Es schreibt: Václav Petrbok

(Echos, 19. 1. 2015)

 

In das Jahr 2014 fielen zwei (halb)runde Jubiläen von Geburt und Tod des Prosaschriftstellers, Publizisten und Dichters Joseph Roth (1894–1939) wie auch der hundertste Jahrestag seit Beginn jenes Großen Kriegs, mit dessen Ursachen und Folgen sich Roth im überwiegenden Teil seines erzählerischen Vermächtnisses beschäftigte. War Roth in den zwanziger Jahren vor allem als Publizist bekannt, der sich als Prosaautor erst allmählich einen Namen machte, so verlief die Rezeption seines Werks nach dem Zweiten Weltkrieg genau umgekehrt, und wenngleich ein Großteil von Roths Publizistik bereits Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre in drei chronologisch geordneten Bändenim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witscherschienen ist (Das journalistische Werk I: 1915–23, II: 1924–28, III: 1929–39, Hrsg.: Klaus Westermann), so gelangen seine journalistischen Arbeiten – einschließlich weiterer, nachträglich entdeckter Texte und meist in Originalversion – erst in den letzten Jahren wieder an die Öffentlichkeit. Zu verdanken ist dies insbesondere dem Engagement des Göttinger Verlags Wallstein, der bis dato eine Auswahl von Roths Publizistik („Ich zeichne das Gesicht der Zeit“: Essays, Reportagen, Feuilletons, editorisch bearbeitet von Helmuth Nürnberger, 2010) sowie eine Publikation mit Texten Roths zum Thema Film (Drei Sensationen und zwei Katastrophen: Feuilletons zur Welt des Kinos, Hrsg.: Helmut Peschina, 2014) herausgebracht hat. 2012 ist bei Wallstein zudem einen Band mit dem Titel Heimweh nach Prag und dem erläuternden Untertitel Feuilletons – Glossen – Reportagen für das „Prager Tagblatt“ erschienen. Ediert, mit Erläuterungen und einem Nachwort versehen wurde das Buch abermals von Helmuth Nürnberger, unter anderem auch Autor einer mehrfach aufgelegten Roth-Monografie in der populären Biografienreihe des Rowohlt Verlags.

 

„Wenn ich keine Sehnsucht nach Paris hätte, so hätte ich Heimweh nach Prag. […] Hier sind die abstrakten Kosmopoliten, in denen die Welt als Wille lebendig ist und die den Willen zur Welt nicht brauchen. Sie haben alle Schmerzen gelitten, alle Freuden genossen, und, weil sie nichts mehr überraschen kann, suchen sie keine Überraschungen. Sie sind Skeptiker, aber sie lieben ihr Leben, das Leben in Prag“, schrieb Joseph Roth in einem am 25. Dezember 1924 im Prager Tagblatt erschienenen Feuilleton, das dem gesamten Band seinen Namen gab. Das wiedererwachte Interesse von Literaturwissenschaft und Kulturgeschichtsschreibung an Roths Feuilletons, Glossen, Entrefilets, Essays, Kritiken und Reportagen ist im deutschsprachigen Raum seit den 1970er Jahren beobachtbar und kann mit dem damaligen Anwachsen einer historisch geschulten, auf publizistische Genres ausgerichteten Aufmerksamkeit der Medienwissenschaften wie auch mit den Debatten um eine Neudefinition des Literaturbegriffs und die soziokulturellen Entstehungs- und Wirkungsbedingungen von Literatur in Verbindung gebracht werden. An diese Forschungen wurde auch bei der editorischen Vorbereitung der im Band Heimweh nach Prag enthaltenen Texte angeknüpft, die bibliografisch bislang oftmals nicht erfasst bzw. aufgrund der historischen Umstände nur schwer zugänglich waren.

