Es schreibt: Julia Hadwiger

(2. 2. 2015)

„… in der Wüste des Schweigens wächst keine Hoffnung“ – mit diesem Satz endet der Essay Das Schweigen in der Ehe des 1892 in Prag geborenen, 1963 in der Wüste (Tucson, Arizona) verstorbenen Schriftstellers Hans Natonek. Er mag nicht nur für zwischenmenschliche Beziehungen, sondern auch innerhalb der Literaturwissenschaft gelten, weswegen es mehr als erfreulich ist, dass das lang andauernde Schweigen um Natonek, der zu Zeiten der Weimarer Republik als Journalist und Romancier durchaus bekannt und geschätzt war, in den letzten Jahren mehrfach gebrochen wurde. Bereits 2006 hat die freischaffende Publizistin, Theaterautorin und Schauspielerin Steffi Böttger mit der Herausgabe des Bandes Im Geräusch der Zeit. Publizistik von 1914–1933  aufhorchen lassen, 2008 folgte der Briefwechsel mit dem Sohn Wolfgang Natonek (Hans Natonek / Wolfgang Natonek: Briefwechsel 1946–1962. Hg. u. kommentiert v. Steffi Böttger; beide Bände erschienen im Leipziger Verlag Lehmstedt). Im Jahr 2013, in dem sich Natoneks Todestag zum fünfzigsten Mal jährte, legte sie in demselben Verlag sowohl eine weitere Auswahl seines journalistischen Werks (Letzter Tag in Europa. Publizistik von 1933–1963)als auch eine Biographie  vor. Dabei war das letztgenannte Buch eigentlich gar nicht geplant, sondern anfangs lediglich als „knappes Vorwort“ (S. 231) zu dieser zweiten Textedition gedacht, wie man aus der Nachbemerkung erfährt. Doch nach langjährigen Recherchen entschloss sich Böttger aufgrund der Materialienfülle, daraus eine eigene Publikation zu machen, die sie mit dem für den Zeit seines Lebens heimatsuchenden Natonek passenden Titel Für immer fremd versah.

 

Bei dieser Publikation mit dem Untertitel Das Leben des jüdischen Schriftstellers Hans Natonek handelt es sich um die allererste Lebensdarstellung in Buchform zu diesem Autor. Bis dato fanden sich die umfangreichsten biographischen Informationen in Jürgen Serkes Beitrag Hans Natonek – „Wie oft kann man ein neues Leben beginnen?“ (In: Böhmische Dörfer. Wanderungen durch eine verlassene literarische Landschaft. Wien / Hamburg: Zsolnay, 1987, S. 86–129), auf den sich Böttger mehrfach bezieht. Der Klappentext kündigt vielversprechend an: „Für ihre Darstellung konnte Steffi Böttger erstmals die beiden umfangreichen Nachlaß-Teile in Berlin und Albany, NY, auswerten und sie um zahlreiche Briefe und Dokumente aus Archiven in Deutschland, Österreich, der Schweiz und der Niederlande ergänzen. Als intime Kennerin des publizistischen und literarischen Werkes von Hans Natonek ausgewiesen, bildet ihre umfassende und differenzierte Rekonstruktion von Leben und Werk einen gewichtigen Beitrag zur Geschichte des literarischen Lebens in Deutschland und im Exil.“ Der Beginn der Biographie ist wirklich „intim“ gestaltet, unter der Kapitelüberschrift Begegnungen mit einem Bild widmet sich die Autorin ihren Assoziationen zu einer Aufnahme, die Natonek 1930 in einem Leipziger Foto-Atelier zeigt, und lässt die Leser folgendermaßen daran teilhaben: „Der Porträtierte darf als ‚schöner Mann‘ bezeichnet werden, einer, dem Frauen heimlich nachschauen oder die erröten, wenn er ihnen die Tür aufhält. Denn dieser Mann hält Türen auf, rückt Stühle zurecht, hilft aus dem Mantel und küßt gern Hände.“ (S. 7)

 

Nach diesem ungewöhnlichen Einstieg zeichnet sie den Lebensweg Natoneks chronologisch nach, wobei sich die Kapitelüberschriften, denen größtenteils gut ausgewählte – jedoch leider nicht ausgewiesene – Zitate vorangestellt sind, wie (mit Ausnahme des Natoneks Sohn gewidmeten Abschnitts) eine Kurzbiographie lesen lassen: Kindheit und Schulzeit in Prag 1892–1912, Journalistische Anfänge in Wien, Berlin und Halle 1912–1917, Feuilletonchef und Romancier in Leipzig 1917–1933, Staatenlos in Leipzig und Hamburg 1933–1934, Exilant in Prag 1934–1938, Im Kreise Joseph Roths in Paris 1938–1940, Von Paris über Marseille nach Lissabon 1940–1941, Autor und Leichenwäscher in New York 1941–1944, Umzug nach Tucson, Arizona 1944–1949, Romancier in Tucson, Arizona 1944–1963 undLetzte Lebensjahre in Tucson, Arizona 1958–1963. Als besonders wertvoll erweist sich bei diesen Ausführungen, die mit über dreißig Abbildungen bereichert wurden, dass Böttger einerseits zahlreiche – teilweise bislang unveröffentlichte – Aussagen von Zeitgenossen sowohl aus Briefen und Rezensionen als auch Memoiren integriert. Andererseits lässt sie anhand von Zitaten aus der bis heute nicht publizierten, in deutscher Sprache verfassten Erstfassung (Hans Natonek: To Whom It May Concern. Memories and Diaries, 1942, Typoskript im Natonek-Nachlass der University of Albany) seiner Autobiographie (Hans Natonek: In Search of Myself. Translated by Barthold Fles. Ed. by Sugden Tilley. New York: G. P. Putnam’s Sons, 1943) ein durchwegs lebendiges Mosaik vor Augen der Leser entstehen. 

