Es schreibt Lenka Penkalová

(29. 9. 2014)

Prag – Wien – Dresden – Ravensbrück

 

Das ist etwas, wovon jeder Historiker träumt – siebzig Jahre nach dem Tod eines berühmten Menschen persönliche Dokumente zu finden, die bei den Forschern als verschollen galten, obwohl man wusste, dass sie existiert haben mussten. Im Fall der Journalistin Milena Jesenská (1896–1944) ist die Entdeckung von vierzehn ihrer Briefe aus den Gefängnissen in Prag-Pankrác und Dresden sowie aus dem KZ Ravensbrück umso erstaunlicher, als nach dem Schicksal der Autorin seit Jahrzehnten bereits umfänglich geforscht wird – von Historikern, Literaturwissenschaftlern, Journalisten sowie Studenten. Die Unterlagen ihres zweiten Mannes Jaromír Krejcar im Archiv der Sicherheitsorgane hat jedoch niemand von ihnen eingesehen, und so ist die gesammelte Korrespondenzerst dank der Sorgfalt der jungen polnischen Bohemistin Anna Militz, die in Prag ihre Bachelorarbeit über die Tochter Milena Jesenskás, Jana Černá-Krejcarová, schreibt, ans Licht gekommen.

 

Eine erste Edition der tschechischen (stellenweise unleserlichen) sowie Übersetzungen der auf Deutsch verfassten Briefe wurden im vergangenen Jahr von Alena Wagnerová in der Zeitschrift „Listy“ (Blätter) veröffentlicht – und genau diese Nachrichten an die Familie aus den Jahren 1940 bis 1943 wurden zum zentralen Punkt einer Ausstellung, die die Gedenkstätte Ravensbrück in Zusammenarbeit mit tschechischen Historikern anlässlich des diesjährigen 70. Todestages der Journalistin vorbereitet hat. Die Wanderausstellung zieht nun von Ravensbrück ins Prager Nostitz-Palais, wo sie bis zum 21. Oktober auch vom tschechischen Publikum besichtigt und beurteilt werden kann.

 

Es ist wohl nicht verwunderlich, dass die Mitarbeiter der Gedenkstätte Ravensbrück, denen die außergewöhnliche Briefsammlung aus den letzten Lebensjahren Milena Jesenskás ausgehändigt wurde, in der Ausstellung gerade das Kriegsschicksal der tschechischen Journalistin akzentuieren – ihre Tätigkeit im Widerstand und die darauf folgenden Jahre der Internierung. Diese aber überschatten zuweilen Jesenská als Persönlichkeit und bedeutende Autorin, den Kuratoren fehlt es an Raum, um ihren Berufsweg überzeugend aufzuzeichnen, ihr Schreiben, ihre übersetzerische und redaktionelle Arbeit zu charakterisieren oder ihr Werk in den Kontext der Journalistik der Zwischenkriegszeit zu stellen. Während so ihrem viermonatigen Aufenthalt in der Dresdner Haftvollzugsanstalt im Jahr 1940 zwei Wandtafeln gewidmet sind, müssen auch genau zwei Tafeln ausreichen, um ihre beinahe zwanzigjährige journalistische Karriere aufzuzeigen. Das Ergebnis ist eine größtmögliche Komprimierung, obendrein mit sachlichen Fehlern und Ungenauigkeiten, besonders in der Darstellung der Gegebenheitendes tschechischen kulturellen Milieus.

 

Die Tafel „Journalistische Arbeiten“ beschreibt beispielsweise die Berufsanfänge Milena Jesenskás folgendermaßen: „1921 erschienen ihre Wien-Reportagen auf der Frauenseite der ‚Národní listy‘ (Nationalzeitung), der auflagenstärksten Tageszeitung. Die Entwicklung des Zeitungswesens in den 1920er Jahren erhöhte den Bedarf an Autoren. 1925 standen den 37 000 deutschsprachigen Autoren 800 weibliche gegenüber.“ – In drei Sätzen führen die Autoren den Besucher gleich mehrfach in die Irre. Es stimmt zwar, dass Jesenská im Jahr 1921 begann, aus Wien für die „Národní listy“ zu schreiben, nicht aber für die Frauenrubrik – diese versorgte sie mit ihren Texten zur Mode erst später. Die „Národní listy“ war zudem sicherlich nicht die auflagenstärkste Tageszeitung: Im Gegenteil, sie gehörte in den 20er Jahren mit einigen zehntausend verkauften Exemplaren zu den kommerziell weniger erfolgreichen Blättern und wurde nicht nur von der populären „Národní politika“ (Nationalpolitik) mit einer Auflage von mehreren hunderttausend Exemplaren übertroffen, sondern auch vom volkssozialistischen „České slovo“ (Böhmisches Wort) oder der unabhängigen „Lidové noviny“ (Volkszeitung). Nicht zuletzt ist unklar, warum die Autoren die Information zum Verhältnis lediglich der deutschsprachigen männlichen und weiblichen Autoren erwähnen, wenn Jesenská doch auf Tschechisch schrieb. Sollte es um die Hervorhebung der männlich geprägten Welt der Zeitungsredaktion gehen, in welche die ersten Journalistinnen nur allmählich vordrangen, so wäre es meines Erachtens angebrachter, die verfügbaren Angaben zum tschechischen Umfeld zu nutzen.