 

Wie Nürnberger selbst konstatiert, waren die deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften in den böhmischen Ländern der Zwischenkriegszeit (und ich ergänze: in beträchtlichem Maße schon ab Beginn des 20. Jahrhunderts) nicht selten auch Publikationsplattform für in Deutschland oder im (deutschsprachigen) Österreich tätige Autoren. Abgesehen von der – bereits recht gut aufgearbeiteten – spezifischen Stellung der Exilzeitschriften, sind hier neben der in Brünn erscheinenden Zeitung (Brünner) Tagesbote die Prager Blätter Deutsche Zeitung Bohemia, Prager Presse und vor allem das Prager Tagblatt zu nennen, das auch außerhalb der böhmischen Länder gelesen und geschätzt wurde. In Bezug auf die „großen“ Autoren ist der heutige bibliografische Kenntnisstand zu diesen Periodika schon ganz passabel. So sind in den sechsbändigen Kleinen Schriften Alfred Polgars (veröffentlicht in den achtziger Jahren) laut deren Herausgeber Marcel Reich-Ranicki bereits alle „böhmischen“ Beiträge Polgars enthalten. Von Robert Walser erschienen – in einer von Jochen Greven edierten kritischen Werkausgabe – schon in den siebziger Jahren nahezu dreihundert in der Prager Presse und dem Prager Tagblatt veröffentlichte Texte; in der neuen kritischen Ausgabe, die in Basel erscheint, sollen ihnen zwei separate Bände gewidmet sein. W. Fantas Klagenfurter Ausgabe der gesammelten Werke Robert Musils berücksichtigt bereits dessen – von der vorhergehenden Version noch außer Acht gelassene – systematische publizistische Tätigkeit (u. a.) für die Tageszeitung Prager Presse. In einer Anthologie mit publizistischen Arbeiten Anton Kuhs (Der unsterbliche Österreicher) hingegen ist nur eine Auswahl aus einer reichhaltigen Zahl von mindestens ab 1914 (wahrscheinlich bis 1938) datierten Beiträgen vertreten. Was die „einheimischen“, aus den böhmischen Ländern stammenden Autoren betrifft, so wartet z. B. die umfangreiche Publizistik Max Brods noch immer auf ihre Erschließung für die Öffentlichkeit (mit Ausnahme einiger thematischer Anthologien und einer unlängst in den zehnbändigen Ausgewählten Werken erschienenen Autorenanthologie). Die in der Prager Presse veröffentlichte Publizistik Paul/Pavel Eisners ist noch nicht einmal bibliografisch erfasst…

 

Die Bedeutung des Prager Tagblatts im damaligen mitteleuropäischen und insbesondere deutschsprachigen literarischen Kontext wie auch für Roth selbst wird durch den Umstand unterstrichen, dass Roth für keine Zeitung so viele Texte schrieb wie für ebendieses Periodikum. Dennoch existiert über das Blatt bislang nur eine einzige monografische Arbeit, die jedoch thematisch eher auf die deutsch-tschechische Kulturvermittlung, Max Brod als Theater- und Musikkritiker und das medial entworfene Bild des ersten tschechoslowakischen Präsidenten in dieser Zeitung ausgerichtet ist (Pavel Doležal, Tomáš G. Masaryk, Max Brod und das Prager Tagblatt (19181938): deutsch-tschechische Annäherung als publizistische Aufgabe, 2004; eine Reihe von Angaben – insbesondere über tschechische Autoren und Institutionen – ist jedoch nicht verlässlich und einige interpretatorische Passagen, z. B. über die ideelle Ausrichtung des Blattes, können als strittig gelten).

