Es schrieben deutschböhmische Autoren

(22. 12. 2014)

Im Laufe des 19. Jahrhunderts vertieften sich die Nationalitätenprobleme innerhalb der Habsburgermonarchie. Die damit verbundenen Spannungen zwischen Deutschen und Tschechen wurden bereits an der Schwelle des neuen Jahrhunderts zu einem gravierenden Problem, das andere politische und staatsrechtliche Fragen in den Schatten stellte. Bemühten sich die politischen Vertreter der Tschechen um eine Durchsetzung der Bedürfnisse und Forderungen ihrer sich kulturell, gesellschaftlich und politisch etablierenden Nation, so kämpften die Deutschböhmen um eine Aufrechterhaltung des traditionell privilegierten Status der deutschen Ethnie im Habsburgerreich, und zwar auf dem Wege einer Teilung Böhmens in zwei national und administrativ voneinander getrennte Landesteile oder mittels einer gesetzlichen Verankerung des Deutschen als Staatssprache.

 

Parallel dazu unternommene Bemühungen um eine nationale Aussöhnung oder einen deutsch-tschechischen Ausgleich reichen weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Die zunächst von den cisleithanischen Regierungen und ab der Jahrhundertwende immer stärker von den politischen Vertretungen beider Völker getragenen Ausgleichsverhandlungen erstreckten sich bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Noch an dessen Vorabend, Ende des Jahres 1913, schien ihr definitives Scheitern keineswegs besiegelt: In einer damaligen Umfrage des Wiener Blattes Neue Freie Presse äußerten sich die deutschböhmischen Intellektuellen Fritz Mauthner, Alfred Klaar und Hugo Salus zur Möglichkeit eines nationalen Ausgleichs in Böhmen optimistisch. Sie alle – in geringerem Maße vielleicht der ebenfalls befragte Karl Hans Strobl – erachten eine politische Aussöhnung für wünschenswert, ja sogar unerlässlich für das weitere Zusammenleben in Böhmen und bestätigen damit die These heutiger Historiker, dass „ein nationaler Ausgleich oder Kompromiss sich ab der Jahrhundertwende als einzig mögliches Mittel erwies, um den Teufelskreis aus unerfüllten Sehnsüchten und die damit verbundene gegenseitige Blockade all der – von den einzelnen politischen Vertretungen gehegten – nationalen Forderungen und Bedürfnisse zu durchbrechen“ (Luboš Velek: Projekt česko-německého národnostního vyrovnání v Čechách v letech 1890–1915 a jeho geneze [Das Projekt des deutsch-tschechischen Ausgleichs in Böhmen 1890–1915 und seine Vorgeschichte]. In: Promarněná šance [Die verpasste Chance], Hrsg.: E. Drašarová, R. Horký, J. Šouša und L. Velek, Praha, Národní archiv 2008, S. 17).

 

Die Stellungnahmen der deutschsprachigen Autoren zur aktuellen politischen Situation in Böhmen vor hundertundeinem Jahr zeigen durchweg typische Aspekte des damaligen Ringens zwischen den Nationalitäten auf. So sieht der Publizist, Schriftsteller und Sprachkritiker Fritz Mauthner (1849–1923) in dem Kampf um eine Etablierung des Tschechischen oder Deutschen als Amtssprache, in welchen das nationale Tauziehen immer öfter mündete, sehr präzise auch einen Kampf um „alle hohen und niederen Beamtenstellungen, alle über Geld und Geldeswert entscheidenden Posten“ – also eine soziale Spannung. Der Literatur- und Theaterkritiker, Historiker und Schriftsteller Alfred Klaar (1848–1927) kommt in seinem Beitrag auf die sog. Punktationen, einen misslungenen Versuch der nationalen Aussöhnung von Anfang 1890, zurück. Dabei beweist er eine scharfe politische Beobachtungsgabe: Die Hauptschwierigkeit eines Ausgleichs besteht seiner Ansicht nach nicht in den einzelnen erhobenen Forderungen, sondern in der „Struktur der beiden großen Parteien“, denen bislang ein starkes, unhinterfragbares Mandat fehle. An der Zersplitterung der politischen Vertretungen scheiterten übrigens – wie auch Klaar bemerkt – schon die o. g. Punktationen an der Wende der 1880er/1890er Jahre. Der von der damaligen Regierung Eduard Taaffes unterbreitete Vorschlag für einen nationalen Ausgleich ging von der Doktrin einer nationalen Trennung aus, die in einer Neuorganisation der Bezirke als national homogene Einheiten und in einer Teilung der Landesbehörden für Bildung, Landwirtschaft und Justiz in nationale Sektionen bestehen sollte (vgl. Jan Křen: Die Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780–1918. München, Oldenbourg 2000, S. 184ff.).

