Es schreibt Štěpán Zbytovský

(Echos, 10. 11. 2014)

Wem gehört Kafka? fragt suggestiv Hans-Gerd Koch im letzten Beitrag des Sammelbandes Franz Kafka. Wirkung und Wirkungsverhinderung, der die Beiträge einer gleichnamigen Konferenz in Prag vom November 2011 vereinigt, und der in der Reihe „Intellektuelles Prag im 19. und 20. Jahrhundert“ im Verlag Böhlau von Steffen Höhne und Ludger Udolph herausgegeben worden ist (2014, 436 Seiten). Die Frage des Herausgebers der kritischen Ausgabe von Kafkas Schriften deutet an, dass Rezeptionsgeschichte ein Prozess belebender Aktualisierung ist, aber auch eine Geschichte der Aneignung und Vereinnahmung, der Streitigkeiten um Eigentumsrechte (hinsichtlich der Manuskripte), um interpretatorische Exklusivität oder Beanspruchung symbolischer Identifikation im Rahmen der regionalen, nationalen oder transnationalen Kulturkanons. Was sich bereits intuitiv erahnen lässt, das belegen die Beiträge des Sammelbandes oftmals anhand von neuen Beobachtungen und Dokumenten: Dass bei Kafka diese Frage besonders heikel ist und auf die Wirkung seiner Texte zwar nicht notwendig mehr Einfluss als bei anderen modernen Autoren hat, doch sich in seinem Fall in besonderer Deutlichkeit aufdrängt.     

 

Während Kochs Beitrag auch dank bislang unveröffentlichter Briefe Max Brods in einem eigenständigen „Ausblick“ die Geschichte der spannungsvollenEigentumsverhältnissevon Kafkas Manuskripten umreißt, finden weitere vierzehn Beiträge in thematisch und methodologisch breiter SpannweiteEingang in zweierlei Serien, die einesteils der frühen Rezeption Kafkas, andernteils der Wirkung der Werke Kafkas in den Ländern des kommunistischen Blocks bzw. in Verbindung mit dem Kalten Krieg gelten. Der dritte Teil vereint unter der Überschrift „Kulturelle Bedingungen von Rezeption und Wirkung“ eher frei die fünf übrigen Beiträge.  

 

Die ersten beiden Studien sind fokussiert auf die frühe tschechoslowakische Rezeption Kafkas. Die Popularität Kafkas bei den gegensätzlichen Seiten, der kommunistischen, repräsentiert durch Stanislav Kostka Neumann, und der katholischen Josef Florians und anderer, trifft sich nach Anne Hultsch in seiner anfänglichen Wahrnehmungals expressionistische Autor – die Frage ist nur, was dieses durchaus überzeugend nachgewiesene „expressionistische Vorzeichen“ der Rezeption in den zwanziger Jahren eigentlich für seinen Träger bedeutete. Der Text, der weitere Aspekte der Rezeption bis ins Jahr 1957 erwähnt oder neue Verbindungen zieht, ist ergänzt um eine wertvolle Auflistung von Übersetzungen, Artikeln und Rezensionen in Büchern und Zeitschriften, wie auch von Texten, die Kafka in jener Zeit einfach nur erwähnen. Marek Nekula stellt das historische Vorfeld und die Umrisse des Versuches Eduard Goldstückers dar, Kafka für den offiziellen kulturellen Diskurs zu legitimieren und ihn gleichzeitig im Prager und im böhmischen Umfeld zu „erden“, und relativiert den Mythos um Kafkas Tschechischkenntnisse. Erwähnt sein Beitrag noch wiederholt die Nicht-Erwähnung oder die bewusste Verdrängung  der Verbundenheit Kafkas mit der Situation der Prager Juden, so orientiert sich Manfred Voigts an der Wahrnehmung von Kafka als jüdischem Autor. Es geht ihm dabei offensichtlich nicht um die Schilderung der gesamten Geschichte dieses Rezeptionsstranges, es ist aber überhaupt nicht erkennbar, worin seine eingangs bekundete „grundlegende Problematik“ (S. 93) besteht und was an seinem Beitrag neu ist; Voigts gelangt schließlich zu der Beobachtung, Kafka habe „ein Gefühl für die mittelalterliche Tradition des Talmud“ (S. 98) – mit dem Verweis darauf, dass auch der Talmud praktisch einen unendlichen Interpretationsprozess ermöglicht. Wie flexibel für die Herausgeber des Sammelbandes der Begriff der „frühen Rezeption“ ist, zeigt der Beitrag Volker Rühles, der bei der Lektüre Kafkas mit Derrida und Deleuze/Guattari eine zeitliche Dimension der Verschiebung von authentischer Erfahrung und (Selbst-)Erkenntnis beobachtet, um im Licht dieser Auslegungen schließlich mit Walter Benjamin das messianische Element des Bruches mit solch einem frustrierenden Spiel zu finden. Klaus Schenk erwähnt im Weiteren in seiner mehr historisch verankerten Studie über „Kafka-Umschriften“ zunächst Karl Brands spielerischen Text Die Rückverwandlung des Gregor Samsa von 1916, um über weniger greifbare „Ähnlichkeiten“, z. B. in den Texten von Oskar Baum, rasch zum wichtigen Thema der literarisch produktiven Rezeption nach 1945 zu gelangen – insbesondere beim frühen Martin Walser, bei Peter Weiss, Thomas Bernhard oder Libuše Moníková; unklar bleibt, worin die zum Schluss postulierte „Hybridisierung“ Kafkas bei Yoko Tawada besteht.

