Es schrieb: Arne Novák als Student aus Berlin

(2. 3. 2015)

Arne Novák (2. 3. 1880 – 26. 11. 1939), Sohn der Prosaschriftstellerin Teréza Nováková, absolvierte seine Studien an der Prager tschechischsprachigen philosophischen Fakultät vor allem als Germanist. Das Hauptrigorosum legte er im Herbst 1902 in „germanischer Philologie“ und „Geschichte moderner Literaturen“ ab. Seit Beginn seines öffentlichen Wirkens als Literaturkritiker und Literaturhistoriker reflektierte er zudem intensiv die tschechischsprachige Literatur. 1910 habilitierte er – zur Enttäuschung seines Germanistikprofessors Arnošt Kraus – in tschechischer Literaturgeschichte, und auch seine Vorlesungszyklen an der Universität waren bohemistischen Themen gewidmet. Die Doppelbeheimatung seines Interesses, die Fähigkeit, sich auf beiden Gebieten zu bewegen, und damit auch die Fähigkeit, zu vergleichen und zu vermitteln, blieb nichtsdestotrotz auch in den folgenden Jahrzehnten eine der Grundlagen seiner philologischen Arbeit. Einerseits beteiligte sich Novák als Deuter und Kritiker tschechischer Literatur an der Erstellung mehrerer Kompendien für deutschsprachige Leser (angefangen mit der Abhandlung Die čechische Litteratur der Gegenwart für den Leipziger Verlag Amelang [1907, 2. Aufl. 1913] – über aktuelle Erscheinungen der tschechischen Literatur hatte Novák bereits zuvor in der Halbmonatsschrift „Das literarische Echo“ geschrieben). Andererseits trat er – auch in den Zwischenkriegsjahren – systematisch als Interpret älterer wie neu erschienener Texte deutschsprachiger Autoren, einschließlich seiner böhmischen und mährischen Landsleute, auf. Erwähnen ließen sich hier die Essays Pražský román? ([Ein Prager Roman?], Venkov, 12. 4. 1917, über Meyrinks Golem), Duch německé literatury v Čechách ([Der Geist der deutschen Literatur in Böhmen], Česká revue, 1918) sowie etliche weitere Arbeiten – siehe dazu auch die Bibliografie Soupis vědecké a kritické činnosti Arne Nováka ([Überblick über die Tätigkeit Arne Nováks als Wissenschaftler und Kritiker], Praha, Pražský linguistický kroužek 1940, mit Namensregister) und die seit 2010 bestehende, nach und nach ergänzte Digitale Arne-Novák-Bibliothek.

 

Im Herbst 1900 begab sich Novák, seinerzeit Prager Student, nach Berlin, immatrikulierte sich an der dortigen Universität und wurde für mehrere Monate, bis zum Sommer 1901, Bewohner der preußischen Metropole. Im Januar 1901 veröffentlichte er in der Zeitschrift „Obzor literární a umělecký“ [Literarischer und künstlerischer Horizont] den Artikel Vzkříšení či obrození [Auferstehung oder Wiedergeburt], einen historiografischen Überblick, in dem er einzelne Epochen im Hinblick auf die Ähnlichkeiten von deutscher und tschechischer Geschichte, von geistigen und anderweitigen Bewegungen und Tendenzen charakterisiert (so schreibt Novák z. B. in Verbindung mit dem Zustand des religiösen Lebens vor dem Dreißigjährigen Krieg von einer „mitteleuropäischen Ohnmacht“). Am 14. Januar 1901 sandte er einen Brief an die Schriftstellerin Růžena Svobodová, in welchem er unter anderem die Schwächen der tschechischen Kultur beleuchtet, und zwar in Kontrast zu den Kontinuitäten, die er in der reichsdeutschen Umgebung wahrnahm. – Nováks Berliner Brief publizieren wir hier nach dem handschriftlichen Original aus dem Literaturarchiv des Museums für nationales Schrifttum (Památník národního písemnictví, Fonds Růžena Svobodová). Genaueres zu seinem Berliner Aufenthalt ist dem Buch Berlínské epizody. Příspěvek k dějinám filologie v Čechách a na Moravě 1878–1914 [Berliner Episoden. Ein Beitrag zur Geschichte der Philologie in Böhmen und Mähren 1878–1914] zu entnehmen, das gerade vom Institut pro studium literatury herausgegeben wurde.