 

Die Tatsache, dass die Bestrebungen der Politiker und der Mehrheit des Volkes erheblich differieren können, wird von dem Schriftsteller Karl Hans Strobl (1877–1946) angesprochen. Auch er erkennt die Tschechen bereits als einen vollwertigen, geachteten Partner der Deutschen an, im Verhältnis beider Ethnien konstatiert er jedoch einen Hass, den er metaphorisch mit einer „Blutvergiftung“ vergleicht, und mehr Chancen als einer Partnerschaft räumt er in der Geschichte des „großen Ringen[s] des Slawentums mit dem Deutschtum“ einer Fortführung des Kampfes ein. Dem wachsenden Nationalismus und der Radikalisierung der Gesellschaft setzt der Prager Schriftsteller Hugo Salus (1866–1929), ein Vertreter der ersten kulturellen Vermittlergeneration zwischen den beiden rivalisierenden Nationen, das Ideal einer persönlichen Kultivierung entgegen, einhergehend mit einer „Ausrottung aller Vorurteile, die Menschen voneinander trennen, sie statt zu gleichstrebenden Mitmenschen zu Feinden machen“. Einer solchen Forderung wurde in der geschichtlichen Realität nur ein winziger Bruchteil der Gesellschaft gerecht, welcher die politische Entwicklung nicht abwenden konnte.

 

Die in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1913 entstandenen Stellungnahmen F. Mauthners, A. Klaars, H. Salus‘ und K. H. Strobls zu den Chancen eines Zusammenlebens von Tschechen und Deutschen sollen hier in zweierlei Form zugänglich gemacht werden: In der deutschen Version des „Echos“ publizieren wir die an die Neue Freie Presse gesendeten und dort am 25. 12. 1913 (Nr. 17721, Morgenausgabe, S. 9–10) veröffentlichten Texte in vollständiger Originalfassung, im tschechischen „Echo“ wird eine Zusammenfassung der Umfrage publiziert, die drei Tage später in der tschechischen Zeitung Národní listy [Volksblätter] (Nr. 353, 28. 12. 1913, S. 2) erschien.

 

ej, mt

 

 

Für den Völkerfrieden in Böhmen

Stimmen deutscher Schriftsteller über den Ausgleich

 

Von Fritz Mauthner

 

Meersburg am Bodensee, 22. Dezember

 

Ihre ehrende Aufforderung, mich über den Ausgleich in Böhmen zu äußern, hätte ich vielleicht dankend ablehnen sollen, weil ich kein Politiker bin, durchaus kein Politiker. Meine Lebensarbeit ist aber der Kritik der Sprache gewidmet; und weil jeder Streit zwischen Nationen – bei der Unsicherheit der Kriterien, nach denen die Rasse zu bestimmen wäre – zuletzt eine Sprachenfrage ist, darum mag es auch dem Sprachkritiker gestattet sein, ein Wörtchen zur Sache vorzubringen.

 

Ich habe dargelegt – ich werde die üble Sitte, die eigenen Werke bei jeder Gelegenheit zu zitieren, nicht mitmachen – daß die menschliche Sprache ein ganz elendes Werkzeug der Erkenntnis ist wegen der Unbestimmtheit aller, besonders der abstrakten Begriffe; ich habe dann gezeigt, daß die Sprache eigentlich aus dem gleichen Grunde, weil nämlich jedes Wort von einer Fülle sinnlicher Vorstellungen umschwebt ist, ein ausgezeichnetes Werkzeug der Poesie werden kann. Diese Poesie der Muttersprache spielt eine außerordentlich große Rolle bei der Liebe zum eigenen Volke, bei der Liebe zur Heimat. Es ist ein veralteter, ein barbarischer Glaube, daß diese Liebe zur Muttersprache gepaart sein müsse mit Haß gegen eine fremde Sprache, eine fremde Rasse. Man führt keine Kriege mehr um der Freude an einem Kunstwerke willen; auch um „Mona Lisa“ ist kein Krieg ausgebrochen.

