Es schreibt Zuzana Jürgens

(Echos, 8. 12. 2014)

Das tschechische Gymnasium „Na Zatlance“ in Prag hat im Frühling dieses Jahres eine bemerkenswerte Publikation herausgegeben, die das Ergebnis eines vierjährigen, den deutsch-tschechischen Beziehungen gewidmeten Schulprojekts aus den Jahren 2008–2011 darstellt. In diesem haben fast fünfzig Schüler unter der Leitung ihres Lehrers Radek Aubrecht ein biographisches Lexikon zu Prager deutschsprachigen Persönlichkeiten quer durch alle Fachgebiete zusammengestellt; ein solches interdisziplinär angelegtes Handbuch stand für diesen Bereich bisher nicht zur Verfügung.

 

Biographische Stichwörter werden im Buch, das den Titel Německy mluvící Praha [Deutschsprachiges Prag] (268 S.) trägt, durch kurz gefasste Kapitel ergänzt, die den gesellschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Institutionen sowie den Sportvereinen der Prager deutschen Minderheit gewidmet sind, weiterhin durch ein Verzeichnis der Fachliteratur und eine umfangreiche Danksagung an alle, die die Vorbereitung des Buches sowohl durch Vermittlung von Informationen als auch finanziell unterstützt haben. Obwohl es sich um das Ergebnis der Arbeit von Gymnasialschülern handelt, die eine eventuelle Wissenschaftskarriere erst vor sich haben, orientierten sich die Autoren des Deutschsprachigen Prags durchaus an den Grundsätzen wissenschaftlicher Arbeit. Außer dem oben genannten Fachliteraturverzeichnis ist beispielsweise hinter jedem Stichwort und jedem Kapitel die Sekundärliteratur aufgelistet, auf die sich der Autor oder die Autorin gestützt haben. Häufig geht es nicht nur um Bücher, sondern insbesondere um Zeitschriftenpublikationen aus tschechischsprachigen, aber auch aus deutschen und englischen Quellen, deren „Entdeckung“ ein fortgeschrittenes Recherchevermögen voraussetzt.

 

Wie der Projektinitiator und Leiter des Autorenkollektivs Radek Aubrecht in der Einleitung betont, handelt es sich beim Deutschsprachigen Prag hauptsächlich um ein „Kompilationswerk“ (S. 12), d. h. es war nicht das Primärziel, eine Publikation in der Art eines wissenschaftlichen bio- und bibliographischen Kompendiums vorzulegen. Trotzdem gelang es, bei einigen Persönlichkeiten bisher unbekannte Informationen aufzufinden und zu veröffentlichen, vor allem dank der Zusammenarbeit mit ihren Nachkommen – so zum Beispiel bei den Anhängern des Zionismus Robert und Felix Weltsch, dem Arzt Rudolf Altschul oder dem Architekten Ernst Mühlstein. Der Umfang der jeweiligen Beiträge – insgesamt sind es mehr als 450 – beträgt ungefähr zehn Zeilen (mit der vereinzelten Ausnahme eines längeren Portraits von Franz Kafka). Die Danksagung zum Schluss des Buches gibt Auskunft darüber, wie umfangreich das (internationale) Netz an Kontakten war, das die Autoren zustande gebracht haben.

 

Die Anfangskapitel des Buches machen mit den wichtigsten Prager deutschen Institutionen vertraut, die während des 19. Jahrhunderts gegründet wurden und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs existierten; die Texte bieten einen wesentlichen Einblick in gesellschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Lebensbedingungen der deutschsprachigen Bewohner der Stadt. Dargestellt werden Theater und Theatervereine, die Literaturszene, der einflussreiche Verein „Deutsches Casino“ und wissenschaftliche Institutionen und Hochschulen; ein Kapitel ist als einer „Institution“ per se den Prager Juden gewidmet. Man könnte noch die Vereine der bildenden Kunst ergänzen, zum Beispiel die „Prager Secession“ (1929–1937). Da die Medaillons aus der Feder verschiedener Autoren stammen, ist ihre stilistische und inhaltliche Unausgewogenheit erkennbar – wenn man jedoch bedenkt, dass sie größtenteils von Schülern geschrieben wurden, die noch keine universitäre Ausbildung absolviert haben, muss insgesamt das Niveau der Texte hervorgehoben werden (mit Ausnahme des Kapitels über das heutige Ständetheater, das teilweise fehlerhafte bzw. unvollständige Informationen bietet). Obwohl der Autor schreibt, dass „man von dem heutigen Ständetheater als einem deutschen Theater im Grunde genommen schon seit seiner Gründung reden kann“ [s. 19], ist seine Geschichte, sofern es sich um ein deutsch- oder tschechischsprachiges Publikum, das Repertoire oder um deutsche und tschechische Künstler handelt, komplizierter: seit 1824 spielte das Theater regelmäßig auch auf Tschechisch, unter anderem wirkte hier František Škroup, und es wurde hier Tyls Stück Fidlovačka [Das Schusterfest] uraufgeführt).