 

mt

 

 

Gnädige Frau,

 

erlauben Sie mir freundlichst, dass ich an einem Abend, an dem Berlin unwirtlich ist und das Licht der Lampe kalt, von Ihrer Aufforderung Gebrauch mache und Ihnen ein paar Sätze über mich und meine Umgebung schreibe? Ich habe mir aus Prag etwas warmen Glanz und etwas Sehnsucht mitgebracht, die schlecht in das strenge und vernünftige Berlin passen, und war ein wenig einsam. Denn was bleibt uns heute, wenn wir die in der Tradition ankernden Wurzeln verlieren, anderes als Einsamkeit und ihre Kälte? Prag, das ist wirklich die Kodifikation einer Vergangenheit, aus der es sich künstlerisch leben lässt; und wir haben kein anderes Leben, keine andere Kultur als uns die Vergangenheit gab. Manchmal ist mir ganz weh zumute nach Schönheit und ich muss sie auf alten Madonnen aus dem 15. Jahrhundert suchen, die, voll von Zärtlichkeit und Anmut, unsere Sehnsucht nach Erfüllung der ewigen Träume von einem modernen Schönen vergrößern. Wir sind wie Siedlungen, erbaut an der Peripherie einer großen Stadt, die nicht zum weltlichen Leben der Großstadt gehören, doch auch ohne Wälder und Wiesen sind; die Haine und den Duft der Vergangenheit haben wir verloren und künftige Schönheit liegt weit vor uns. Die Sehnsucht ist heute alles, mehr haben wir nicht; Sie, gnädige Frau, verstehen mich, sind Sie doch selbst eine Dichterin der Sehnsucht.

 

Aber die Sehnsucht trinkt alle Kraft, verleitet zur Passivität und zum Träumen und öffnet ein himmlisches Königreich, die Erde bleibt ihr verschlossen. Ist unser Königreich von dieser Welt, so müssen wir uns mit Realität und Wirklichkeit von der Sehnsucht kurieren. Wenngleich auch nur halb; meine einzigen Freunde, die Bücher, sind ja kein aufrichtiges Leben, sondern nur dessen Abglanz, es sind törichte Jungfrauen. Das Leben ist nicht in ihnen, es ist hinter ihnen; in ihnen fließt kein Blut und schlägt kein Herz, es sind nur Echos, Reflexe. Doch das genügt, ich habe jetzt nicht mehr als sie; ein bisschen bedrucktes Papier und den Tanz der Punkte, Striche und Fragezeichen, und dennoch gehe ich wieder und wieder zu ihnen, liebkose sie, schlafe in ihnen ein und wache in ihnen auf. Erinnern Sie sich noch, gnädige Frau, an die Szene aus Maupassants Bel Ami, als sich der Held mit dem alten Dichter auf dem Heimweg von einer Gesellschaft befindet? Es ist still. Paris ist verstummt, nur die Sterne leuchten kalt und von fern. Und der alte Dichter spricht, an das große Theater des Kosmos gewendet, plötzlich die folgenden Worte:

 

„Ich bin ein verlorenes Wesen. Ich habe nicht Vater noch Mutter, nicht Bruder noch Schwester, nicht Frau noch Kinder … und auch nicht Gott.