 

Kommt es zu einem bitterbösen politischen Kampfe um die Sprache, so spielen immer ganz andere reale Motive mit. Als vor bald dreihundert Jahren die Maßregeln gegen die czechische Sprache und gegen die czechische Geistesrichtung begannen, handelte es sich den Herrschenden nur um einen Krieg der katholischen Kirche gegen die czechische Ketzerei. Das czechische Volk ist aber wahrlich nicht vernichtet worden. Und wenn seine wildesten Fanatiker heute die Deutschen am liebsten aus Böhmen hinaustreiben möchten, so werden sie bei dieser Tollheit nicht etwa von einem blinden Hasse gegen die deutsche Sprache gelenkt. Sie möchten es bloß erreichen, daß alle hohen und niederen Beamtenstellungen, alle über Geld und Geldeswert entscheidenden Posten ihrer Sippe, ihren Freunden, ihren Sprachgenossen zufielen. Die Sprache ist kein Unterscheidungszeichen von Rassen; die Sprache ist nur ein Erkennungszeichen von Sippen.

 

Da nun das halbe Jahrhundert des Sprachenkampfes in Böhmen immer nur den lachenden Dritten genützt hat, die weder Deutsche noch Czechen waren, da die Unterdrückung des einen Volksstammes durch den andern weder erstrebenswert noch möglich ist, da bei einigem guten Willen die beiden gleichberechtigten Muttersprachen gar nicht in Gefahr sind, so scheint auch mir ein Ausgleich eine einfache und vernünftige Forderung der Zeit.

 

Und eine rein praktische Frage, die freilich von einem einzigen ganzen Manne leichter gelöst werden könnte als von einer Kommission. Was in der freien Schweiz Wirklichkeit ist, das muß auch zwischen den böhmischen Randgebirgen möglich sein: daß man einander um der Sprachwerkzeuge willen nicht mehr den Schädel einschlägt.

 

Nur wenn ich ein Fürst oder ein Pfaffe wäre, könnte ich gegen den Ausgleich sein.

 

 

Von Professor Alfred Klaar

 

Berlin, 22. Dezember

 

Ein Vierteljahrhundert habe ich, in Reihʼund Glied der Deutschen in Böhmen stehend, den nationalen Kampf in meiner böhmischer Heimat mitgelebt; anderthalb Jahrzehnte verfolge ich ihn aus der Ferne mit der innigsten Anteilnahme, bald von Hoffnungen, bald von Befürchtungen erfüllt. Immer schwebt es mir vor, daß ich einen für beide Teile fördersamen und ehrenvollen Friedensschluß noch erleben werde; aber nur einmal in der langen Zeit schien der Friede vor der Tür zu stehen, nahm das Gefühl auf beiden Seiten seine Segnungen und Verheißungen bereits vorweg. Das war an der Wende der achtziger und neunziger Jahre im vorigen Jahrhundert, während der weitgediehenen, ja scheinbar dem Abschluß nahen Vergleichsverhandlungen, die mit den Namen Franz Schmeykal und Ladislaus Rieger verknüpft bleiben.

 

Ein Modus vivendi, das Bild eines dauernd friedlichen Zustandes war damals in allen wesentlichen Zügen festgestellt, und ich weiß mich in Einklang mit den Schatten von Dahingegangenen, die meinem Herzen teuer geblieben sind, wenn ich sage: Man begrüßte damals auf deutscher Seite – nicht ohne Selbstüberwindung, denn es galt, von mancher eingewurzelten Vorstellung Abschied zu nehmen – aber ehrlich, ja mit hochgestimmter Freudigkeit den Ausgleich; man war entschlossen, den Czechen ihre großen Errungenschaften durch Zustimmung zu bekräftigen und zu besiegeln, unter der Bedingung, daß das deutsche Gebiet durch reinliche, aber nicht feindselige Scheidung vor Angriff und Ueberflutung geschützt und den nationalen Minderheiten in den gemischten Bezirken ein gleichmäßiger Schutz gewährt werde. Woran scheiterte damals der Ausgleich? Etwa an dem Prinzip der Abgrenzung, das ihm zugrunde lag? Etwa an der Einsicht, daß seine schon festgelegten Bestimmungen undurchführbar seien? Keineswegs, dieser Zweifel hat nie eine ernsthafte Stütze gehabt. Sind doch einige der damals geplanten Einrichtungen – wie die nationale Teilung des Landesschulrates und des Oberlandesgerichtes – trotz alledem ins Leben getreten und haben nie Anlaß zu Klage oder Beunruhigung gegeben.

