Es schreibt: Lucie Merhautová

(Echos, 5. 1. 2015)

Im Wallstein Verlag ist 2013 in zwei Bänden (1001 S.) die langerwartete kritische Ausgabe desBriefwechsels zwischen Hugo von Hofmannsthal und Hermann Bahr aus den Jahren 1891–1934 erschienen. Wie die Herausgeberin Elsbeth Dangel-Pelloquin zu Recht anmerkt, handelt es sich um eine der bedeutsamsten Gesamtkorrespondenzen sowohl im brieflichen Nachlass beider Schreiber, als auch in Hinblick auf die Wiener Moderne. Die kommentierte Ausgabe der 671 Dokumente wird um 87 veröffentlichte und vormals unveröffentlichte Texte ergänzt – Rezensionen und Essays, Tagebuchaufzeichnungen und Verweise in weiteren Briefwechseln, die Bahr Hofmannsthal widmete und umgekehrt. Die Veröffentlichung umfasst Bildbeilagen und wird von einem Nachwort beschlossen, einer Danksagung den Mitarbeitern, einer Editionsnotiz sowie Verzeichnissen und Registern.

 

Auch diese Korrespondenz ist natürlich das fragmentarische wie stilisierte Relikt einer komplexen Beziehung. Die Fülle und Farbigkeit der Facetten, welche die Briefe umreißen, sind jedoch außerordentlich, das gemeinsame Gespräch ist offen und umfassend, zudem wird es, ab dem Jahre 1897, bereichert um die intelligente, zärtliche Stimme Gerty von Hofmannsthals (geb. Schlesinger). Gerade die Dreistimmigkeit der Jahre 1897–1904 bildet den Kern der Edition und bietet den überaus lebendigen, emotionsreichen und zugleich taktvollen Blick in das persönliche und intellektuelle Leben aller Beteiligten (dem gegenüber sind einige Briefe von Bahrs Ehefrau Anna Mildenburg-Bahr streng sachlich, die erste Gattin Rosa Jokl taucht nur als unbeliebte Adressatin kleiner Botschaften auf; eingereiht werden auch die gemeinsamen Briefe der Hofmannsthal-Tochter Christiane und seines Vaters an Bahr).

 

In der mystifizierenden Umfrage, die Karl Kraus in der „Fackel“ vom Februar 1901 (Nr. 68) abdruckte, gab Hofmannsthal auf die ironische Frage „Wodurch hat Sie Herr Bahr gefördert, nachdem ja anerkanntermaßen das Entdecken und Fördern junger Talente die selbstgewählte Lebensaufgabe dieses großen Mannes ist?“ zur Antwort: „Soviel ich weiß, ist Herr Bahr durch mich gefördert worden.“ Kraus verhöhnte Bahrs Förderungsdrang, seine überzogene Interpretation junger Wiener Autoren und die Instrumentalisierung Hofmannsthals zur Selbstmythisierung als Gründungsvater und Führer der Wiener Moderne. In ihrem Briefwechsel wandte sich Hofmannsthal oft an den älteren und praktischer veranlagten Bahr (wie auch die anderen befreundeten Wiener Autoren) mit einer Bitte um Vermittlung zwischen ihm und Regisseuren, Theaterdirektoren, Redakteuren oder Herausgebern. Für seine tatkräftige Hilfe und für Artikel hat sich Hofmannsthal wiederholt bedankt, so versicherte er Bahr beispielsweise am 13. Juli 1902: „mein lieber Hermann, ich verdanke Ihnen im Lauf der Jahre so viel und so verschiedenartiges, dass mir selbst kaum möglich wäre, es aus dem Ganzen unserer Beziehung abzutrennen und gesondert vor mir zu sehen“ (S. 208).