 

Das Prager Tagblatt war für Roth vor allem Plattform eines sozialkritischen, die wirtschaftliche und politische Situation der Weimarer Republik reflektierenden Schreibens, wobei einige ausgesprochen linksgerichtete Artikel (z. B. über Präsident F. Ebert oder die nationalsozialistische Bewegung) offenbar gerade in diesem Blatt problemlos erscheinen konnten. Prag – wie auch Böhmen überhaupt – war als Thema in Roths Publizistik sonst nur sporadisch vertreten, und seine im Prager Tagblatt gedruckten Feuilletons sind mehrheitlich nicht in Prag entstanden. Nichtsdestotrotz zeugen sie von der aufmerksamen (sensiblen wie kritischen) Sympathie Roths gegenüber den neuen gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen und von einem recht ironischen Abstand gegenüber der wiederholten Beschwörung des Prager (kulturellen) Genius loci.

 

Der Band enthält zudem zahlreiche ursprünglich andernorts veröffentlichte, im Prager Tagblatt lediglich nachgedruckte Artikel (so z. B. Reise durch Galizien oder Reportagen von einer Reise in die Sowjetunion). Nürnberger zufolge „umfasst [er] sämtliche nach gegenwärtigem Kenntnisstand im Prager Tagblatt erschienenen Texte Joseph Roths“ (S. 483), angefangen mit einem aus dem Jahr 1917 stammenden extatisch-antimilitaristischen Gedicht des damals unbekannten Germanistikstudenten, das im Zeichen einer allmenschlichen Brüderlichkeit Jesus Christus beschwört, bis hin zu einem zwölf Jahre später veröffentlichten Nachdruck des (ursprünglich 1929 in der Frankfurter Zeitung erschienenen) leicht nostalgischen Nomadentextes Ankunft im Hotel. Enthalten sind auch die im Prager Tagblatt publizierten Annotationen zu Roths Romanen und einige dort abgedruckte Auszüge aus diesen sowie weitere Prag betreffende, jedoch andernorts erschienene Artikel (u. a. Die Abenteuer in Prag und insbesondere der unlängst in der Regionalpresse wiederentdeckte Text Prag. Spaziergang in einer verzauberten Stadt). Diese für Publizistikbände etwas ungewohnte (thematische Auswahlkriterien mit einem Publikationsorgan kombinierende) Art der Zusammenstellung erschwert im Resultat ein wenig die Orientierung in Roths – von diesem selbst sehr geschätzten – journalistischen Werk.

 

Im Nachwort des Bandes analysiert Nürnberger – größtenteils unter Berufung auf die oben genannte Arbeit Doležals – den personellen, Redaktion und Autoren betreffenden, Kontext des Prager Tagblatts sowie Roths Prager Kontakte (allerdings, wie für die Germanistik aus dem deutschen Sprachraum bezeichnend, nur die deutschsprachigen Kontakte; öfter erwähnt wird der Freund und Mentor des Autors Karl Tschuppik). Dies alles erfolgt im Rahmen einer etwas traditionell aufgefassten Geschichte der böhmischen Länder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das tschechischsprachige Umfeld findet gleichsam nur nebenher Erwähnung, und zwar unter Verweis auf eine (so scheint es) einzige verdienstvolle Studie aus der Feder Leoš Houskas (Joseph Roth und – warum gerade? – Böhmen, in: Kessler, M. (Hrsg.): Joseph Roth: Interpretation, Kritik, Rezeption, Tübingen 1990, S. 137–141; in der Zeitschrift Cizí jazyky [Fremdsprachen] 57, 2013/2014, Nr. 3, S. 11–15, hat Houska im letzten Jahr erneut einen Artikel zu Roth veröffentlicht). Die Rezeption von Roths Wirken in Böhmen wie auch seine tschechischen Kontakte sind jedoch nur scheinbar ein marginales Thema. Aus Nürnbergers Nachwort erfahren wir darüber leider nichts Neues, ebensowenig wie aus der vor einigen Jahren erschienenen Roth-Anthologie Sehnsucht nach Paris, Heimweh nach Prag. Ein Leben in Selbstzeugnissen (Hrsg.: Helmut Peschina, deutsch 2006, tschechisch 2012).

 

Übersetzung Ilka Giertz


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