 

Das Stichwortverzeichnis ist im Deutschsprachigen Prag alphabetisch geordnet, der chronologisch älteste ist Karl Heinrich Seibt, Ästhetik- und Philosophieprofessor, Jahrgang 1735, der jüngste Joseph John Kohn, ein Mathematikprofessor, der 1932 geboren wurde, sieben Jahre später mit seinen Eltern nach Ecuador und von dort aus in die USA auswanderte. Angesichts dessen, dass die Autoren keine Kriterien angeben, an denen sie sich beim Zusammenstellen des Lexikons orientiert und die ihnen als Grundlage für die Auswahl der einzelnen Persönlichkeiten gedient haben, kann man nur vermuten, wie sie vorgegangen sind. Es ist dabei nicht ganz klar, welchen Zeitpunkt sie als den Anfang gewählt haben (und warum); es ist jedenfalls nicht – als eine der Möglichkeiten – die Einführung des Deutschen als Amtssprache durch Joseph II., nicht einmal die Anfänge der tschechischen nationalen Wiedergeburt am Ende des 18. und am Anfang des 19. Jahrhunderts als eine Zeit, in der die Verwendung der einen oder anderen Sprache im öffentlichen und privaten Kontext eine neue, gesellschaftlich-kulturell-politische Dimension gewann. Die meisten der hier vertretenen Persönlichkeiten wurden geboren und lebten im 19. und teilweise auch im 20. Jahrhundert. Nach einer Welle der Vorkriegsemigrationen und nach den Transporten der jüdischen Bevölkerung in die nationalsozialistischen Konzentrationslager während des Zweiten Weltkriegs ging das Phänomen des „deutschsprachigen Prags“ nach 1945 mit der Vertreibung der meisten Einwohner, die sich zur deutschen Nationalität bekannten, definitiv unter. Wie einige der Portraits – etwa zu Paul Eisner, Hedda Sauer und Lenka Reinerová – zeigen, haben sich jedoch auch nach dem Krieg in der völlig neuen Situation gewisse kleine Inseln eines deutschsprachigen Lebens in Prag erhalten. 

 

Was die Wahl der Persönlichkeiten angeht, entschieden sich die Autoren offensichtlich für eine möglichst breite Auswahl, d. h. dafür, auch all die einzubeziehen, die nur ein paar Jahre ihres Lebens in Prag verbracht haben, sei es als Wissenschaftler, Künstler oder Unternehmer (eine Ausnahme stellen einige Persönlichkeiten dar, die lediglich in Prag geboren wurden und die Stadt verließen, noch bevor sie auf die eine oder andere Weise ins öffentliche Leben getreten sind, wie zum Beispiel Bertha von Suttner). Breit ist auch die Spannweite der Fachgebiete und Bereiche, in denen die Porträtierten tätig waren – von der Architektur und Medizin über die Geisteswissenschaften und Kunst bis hin zum Unternehmertum –, auf diese Weise entsteht für den Leser ein buntes und plastisches Bild des deutschsprachigen Lebens in Prag, das im allgemeinen Bewusstsein bisher oft nur auf die Literatur um die Jahrhundertwende und etwaige national politische Auseinandersetzungen reduziert wurde. Entscheidend ist für die VerfasserInnen offensichtlich nicht die deutschböhmische Nationalität, sondern die Verwendung der deutschen Sprache im Berufs- und Privatleben, was hauptsächlich die deutschsprachigen Juden betrifft. Eine Reihe der deutschsprachigen Einwohner Prags beherrschte dabei auch das Tschechische und übernahm die Rolle der „Vermittler“ zwischen den beiden kulturell und gesellschaftlich geschiedenen Welten. Das vorliegende Verzeichnis könnte man sicher noch erweitern – beispielsweise um den Arzt Ernst Wodak (aus seinen Erinnerungen zitiert Ines Koeltzsch im Buch Geteilte Kulturen), die Schauspielerin Elsbeth Warnholtz (Mutter der Schauspielerin Hana Frejková) oder um bedeutende bildende Künstler (August Brömse, Georg Kars, Mary Duras, Josef Hegenbarth u. a.) – und korrigieren (zum Beispiel zeigt das Foto im Artikel zum Schriftsteller und Übersetzer Otto Pick den Wissenschaftler und Politologen Otto Pick, geb. 1925); dies verringert jedoch keineswegs den Gesamtwert des Lexikons, der in der Breite des Anspruchs und der Qualität der Bearbeitung liegt.

 

Die einleitenden Kapitel über das deutsche Leben in Prag werden auf Initiative von Wolfgang Schwarz, dem Kulturreferenten für die böhmischen Länder im Adalbert-Stifter-Verein, in der ersten Hälfte des nächsten Jahres in deutscher Übersetzung erscheinen und so auch den deutschen Lesern zugänglich sein. Sie stellen ein hervorragendes Hilfsmittel für eine erste Orientierung in der Problematik dar und sind besonders für pädagogische Zwecke an Schulen des sekundären Bildungsbereichs geeignet. Die breitere tschechische Öffentlichkeit wird das Deutschsprachige Prag aber wohl nicht erreichen – aus unbekannten Gründen ist es über die üblichen Distributionswege nicht erhältlich.

 

Übersetzung Katka Ringesová


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