 

Leitmotiv der Briefe ist die Sehnsucht nach gemeinsamen Gesprächen, die insbesondere das eigene Schaffen betrafen; die Tschechen waren in der bestbeleuchteten Zeit bis 1904 kein gemeinsames Thema. Sie werden es jedoch zu Kriegsbeginn, als sich die beiden Schriftsteller einander erneut annäherten. Die Bedeutung der Tschechen für Bahrs und Hofmannsthals konservativ-revolutionäre Konstrukte eines neuen Österreichs wurde bereits mehrfach beschrieben, am detailliertesten nähern sich ihr zwei Veröffentlichungen an: die Korrespondenz zwischen Bahr und Jaroslav Kvapil (hrsg. von Kurt Ifkovits in Zusammenarbeit mit Hana Blahová, 2007) sowie Hofmannsthal und die Tschechen, in den Jahren 1968/1969 von Martin Stern in vier Teilen in den „Hofmannsthal-Blättern“ veröffentlicht. Natürlich sprachen weder Hofmannsthal noch Bahr Tschechisch, und ihre Kenntnis der tschechischen Kultur, der tschechischen Geschichte sowie der tschechischen Kunst war diametral verschieden. Bahr begann sich aus seinem unbändigen Wissensdurst und geleitet von dem Interesse, sein Programm eines Jungen Österreichs kundzutun, schon in der ersten Hälfte der 1890er Jahre mit den Tschechen auseinanderzusetzen, die Bedeutung der böhmischen Länder und der Tschechen für die weitere Existenz der Monarchie wurde ihm insbesondere durch die Beziehung zu Kvapil deutlich gemacht, und dies bereits in den Vorkriegsjahren (seine Bibliothek umfasste Dutzende Bohemika).

 

Hofmannsthal hingegen bezog sich in den 1890er Jahren zur symbolistischen europäischen Moderne, jene „ganz grosse Generation“, über die er in seinem bedeutenden Essay über Gabriele D’Annunzio von 1893 schrieb, umfasste von Wien und Deutschland aus nach Westen und Süden hin tätige Autoren; auch in späterer Zeit orientierte er sich vornehmlich an den romanischen Literaturen (nach Kriegsende stritt er sich mit Bahr, dem damaligen Dramaturgen des Burgtheaters, beispielsweise um die Aufführung eines Zyklus mit Stücken Calderóns).

 

Die patriotischen Projekte, die aus der Bemühung entstanden, vereinheitlichende Orte des kulturellen Gedächtnisses zu finden, mit ihrer Hilfe das Konzept eines österreichischen Geistes zu mobilisieren und dem Kriegsgefecht so einen Sinn zu verleihen, lenkten Hofmannsthals Augenmerk im Verlauf des Krieges zwangsläufig auch auf die böhmischen Länder. Schon im Oktober präsentierte er Bahr sein Vorhaben einer Publikation in Erzählung und Bild mit dem Namen Ehrenstätten Österreichs, welche „freudig bewegende Erinnerungen bringen“ sollte (S. 323, 28. Oktober 1914), was aber bedeutete, der „Erinnerung an die Prager Vorgänge nach der Schlacht am weißen Berge“ aus dem Weg zu gehen. Wie ihm jedoch Kvapil, Arne Novák oder das Ehepaar Fischer deutlich machten, war es zum gegebenen Zeitpunkt unmöglich, in den böhmischen Ländern Erinnerungen an die österreichische Historie zu finden, die nicht „Erinnerungen zwiespältiger Natur“ (S. 326) gewesen wären. Ein Jahr später fragte Hofmannsthal in Zusammenhang mit einem weiteren Vorhaben zu einer Österreichischen Bibliothek Bahr völlig unkundig: „Ich frage mich, wenn sie etwas haben, was große Litteratur ist, seien es Gedichte, Novellen, was immer, analog zu Puschkin, zu Gogol, zu Gontscharov – warum man es nicht kennt?“ (S. 336). Dabei bemühte sich parallel zu seinen literarischen Anfängen eine Reihe von Persönlichkeiten – Tschechen, Deutsche und Juden, in Wien und oftmals in Zeitschriften, in denen gerade auch Hofmannsthal veröffentlichte – auf vielerlei Art, durch Übersetzungen und Artikel auf die moderne tschechische Literatur und das tschechische Theater hinzuweisen (von ihnen sollen hier Eduard Albert, Adolph Donath, Otto Hauser, Heinrich Herbatschek, Camill Hoffmann, Emil Saudek, Bronislav Wellek oder eben Hermann Bahr genannt werden). Hofmannsthal wusste von Bahrs Kontakten, da er ihn im Zusammenhang mit seinen Editionsplänen der Österreichischen Bibliothek um Rat fragte und ein wenig naiv nachhakte: „wie kann ich die Čechen differenzieren (in städtische u. ländliche? Machar u Brezina?) damit den zahlreichen Deutschen nicht zu wenige Slaven gegenüberstehen!“ (S. 337).