 

Der Ausgleich, den man schon mit Händen zu greifen glaubte, ging damals in Trümmer, nicht weil die beiden verhandelnden Parteien uneinig waren, sondern weil eine der beiden Parteien in sich zerfallen war. Der alte Rieger hatte als Führer der Altczechen und des ihnen verbündeten Hochadels die Unvorsichtigkeit begangen, die Jungczechen von den Verhandlungen auszuschließen. Er hatte die Macht dieser Fraktion unterschätzt; sie fiel ihm in den Arm, den er schon den Deutschen entgegenstreckte. Die Kritik, die damals von den Jungczechen am Ausgleich geübt wurde, ist begraben und verschollen; ihre Argumente waren ganz minderwertig. Es handelte sich nur darum, zu zeigen, wer die größere Macht im Volkstum besaß; um dieser Kraftprobe willen wurde der Ausgleich verdächtigt, angegriffen und zerstört. Das hat etwas Typisches und sollte nie vergessen werden.

 

Die Hauptschwierigkeit des Ausgleichs liegt nicht in den Bedingungen, für die doch schon ein Grundriß vorgezeichnet ist, nicht in den Einzelfragen, die, so verwickelt sie sein mögen, doch nach langjährigen Erfahrungen lösbar sind, sondern in der Struktur der beiden großen Parteien. Die möglichst feste Einigung jedes der beiden Teile in sich ist die Hauptbedingung für die Einigung beider untereinander. Haben wir erst auf beiden Seiten Männer, deren Volksmandat (gleichviel ob parlamentarisch oder anderweitig begründet) auf festester Grundlage ruht, die nicht unter dem Druck der Möglichkeit stehen, einem Ueberfall von ihrer eigenen Seite her weichen zu müssen, und die obendrein den ethischen Mut besitzen, ohne furchtsame Seitenblicke zu beschließen, was sie vor ihrem nationalen und menschlichen Gewissen verantworten können, dann werden wir auch den Ausgleich haben. Dann wird er auf Grund der gegenseitigen Achtung vor nationalen Rechten möglich sein und die Wünsche einer großen arbeitsamen Bevölkerung erfüllen, die sich danach sehnt, national ungehemmt in friedlichem, kulturellem Wetteifer ihre besten Kräfte zu entfalten. Daß sich die Parteikörper zur stabilen Einheit herausbilden, daß so ihren berufenen Vertretern der feste Grund bereitet werde, dessen sie bedürfen, um einen ehrlichen Ausgleich zu bewirken, der das Recht beider Nationen im Lande anerkennt und verbürgt, das ist der Wunsch, den ich für meine Heimat im Herzen trage; ich möchte die Weihnachten und die Weihetage noch begrüßen, in denen man den schaffenskräftigen Frieden auf der fruchtbaren Heimatserde walten sieht.

 

 

Von Dr. Hugo Salus

 

Prag, 23. Dezember

 

Verehrte Redaktion der „Neuen Freien Presse“ in Wien!

 

Sie wenden sich an mich, den aus Deutschböhmen stammenden, in Prag lebenden deutschen Schriftsteller, mit einer Anfrage über meine Ansicht betreffs des deutsch-czechischen Ausgleichs. Sie erwarten also gewiß keine „politische“ Antwort, die ich auch zu geben außerstande wäre, da Sie sich sonst besser an die deutschböhmischen Politiker gewendet hätten, sondern den Bescheid eines in Böhmen wirkenden Kulturmenschen, und es ist wohl selbstverständlich und schon in diesem inhaltsreichen Wörtchen „Kultur“ begründet, daß diese Antwort einzig und allein den einen Inhalt haben muß: Wir Menschen von Bildung, Gesittung, Verantwortungsgefühl für unsere Gegenwart und Zukunft, wünschen innigst eine kulturelle Einigung der beiden, dieses schöne Land bewohnenden Völker, wir ersehnen ihren Ausgleich mit allen Fasern unserer Herzen, der den jämmerlichen, von Haß, Neid und Mißgunst eingegebenen gegenseitigen Anfeindungen ein rühmliches Ende bereiten möge!

 

Kultur bedeutet Arbeit an uns, um uns besser, reiner und klarer blickend zu machen, und Arbeit an unseren Mitmenschen, um sie den Hochzielen, die wir der sich entwickelnden Menschheit stecken, zu nähern. Wir erstreben mit erfüllter, glühender Seele die Ausrottung aller Vorurteile, die Menschen voneinander trennen, sie statt zu gleichstrebenden Mitmenschen zu Feinden machen. Der gleiche Glaube, die Blutsverwandtschaft der Angehörigen desselben Volkes, die Zugehörigkeit zu gewissen Bildungsgemeinschaften, jede einzelne dieser Gemeinsamkeiten müßte verbindend, ausgleichend, liebefördernd wirken, und doch sind alle und jede für sich stets von neuem Ursache der Trennung, der Anfeindung und des schmählichsten Mißtrauens!