Ich habe nichts als die Verse.“

 

Und kommt auch für mich einst ein solcher Moment der Vereinsamung und Trauer, gehe auch ich einst durch eine Nacht, die zur Aufrichtigkeit mahnt, dann werde ich vielleicht klagen: „Ich habe nichts als die Bücher.“

 

Und doch sind es nicht die Bücher, die eine Illusion von Leben erwecken, viele von ihnen sind trocken und traurig, Werke ergrauter Philologen mit runzliger Haut, Konjekturen und Varianten, dürftige, fade Überreste fast unverständlich ferner Kulturen, schwache, unkünstlerische Fragmente. Und dennoch liebe ich sie. Ich suche hinter ihnen stets ihre Autoren und in diesen wieder die menschlichste, am wenigsten stilisierte Saite. Und so entsteht mir bisweilen ein starker, ergreifender Eindruck. In Göttingen, bei einer Vorlesung Jakob Grimms über das wenig fesselnde Thema der deutschen Rechtsaltertümer, bemerkten die Hörer einmal, dass die Vorlesung stockte und weder juristisch noch philologisch von Wert war. Und plötzlich begann Jakob Grimms Hand zu zittern und er sagte mit Tränen in den Augen: „Verzeihen Sie, meine Herren, mein Bruder ist so krank.“ – Das allein genügt, und man liest in dem sonst trockenen und langweiligen Buch über die Altertümer anders, mit einem anderen Eindruck. Und diesen Eindruck suche ich überall. In Berlin hat ein germanischer Philologe dazu beste Gelegenheit, sind doch Wachstum und Entwicklung der deutschen Philologie nur ein Teil der Entwicklung des deutschen Reiches und Geistes. Erlauben Sie, gnädige Frau, dass ich eine schöne Passage aus W. Scherer zitiere, in der jener erste moderne unter den Germanisten den Sinn seiner Wissenschaft erkannte: „Ich trinke lieber aus einer Tasse, aus der schon mein Vater getrunken hat, als aus einer, die ich mir selbst gekauft habe. Eine Wohnung mit alten, etwas gemischten, vielleicht auch ein wenig abgenützten Möbeln, denen ich das allmälige Zusammenkommen ansehe, ist mir lieber als ein nagelneues pompejanisches Zimmer mit stilgerechtester Imitation, von der berühmtesten Firma geliefert. Dieser conservative Zug, angewendet auf geistige Dinge, auf poetische Besitzthümer unseres Volkes, erzeugte die deutsche Alterthumswissenschaft.“ Und genau dies fehlt uns in Böhmen: Uns fehlt eine Wissenschaft, welche die tschechische Kultur als solche erfasst und reproduziert, welche einheitlich und im Ganzen ein Bild unseres geistigen Lebens vermittelt, welche die große Persönlichkeit der Nation hinter allem sieht, als mächtiges Movens. Wir kennen und studieren unsere nationale Kultur nicht und bald werden wir aus ihr heraus und mährische Trachten nur noch im ungarischen Nationalmuseum in Budapest und böhmisches Geschirr im Wiener „Kunstgewerbe-Museum“ zu sehen sein. Wir plädieren für ein historisches Staatsrecht, doch anderswo durchtrennen wir die Kontinuität und sind nicht mehr die, die wir im 15. und 16. Jahrhundert waren. Wir entnationalisieren uns selbst und Wien hebt nicht nur Sprachverordnungen auf, sondern unser ganzes Wesen. Kürzlich war ich in Berlin ganz über die Maßen beeindruckt von der Kraft der historischen Kontinuität, die dem deutschen Volk innewohnt. Unten im Neuen Museum steht eine bemalte hölzerne ‚Mater Misericordiae‘, deren blaugefütterter, goldgesäumter Mantel die Sünder und in diesem Tränental Irrenden umfängt. Und nicht nur diese sind die gleichen volkstümlichen Typen, die ich von den Straßen Berlins kenne, auch die Madonna selbst ist ebenjene wehmütig-weiche Blondine, die in Sesenheim zu Goethe sprach, die aus Klärchen und Gretchen zu uns spricht, die täglich durch deutsche Städte geht und in Charlottenburg am Mausoleum haltmacht, um am Grab ihrer Patronin, der Königin Luise, zu beten, die einst Blumen pflückend durch den Garten streifte und an Hölderlin dachte, als Friedrich Wilhelm III. kam und sie auf den preußischen Thron setzte. Nein, ich will nicht jene Berliner Frau besingen, die, einmal Mutter geworden, das Philistertum befestigt, die nicht Gefühl noch Geschmack hat für Unalltägliches, die die „Gartenlaube“ abonniert und Eschstruth liest. Nur eines wollte ich sagen: wie das deutsche Volk seine typischen Merkmale konserviert. Aus dem Land, aus dem im 16. Jahrhundert ein harter und rücksichtsloser Luther hervorging, geht im 19. Jahrhundert ein grausamer und zerstörerischer Nietzsche hervor – und bei uns? Die Táborer Gegend hatte einst einen Mann der Tat und Energie und hat heute Träumer der Ohnmacht und religiösen Weltflucht: Sova und Bílek. Man verbindet Bílek mit Chelčický und dies vielleicht zu Recht: Aber das Bindeglied zwischen ihnen, die Religion, ist bei beiden an konträren Polen angesiedelt, bei diesem ist es ein Glaube des Trotzes und der Aktivität, der männlichen Energie und des Stolzes, bei jenem eine Religion der Ermüdeten, die nur dies eine Bedürfnis haben: einen stillen Winkel zu finden, zur Meditation und Resignation. Und so gehen wir in eine Zukunft, die bedrohlich ist und groß. Ob wir wohl, wie vor fünfzehn Jahren Neruda, behaupten können: „Für gute Schwerter reicht der Erde Eisen/ und Eisen kreist im Blut uns…“?

