen), jedoch hätte ein Kommentar diesbezüglich sicherlich nicht geschadet.

 

Dies gilt ebenfalls für Natoneks zu Lebzeiten unveröffentlichten Roman Die Straße des Verrats, der erstmals von Schütte herausgegeben wurde und dem die Auswahl den Titel verdankte: Bei dem gleichlautenden Vorabdruck, den Böttger aufgenommen hat, verweist sie in den Anmerkungen zwar auf Schüttes Ausgabe, jedoch bei einem anderen Auszug (Wege zu den Schatten. Prager Heimkehr 1934), in dem übrigens wiederum auf „Kde domov můj“ (S. 145) Bezug genommen wird und der Protagonist sich dem „Geschlecht der entlaufenen Prager“ (S. 143) zuordnet, stellt sie keine Verbindung zum Roman her, obwohl sich darin diese Passage – vom Inhalt her naheliegend – mühelos aufspüren lässt (S. 293296). Stattdessen nennt sie als Quelle ein Typoskript aus dem Nachlass im Bundesarchiv Berlin (S. 368), und in der Biographie stuft sie diesen Text ebenfalls als „bislang ungedruckt“ (S. 80) ein. Bedauerlich sind darüber hinaus die teils sehr dürftigen bibliographischen Angaben zu den Erstdrucken, mehrfach sind diese ohne Jahrgangs- und Nummernangabe angeführt und keine einzige Seitenangabe wird genannt, was ein Aufspüren der Originalbeiträge selbstverständlich erschwert. 

 

Davon abgesehen ist das Buch aber wärmstens zu empfehlen und es ist großartig, dass dank dieser Neuherausgabe ein bisher überwiegend unbekannter Teil von Natoneks umfangreichem Werk nun zugänglich ist. Es findet sich darin viel Lesenswertes und Berührendes, wie z. B. die späte Skizze Heimkehr (1962), in der sich Natonek an seine Überfahrt im Januar 1941 nach New York erinnert und die folgendermaßen endet: „Überall in der Welt ist Fremde, Diaspora; überall in der Welt kann Heimat sein, und mancher findet sie niemals und nirgends“ (S. 283). Bleibt zu hoffen, das Natoneks Werk nun endlich die verdiente Aufmerksamkeit findet und kein erneutes Schweigen einsetzt. 


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