 

Hier in Böhmen steht den Deutschen, die stolz auf das reiche Erbe ihrer so gesegneten, üppigen deutschen Kultur sein dürfen, die sich weniger mit der kleinlichen Politik des Tages als mit der Neuerwerbung, dem Ausbau und der Vertiefung dieser kulturellen Schätze beschäftigen sollten, das junge, aufwärtsstrebende Volk der Czechen gegenüber, das von klugen Männern und edlen Frauen dahin geleitet werden müßte, ohne Verzicht auf seine eigenen Güter in weiser Benützung der kulturellen Errungenschaften ihres Nachbarn Bildung zu empfangen und weiterzugeben, Menschen unseres Jahrhunderts zu werden!

 

Dies aber ist der Schmerz aller geistig hochstehenden Männer beider Volksstämme: Unsere Jugend beschäftigt sich viel zu viel mit der Politik der Stunde, sie vertieft viel zu einseitig die trennenden Eigenschaften ihrer Rasse, ihres Volkstums, ihres Glaubens oder Nichtglaubens, sie sucht nicht das Verbindende zwischen den Völkern, sondern das Scheidende, jeder achtzehnjährige Jüngling ist schon Antisemit oder Zionist, Arier oder Nichtarier, Deutschnationaler oder Czechischradikaler, spricht großartig über Volkstum und Stammesgemeinschaft, weil diese Art von Politik so viel bequemer ist als die kulturelle Arbeit an der eigenen Vervollkommnung und der Verbesserung der Brüder.

 

Und doch habe ich, der deutsche Schriftsteller, in meiner Freundschaft mit den Künstlern und Dichtern des czechischen Volkes den trostreichen Beweis dafür, daß nicht nur in uns deutschen, bewußten Kulturmenschen der Traum des Völkerfrühlings blüht und gedeiht, daß er Früchte tragen muß, daß es zu einer gemeinsamen Arbeit für alle Hochziele des Menschentums kommen wird.

 

Möge dieser Frühling auf dem Boden eines vorerst „politischen“ Ausgleichs bald zu tagen beginnen!

 

 

Von Dr. Karl Hans Strobl

 

Leipzig, 23. Dezember

 

Das Ergebnis dieser Umfrage soll wohl den Völkern Oesterreichs als Angebinde unter den politischen Weihnachtsbaum gelegt werden, und so möchte man auf dem, was man zu sagen hat, so gern ein wenig zauberhaften Weihnachtsglanz, Flimmergold von den Flügeln des Friedensengels mitbringen. Aber wir arm gewordenen Erwachsenen glauben an kein Christkindel mehr, an das politische am allerwenigsten. Und aus den arg durchforsteten Wäldern unserer Phantasie sind schon viel holde Illusionsbäumchen auf den Markt gewandert, so daß jetzt schon großer Mangel herrscht.

 

Das Bedürfnis nach Frieden, mein Gott, das haben wir. Nach Frieden, außen und innen. Aber der innere Friede muß noch sorgfältiger erwogen und vorsichtiger geschlossen werden; noch weniger als mit einem Staatsfeind darf mit einem Volksfeind um jeden Preis paktiert werden. Man sieht, daß noch jetzt die Meinungen darüber sehr auseinandergehen, ob es wohlgetan war, in der jüngstverwichenen Vergangenheit ein politisches Monstrum abzugeben, das mit den Zähnen eines Säbeltigers die Haut eines Nilpferdes und die Seele eines Lamperls vereinigte. Nun soll man uns auch mit unseren lieben czechischen Nachbarn nicht einen Ausgleich um jeden Preis aufdrängen wollen.