 

Dass und in welcher Weise Kafka in die Reihe der Autoren gehört, die als subversiv gegen das sowjetische Regime verstanden wurden, fasst Ludger Udolph zusammen, ausgehend von früheren Arbeiten Herling-Grudzińskis, Järvs, Karsts, Konstantinovs, Kopelevs oder Zatonskis (er berücksichtigt aber nicht Rohrwassers Studie zum „sibirischen Kafka“ von 2010). Den Charakter einer Übersicht hat auch der Beitrag von Christian Prunitsch zur polnischen Rezeption von der Zwischenkriegszeit bis in die 1980-er Jahre, als dessen Ergänzung  Karol Sauerlands Darstellung eines der Teilnehmer der Liblice-Konferenz, Roman Karst, gelesen werden kann; die kontinuierliche Wirkung von Kafkas Werk in Polen kontrastiert mit den veränderlichen Positionen der tschechischen Kulturpolitik gegenüber Kafka. Sich auf die Auslegung bisheriger Studien stützend, beschreibt der Beitrag Ekkehard W. Harings den Perspektivenwandel in der Kafka-Rezeption in der DDR anhand von unterschiedlichen Formen „produktiver Missverständnisse“, von der Ostrakisierung des Reaktionärs Kafka bis hin zur Offenheit dem Humanisten Kafka gegenüber. Aus dem Vergleich der einzelnen Beiträge des Sammelbandes ergeben sich stellenweise bemerkenswerte Betrachtungen – so zeigt etwa Michael Rohrwasser auf, dass die Politisierung Kafkas (und der Rede über ihn) sich wohl absurder noch als bei den tschechoslowakischen oder ostdeutschen offiziellen Autoritäten bei den österreichischen Kommunisten äußerte, die „ihren“ Vertreter auf der Liblice-Konferenz, Ernst Fischer, 1968 aus der Partei ausschlossen.

 