 

Machar war zur Jahrhundertwende einer der ins Deutsche meistübersetzten tschechischen Autoren, eine von zwei Übersetzungen der Magdalena wurde im Jahre 1904 auch von Peter Altenberg positiv besprochen. Es bleibt fraglich, ob Hofmannsthal von einigen Übersetzungen oder Studien überhaupt Kenntnis nahm, oder ob er nur über Bahr von Machar wusste als von einem tschechischen, in Wien ansässigen Dichter. Überdies hatte es wenig Sinn, einen Freund Masaryks, der unterm Krieg inhaftiert war, in eine konservativ patriotische pro-österreichische Edition einzureihen. Březina kannte er aus eigener Lektüre, der Übersetzer des Gedichtbands Ruce (Hände), Emil Saudek, schrieb am 3. Mai 1909 an Březina: „Hofmannsthal hat ‚Ruce‘ sehr liebgewonnen und bereits zum zweiten Mal versprochen, gewiss darüber zu schreiben.“ Saudek zitierte wiederholt in tschechischer Übersetzung Hofmannsthals Brief, der seine Eindrücke über der Lektüre von Březinas Gedichten ausdrückte, von denen er sich „eine Emanation aus der Gemütstiefe des tschechischen Wesens“ versprach, „eine Vergeistigung dessen, was in der so zu Herzen gehenden Landschaft, in der Bildung und dem Ausdruck von Gesichtern so oft entgegengetreten ist und mich nachdenklich gestimmmt hat“ (zitiert nach der von E. Saudek erworbenen Abschrift des Briefes, Fonds O. Březina, Literaturarchiv der Gedenkstätte für nationales Schrifttum). Stefan Zweig spitzte in seinem bekannten Essay ein ähnliches Motiv zu, indem er die tschechische Poesie mit einer Leiche und die tschechische Sprache mit einem Gefängnis verglich:„In fremden Lettern, wie ein Leichnam, liegen die Verse vor uns, keine Vermutung kann ihnen Leben einhauchen. Tot ist uns ein Werk eines, der in unserer Zeit, in unserer Nähe – drei Stunden weit – lebt. Tragisches Gefängnis der Sprache!“ (Stefan Zweig, Otokar Březina, Österreichische Rundschau, Bd. 19, 1909, H. 6, S. 444)

 

In der Österreichischen Bibliothek erschien im Jahre 1917 eine Auswahl der Werke J. Vrchlickýs, A. Sovas und O. Březinas in der Übersetzung Paul/Pavel Eisners unter dem Titel Tschechische Anthologie. In derselben Zeit ließ Hofmannsthal Březina den dritten Band seiner Prosaischen Schriften zukommen mit der Widmung „dem grossen Dichter des nächstverbundenen Volkes in Bewunderung und Liebe“. Zweig, Bahr und Hofmannsthal waren sich einig, dass Březina als einer der „Unseren“, sprich als österreichischer Autor, zu verstehen war, als der große Synthetiker slavischer und westlicher Traditionen. Dieses Beispiel weist hin auf mehrere Aspekte des Übersetzens und Vermittelns um die Jahrhundertwende und die Zeit des Ersten Weltkriegs: Oftmals waren diese motiviert durch ideologische, hauptsächlich nationale Kämpfe (s. auch das Echo über Ines Koeltzschs Publikation) und ihre Reichweite fiel geringer oder anders aus, als die Vermittler und Autoren erwartet hatten; die Rezeption hing dann nicht nur mit einem ästhetischen Interesse zusammen – denn obgleich sich die Wiener wie auch allgemein die deutschen Autoren analog zu den tschechischen Modernisten zur Idee einer internationalen ästhetischen Moderne bekennen und sie befürworten konnten, musste diese Idee noch längst nicht die Aufmerksamkeit den kleinen Literaturen zuwenden. Hervorgerufen werden konnte sie jedoch durch historische Kataklysmen – Reflexe einer geistigen Krise und der revolutionären Veränderungen, die der Krieg mit sich brachte, die Suche nach politisch-kulturellen Auswegen, die der Übersetzung und Interpretation neue Möglichkeiten geöffnet hätten, welche jedoch oft zu sehr belastet waren von außerliterarischen Umständen und Erwartungen.

 

Übersetzung Martin Mutschler

 


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