 

Die Ausstellung stellt Jesenská anhand einer Vielzahl von Dokumenten und selten gesehenen Fotografien in chronologischer Reihenfolge vor, sie ist aber auch geographisch strukturiert – die jeweiligen „Kapitel“ sind den Orten gewidmet, an denen die Journalistin sich aufhielt (Prag, Wien, Dresden und Ravensbrück). Das kommt der Übersichtlichkeit der Präsentation zugute, manchmal freilich zulasten der Proportionalität. Die wenigen Monate, die Jesenská 1925 im Haus ihrer Freundin Alice Rühle-Gerstel und ihres Mannes in der Nähe von Dresden verbrachte, scheinen auf die gleiche Ebene zu geraten wie der über zehnjährige Aufenthalt in Prag, wohin die Journalistin eben im Jahr 1925 dauerhaft zurückkehrte. Ähnlich große Aufmerksamkeit gilt dem Zwangsaufenthalt in der Heilanstalt für Geisteskranke in Veleslavín, in der der Vater 1917 seine minderjährige Tochter internieren ließ. Die Autoren der Ausstellung sind offensichtlich bemüht, keine der maßgeblichen Etappen und Rollen im Leben Milena Jesenskás zu übergehen, das Ergebnis ihrer Arbeit jedoch lässt Fragen nach dem eigentlichen Zweck der Exposition und nach dem Zielpublikum offen: Bewegte sie die Rücksicht auf die deutschsprachigen Besucher, für die die Informationen über das Beziehungsnetzwerk um Milena Jesenská, das auch bedeutende deutsche und österreichische Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler mit einbezieht, wichtig und eine Entdeckung sein können? War man bemüht, die dramatischen Lebensetappen der Journalistin zu betonen, um die Ausstellung leichter zugänglich zu gestalten für diejenigen, die über Jesenská nichts wissen?

 

Diese Beweggründe wären insgesamt verständlich, wenn eben jenen Kapiteln aus der Vita der tschechischen Journalistin, die nicht derart effektvoll, jedoch ausschlaggebend für das Verständnis ihrer Arbeit sind, die gleiche Sorgfalt entgegen gebracht worden wäre. Mehr Beachtung hätte der Kreis der tschechischen Freunde und Bekannten verdient, deren Einstellungen und Meinungen Jesenská ebenfalls in bedeutender Weise beeinflussten; aus der Exposition könnte auch das deutlicher hervorgehen, was wirklicher Inhalt ihres Berufslebens war – nämlich praktisch tägliches Schreiben für eine ganze Reihe von Periodika, deren erheblicher Teil in der Ausstellung nicht einmal erwähnt wird. Konkret: Anhand von Miniportraits (ein sehr gutes und nützliches Mittel) werden Persönlichkeiten vorgestellt, die im Leben der Journalistin wesentlich waren. Man findet hier also Kurzportraits von Familienmitgliedern, den Ehemännern, aber auch von Kollegen und Weggefährten, die Auswahl illustriert aber genau den bereits erwähnten Einwand zur Proportionalität. Wir erhalten grundlegende Informationen über sechs Mitinsassinnen in Ravensbrück, doch ihre lebenslangen Freundinnen und Kolleginnen Staša Jílovská oder Zdena Wattersonová, zum Beispiel, bleiben abseits; wir erfahren, dass Franz Werfel „Milena Jesenská Avancen gemacht haben“ soll, aber schon nicht mehr, dass sie lange Jahre mit Adolf Hoffmeister oder mit den Künstlern im Umkreis der avantgardistischen Gruppierung „Devětsil“ befreundet war.

 

Eine der bedeutenden „Auslassungen“ ist hingegen zu würdigen, weil sie bekundet, dass die Vorbereitung der Ausstellung keine einfache Kompilation biographischen Materials war und von der Reflexion über das Bild Milena Jesenskás begleitet wurde, das in den vergangenen zwanzig Jahren vor allem in den Medien eine zuweilen stereotype Form annahm. Auf den Ausstellungstafeln erfahren wir wider Erwarten nur grundlegende Fakten zur Zusammenarbeit und Korrespondenz Jesenskás mit Franz Kafka – also zu dem Kapitel ihres Lebens, das Jesenská internationale Aufmerksamkeit sicherte und am Anfang eines gewissen Kultes um sie stand. Die Beziehung mit Kafka lediglich als eine schicksalshafte Beziehung unter vielen zu zeigen, ist eine sachlich richtige, aber immer noch äußerst seltene Entscheidung, und trägt im Rahmen der Ausstellung dazu bei, dass sich die Besucher vom Stereotyp Jesenskás als „Kafkas Freundin Milena“ lösen – und die zweifelsohne bedeutende Autorin und unkonventionelle Persönlichkeit immerhin mit neuen Augen betrachten können.    

 

Übersetzung Daniela Pusch


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