Zwei Beiträge versuchen aus der kommentierenden Beschreibung der Rezeptionsgeschichte herauszutreten und zu einer neuen Konzeptualisierung der Beziehung Kafkas zu seinem geographischen Lebensterritorium zu gelangen. Der Beitrag Manfred Weinbergs, der, ähnlich wie aspektweise Nekula, kritisch die vielfach ideologischen oder pragmatisch gegebenen Prämissen der beiden Liblice-Konferenzen zu Kafka und zur Prager deutschen Literatur untersucht, bestätigt implizit die Bedeutung, die bis heute im Umfeld der tschechischen und der mitteleuropäischen Germanistik jener Etappe beigemessen wird – wenn auch im Rahmen von Versuchen, sich reflektiert und definitiv von ihren Prämissen zu befreien. Weinberg fordert eine neue Verankerung Kafkas im regionalen und im Prager Kontext – keineswegs nach dem Prinzip des Widerspiegelns historischer Gegebenheiten im literarischen Text, sondern im Rahmen eines „Übersetzungsparadigmas“ (S. 231), das in weiteren Studien zu beschreiben ist. Mithilfe der Theorie des Raumes  (mit den Kategorien Lefèbvres) versucht Steffen Höhne die Beziehung Kafka – Prag zu fassen, und das insbesondere durch die Frage nach der Wahrnehmung und Formung des Lebensraumes als österreichisches Territorium – mit der Warnung vor einer allzu engen Territorialisierung bzw. Bohemisierung Kafkas.

 

Nicht ganz klar ist der Grund für die Einordnung des Textes von Alice Stašková und Jörn Peter Hiekel über zeitgenössische Vertonungen von Kafkas Texten (z. B. von György Kurtág, Rolf Riehm oder Martin Smolka) in den Zusammenhang „Kafka im Sozialismus“. Die Studie selbst bietet dessen ungeachtet eine bündige und überzeugende Analyse der Libretti und der musikalischen Mittel im Spannungsfeld zwischen ironischem Spiel und stumm machendem Ernst, zwischen unmittelbarer Verknüpfung mit dem Text und freier Inspiration. Einige Studien, so scheint es, erachten die Arbeit mit der unklaren Kategorie des „kafkaesken“ Lebensgefühls oder Stils leider als produktiver. „Kafkaesk paradoxal“ (S. 303) ist für Paul Peters Orson Welles‘  Verfilmung des Prozesses, kafkaesk sind die fiktiven Welten, Konstellationen und die Psychologie der Figuren in den Texten der japanischen Literaten Nakajima Atsushi (Studie von Takahiro Arimura), Yumiko Kurahashi oder Kobo Abe (Studie von Yoshihiko Hirano). Die letztgenannten Texte sind nur gewinnbringend durch die Verweise auf die Kafka-Rezeption in Japan in Übersetzung und Wissenschaft. Damit kontrastiert die fundierte und überzeugende Abhandlung von Marie-Odile Thirouin über die Umstände der Entstehung des Kafka-Bildes als Patron der minoritären Literaturen in Frankreich der 70-er Jahre, wie ihn Deleuze und Guattari in ihrem „dilettantischen“ (S. 351) Ansatz einschätzten oder die konzise Analyse von Philippe Wellnitz, die die Übersetzungen der Werke Kafkas ins Französische aus der Feder Alexandre Vialattes fokussiert. Richard T. Gray konzentriert sich auf den Einfluss der deutsch-jüdischen Emigranten Walter Sokel oder Heinz Politzer auf die Wahrnehmung Kafkas in den USA und ihre Bemühungen, Kafka von der Rolle des Repräsentanten des verfolgten westeuropäischen Judentums zu befreien; wie die Entwicklung seit den 90-er Jahren zeigt, wurde diese Bemühung bislang überhört.

 

Eine Reflexion über Wirkung und Nicht-Wirkung kann zweifelsohne zur Identifikation und Zerstörung von Mythen und Irrtümern beitragen, die mit dem gegebenen literarischen Phänomen verbunden sind, wohl weniger im Sinne einer Rückkehr zum Ursprünglichen als vielmehr im Sinne einer Beseitigung von Rezeptionsschablonen und Formeln, hinter denen sich das Werk völlig verlieren kann. Sie kann aber auch eine neue Richtung, eine neue Rezeptionsproduktivität initiieren. Oder sie kann bekannte Fakten und (meta)interpretative Klischees wiederholen. Ersteres bewirkt dieser Sammelband in vielerlei Hinsicht, zweiteres deutet er in einigen Beiträgen in interessanter Weise an, letzteres bewirken einige Beiträge – leider – in überraschendem Ausmaß.

 

Übersetzung: Daniela Pusch                            


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