 

Die langjährigen Recherchen haben sich gelohnt und es gelingt der Autorin, aufschlussreiche Einblicke, wie z. B. in Natoneks Schwanken zwischen der deutschen und englischen Sprache im Exil (ab S. 171ff.), zu geben. An manchen Stellen geht sie jedoch meines Erachtens etwas zu spekulativ bzw. subjektiv vor, so urteilt sie z. B. über den Gemütszustand des Schriftstellers während seines Prager Exils: „Depressionen quälten ihn, die Beziehung zu Erika [Erika Wassermann war seine zweite Ehefrau, Anm. JH] drohte zu zerbrechen, und auch eine weitere, geheime Liebesaffäre half nicht“ (S. 91). Oder hinsichtlich der Beziehung zu seiner Tochter Susanne: „Aber Frauen nahm er offensichtlich als Gesprächspartner nie ganz ernst“ (S. 168).

 

Leider ist nicht immer genau nachvollziehbar, auf welche Quellen sich Böttger stützt, die Archivalien werden im Literaturverzeichnis (S. 201–205) nicht gesondert, sondern nur in den Anmerkungen (aber meist ohne Bestands- und immer ohne Signaturnennung, was auch für die Bildnachweise auf S. 243 zutrifft) angeführt. Laut Anmerkungen Nr. 5 und Nr. 6 (S. 207) dürfte sie einen Großteil der biographischen Angaben zu Natoneks Familie von einer noch lebenden Verwandten namens Erika Wantoch erhalten haben, wobei z. B. in Bezug auf den familiären Hintergrund in der Biographie Lücken bleiben: „Von Natoneks Eltern ist wenig bekannt, nicht einmal ihre Geburts- und Sterbedaten lassen sich ermitteln.“ (S. 12) Diese Fehlstelle hätte sich durch Recherchen in tschechischen Archiven leicht schließen lassen, wie z. B. durch die Konskriptionslisten der Prager Polizeidirektion, die im Nationalarchiv in Prag (Národní archiv v Praze) aufbewahrt werden und mittlerweile digitalisiert und online zugänglich sind, in denen zumindest sowohl das Geburtsjahr des Vaters (1845) als auch der Mutter (1857) ersichtlich ist (Národní archiv, Policejní ředitelství I, konskripce, karton 413, obraz 286). Interessanterweise sind dort statt der bei Böttger genannten vier Geschwister (vgl. S. 11) fünf vorhanden, hier wäre etwas mehr Forschungstiefe hilfreich gewesen.

 

Auch sonst begegnet man kleinen Ungenauigkeiten, wie z. B. dass Böttger die Sammelschrift Das jüdische Prag, die 1917 von der Redaktion der jüdischen Wochenschrift Selbstwehr herausgegeben wurde, Max Brod „in dessen Selbstverlag“ zuschreibt (S. 15 u. 81), aber in den Anmerkungen (S. 217) sehr wohl Verlag Selbstwehr verzeichnet. Verwunderlich mutet die Nachlässigkeit hinsichtlich des korrekten Todesdatums (23. 10. 1963) an, das sie natürlich kennt (S. 192), jedoch war dieses bereits sowohl im Nachwort als auch im Klappentext der ersten Werkauswahl Im Geräusch der Zeit falsch – mit 24. 10. 1963 (S. 374) – angegeben, nun wird in der Chronik, diesich im Anhang der Biographie befindet, der 28. 10. 1963 (S. 200) genannt, was amüsanterweise im vergangenen Jahr in Rezensionen dazu führte, dass an dem falschen Tag Natoneks gedacht wurde: „Vor fünfzig Jahren, am 28. Oktober 1963, ist er gestorben, ein Fremder noch immer.“ (Klaus Bellin: Der Fremde. Blatt für Hans Natonek. In: neues deutschland, 28. 10. 2013, S. 16).

 

Doch diese kleinen Mängel schmälern die verdienstvolle Pionierleistung Böttgers nicht, denn ihr gesetztes und in der Nachbemerkung erläutertes Ziel – „die Rekonstruktion der Biographie“ – hat sie unbestritten erreicht.

 

Dieses Echo wird eine Fortsetzung haben, die sich mit dem zweiten 2013 erschienenen Natonek-Band des Lehmstedt-Verlags, der von Steffi Böttger herausgegeben Publizistik, auseinandersetzt.


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