 

Und siehe, schon bin ich selbst wieder versunken in jenem Träumen und Meditieren, das die Muskeln lähmt und Blut trinkt, wieder der Sohn Hamlets, der seines Vaters Blut nicht rächt. Und die Zeit, da dies geschehen sollte, naht. Ich gehe oft über die Kurfürstenbrücke und betrachte das Denkmal des Großen Kurfürsten, ein künstlerisches Vermächtnis des vergangenen Jahrhunderts. Alle bewundern die schön modellierten Muskeln der in Eisen und Ketten gelegten Sklaven. Diese Sklaven sind unterjochte Slawen: Dazu sind ihre Muskeln gut. Vor dem neuen Parlament wird bald eine riesige Bismarck-Statue errichtet, der Bau soll einige Jahre dauern. Gott weiß, was für Karyatiden man dort wohl anbringen wird; nicht nur von Dürnkrut bis zum Weißen Berg, auch vom Einfall Ottos von Brandenburg bis nach Königgrätz ist es ein dorniger Weg.

 

Verzeihen Sie, gnädiges Fräulein, dass ich Ihnen so viel kostbare Zeit geraubt habe, ich gab mich der Illusion hin, Ihnen gegenüberzusitzen und mit Ihnen zu sprechen, und vergaß, dass ich in der Fremde bin.

 

An Herrn Šalda würde ich gern schreiben, kenne jedoch nicht den Ton, der bei ihm die Freude und Heiterkeit wecken könnte, die er braucht. Ich werde darüber noch nachdenken.

 

Bitte richten Sie Ihrem hochverehrten Herrn Gatten meine ehrerbietigste Empfehlung aus. Ihre Hände küssend

verbleibe ich in tiefer Bewunderung und Hochachtung

Ihr ergebenster

 

14/1 1901                                          Arne Novák. Berlin C Linienstr. 218.

 

Übersetzung Ilka Giertz. Im Text wurde nach folgenden Quellen zitiert: Scherer, Wilhelm: Theorie und Geschichte der deutschen Philologie. In: Ders.: Kleine Schriften zur altdeutschen Philologie. Berlin 1899, S. 3–223, dort S. 49. Die Verse aus dem Gedicht  „Jen dál!“ von Jan Neruda wurden in der Übersetzung Franz Fühmanns zitiert nach: Jähnichen, Manfred: Übertragung von Lyrik-Texten in Anthologien – am Beispiel slawischer Literaturen. In: Larisa Schippel (Hg.): Übersetzungsqualität: Kritik – Kriterien – Bewertungshandeln, Berlin 2006, S. 93–107, dort S. 96. 


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