 

Wir brauchen den Ausgleich! Die Kaufleute sagen es: hüben und drüben, und alle Menschen von Kultur müssen ihnen recht geben, schon um endlich einmal die abschreckenden Brutalitäten, diese Roheiten des politischen Guerillakrieges verschwinden zu sehen, diese Ueberfälle auf Schulkinder, diese Vergewaltigungen Schwächerer, diese lächerlichen und dabei so aufreizenden Kämpfe um Poststempel, Stationsnamen und Beamtenposten. Aber wir müssen uns fragen: Ist ein solcher Ausgleich möglich? Wer soll paktieren? Zwei Völker? Oder zwei politische Parteien? Vor allem ist zu sagen, daß die Völker mit ihrer politischen Vertretung keineswegs identisch sind. Wir Deutschen vor allem haben keinen Anlaß, mit den „Parteien“ zufrieden zu sein, die sich in unserem Namen und mit unseren Kräften gebildet haben. Unsere Geschichte im neuen Oesterreich der Verfassungsära ist ein betrübliches Kapitel, vor allem durch den Mangel an Weitblick und Tatkraft bei den Führern der Parteien. Man wird allmählich des Strohfeuers großer Entschlüsse überdrüssig, von denen nichts übrig bleibt als ein bißchen Asche und Gestank. Zuerst donnertʼs immer, dann säuseltʼs. Wie die Speiteufel fangen sie an und wie die Hofräte hören sie auf.

 

Es könnte also sein, daß die Parteien miteinander Frieden machen. Aber es fragt ich, für wen? Folgen die Völker selber ihren Führern noch, haben sie genug Vertrauen zu den Leitern ihrer politischen Geschicke, um sich zu sagen, sie haben zu unserem Besten gehandelt? (Man täusche sich nicht über Wählerversammlungen und Vertrauenskundgebungen.) Und selbst wenn die Völker folgen wollten, können sie es noch? Hat sich der alte Haß nicht schon zu tief in die Völker hineingebissen, um noch getilgt werden zu können? Dieser Haß ist keine Hautkrankheit an der Epidermis des Volkskörpers, den „Parteien“, keine politische Schuppenflechte, die sich durch das Teerpräparat eines Ausgleichs beseitigen läßt, sondern er ist eine Blutvergiftung.

 

Nicht einmal die Völker selber sind dafür verantwortlich zu machen, daß es so gekommen ist. Kein Zweifel, daß einige der besten Männer hüben und drüben immer für Frieden und Versöhnung waren. Auch heute kann nur chauvinistische Blindheit den Czechen ihre großen Eigenschaften absprechen wollen, dieses rasende, verbissene Streben nach Kultur, diese fanatische Hast, es den Deutschen auf allen Gebieten gleich zu tun, diese ans Amerikanische mahnende Kühnheit und Zähigkeit im Wirtschaftlichen, die Banken, Kreditinstitute, Millionenunternehmungen wie Pilze auftreibt, ein wildgewordenes Wachstum, dem sich in Europa nichts vergleichen läßt.

 

Der Witzblattböhm, der „Böhm in Amerika“, haben längst aufgehört, auch nur entfernt den Typ des Volkes anzugeben. Der Czeche hat die Metamorphose des Teufels mitgemacht, alles Hörner- und Klauenmäßige, alles Bäurisch-Plumpe abgeworfen, er ist sehr elegant geworden (ein bißchen zu elegant manchmal, wie es bei Emporkömmlingen vorkommt), er reist viel (ein bißchen zu viel!) und seine Kulturlosigkeit ist ein Märchen.

 

Wir Deutschen wären gewiß die letzten, ein solch ehrliches Streben zur Höhe nicht zu achten und nicht anzuerkennen – wenn es der Czeche irgendwo am Ural oder Amur entfalten würde. Aber das Verhängnis will es, daß er es gerade auf unserer eigenen Scholle ins Werk setzen will, als unser ewig unzufriedener, begehrlicher, drängender Nachbar, dem sein eigenes Stück Welt zu klein wird.

 

Die beiden Völker stehen unter der fürchterlichen, ehernen Notwendigkeit der Geschichte. Unser Kampf mit den Czechen ist kein vereinzeltes Schauspiel, sondern nur ein Akt im großen Ringen des Slawentums mit dem Deutschtum.

 

Diesem Weltgeschehen kann kein Ausgleich Halt gebieten. Hat man nicht das Beispiel Mährens vor Augen, wo trotz des vor Jahren geschlossenen „Friedens“ der Kampf um Schulen und Aemter und Seelen weitergeht, nur noch erbitterter, weil jetzt die Empörung über verletzte Verträge dazukommt! Die „Parteien“ mögen sich zu einem vorübergehenden Waffenstillstand einigen. Wir wollen ihn freudig begrüßen, wenn wir auch nicht glauben können, daß er den Gang der Völkergeschicke beeinflussen wird. Aber vielleicht mildert er für eine Zeitlang wenigstens die abscheulichen Formen dieses Kampfes und dämpft sein wüstes Geschrei – und schon das ist ein Ziel, aller Mühe würdig.

 

Übersetzung der Einleitung Ilka Giertz


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