Es schreibt Jan Budňák

(Echos, 1. 9. 2014)

1997 formulierte der Autor der bisher einzigen umfassenderen germanistischen Studie über Roman Karl Scholz, der Olmützer Ordinarius Ludvík Václavek, lapidar: „Der österreichische Dichter Roman Karl Scholz (1912–1944) wurde in Mährisch-Schönberg (Šumperk) in Mähren geboren. In Böhmen und Mähren ist er kaum bekannt und in Österreich wird er nicht in seiner ganzen Bedeutung gewürdigt“ (in Beiträge zur deutschsprachigen Literatur in Tschechien, UPOL 2000, S. 375). Bis zu diesem Jahr gab es keinen Grund dafür, Václaveks Feststellung zu korrigieren – erst zum 70. Jahrestag seines Todes erschienen in Österreich erneut ein kleiner Band mit ausgewählter Dichtung von Scholz (1. Ausg. 1994), aber vor allem nun in Tschechien eine von der Olmützer Germanistik vorbereitete, kommentierte Auswahl aus dem Werk (hg. von Ludvík Václavek, UPOL 2014, 192 und 220 S.).

 

Die Auswahl aus dem Werk von Roman Karl Scholz erscheint zweisprachig, in einem tschechischen und einem deutschen Band. Die darin enthaltenen Texte – Scholz’ späte Gedichte und sein einziger Roman Goneril – wurden in einer Grenzsituation verfasst, nämlich im NS-Gefängnis und „an der Schwelle des Todes“ (Klappentext). Der Klosterneuburger Ordenspriester Roman Scholz (Karl war sein bürgerlicher Name) wurde im Jahre 1940 als Organisator der Widerstandsgruppe „Freiheitsbewegung Österreich“ festgenommen und 1943 zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde im Mai 1944 vollstreckt. Heißt es bei Václavek, dass in Österreich Scholz’ Bedeutung nicht voll gewürdigt wird, impliziert dies aber auch, dass zumindest seine Widerstandstätigkeit relativ bekannt ist. Scholz und seine Gruppe, die 1938–1940 aktiv war und ihre Aufgabe vor allem in einer aktiven Immunisierung junger ÖsterreicherInnen gegen die NS-Ideologie erblickte und nicht im Guerilla-Kampf gegen sie, nimmt eine prominente Stelle in allen deutschsprachigen Publikationen zum Widerstand im Land ein. Demgegenüber ist das übliche tschechische historiografische Sieb für Scholz als Widerstandskämpfer – trotz seines mährischen Ursprungs und seiner Kontakte zum mährischen NS-Widerstand – zu grobmaschig (die einzigen ursprünglichen, obgleich knappen Arbeiten zu Scholz in Tschechisch sind daher die schon älteren Beiträge von V. Medek /1967, 1972/ und L. Vizina /d. i. L. Václavek, 1982/ in der Fachzeitschrift „Severní Morava“ [Nordmähren]).

 

Im tschechischen Kontext wird unter den gegebenen Umständen des Informations- und Interpretationsvakuums zu Scholz das ausgezeichnete Vorwort der Auswahl aus dem Werk vom Vorstand der Olmützer Germanistik, Jörg Krappmann, eine entscheidende Rolle spielen. Krappmann sieht den Schlüssel zum Verständnis von Scholz’ widerspruchsvoller Persönlichkeit in dessen früher Identifizierung mit den Zielen der deutschen „Jugendbewegung“, die aus der älteren „Wandervogel“-Bewegung hervorgegangen ist. Diese fand in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch in den ehemaligen deutschsprachigen Randgebieten Böhmens und Mährens breite Resonanz (vgl. etwa das auch in Tschechien bekannte autobiographische Werk Rosinkawiese. Alternatives Leben in den 20er Jahren von Gudrun Pausewang). Die „Jugendbewegung“ unterschied sich von den national-romantisierenden Turnvereinen sowie von der Woodcraft-Bewegung durch ihre ausschließliche Fokussierung auf die Jugend und durch die „straff hierarchisierte Organisationsstruktur, die auf die Herausbildung charismatischer Führerpersönlichkeiten ausgerichtet war“ (S. 7). Die sudetendeutsche und katholische Variante der „Jugendbewegung“ war der „Staffelstein“-Verein, in dem sich Scholz „zum Typus des mitreißenden Jugendführers heranbildete und diese Fähigkeiten auch auf seine spätere kirchliche Tätigkeit übertrug“ (S. 9f.). Diese Trajektorie führt Scholz schließlich in den 30er Jahren in eine „ideelle“ Nähe zum Nationalsozialismus, der zu jener Zeit in Österreich illegal war (nach der Matura im Jahre 1930 geht Scholz als Novize nach Klosterneuburg, wo er auch Theologie studierte). Während die Pausewangs also aufgrund der Ideale der „Jugendbewegung“ (Askese, Naturnähe, starke innere Empfindung, Selbstdisziplinierung) eine antiindustrielle Familienutopie der natürlichen Einfachheit pflegten, steuerte Scholz von einem ähnlichen Ausgangspunkt aus auf den Nationalsozialismus zu – nach einigen Jahren aber schließlich auf den Widerstand dagegen.

 

Im Vorwort korrigiert Krappmann auch einige vorschnelle oder idealisierte Interpretationen von Scholz’ schwieriger Entwicklung, z. B. jene aus Jürgen Serkes Böhmischen Dörfern (1987, tsch. 2001), die Gefallen an dramatisch zugespitzten Kontrasten und schockierender, aber fragwürdiger „Authentizität“ finden. Krappmann schildert Scholz’ nationalsozialistisches Engagement weit realistischer, was allerdings die Sachverhalte nicht weniger frappierend macht. Das größte Fragezeichen in Scholz’ Leben ist sein eigenhändig geschriebenes Ansuchen um NSDAP-Mitgliedschaft vom 14. 5. 1938, also zwei Monate nach dem „Anschluss“, das überdies vom örtlichen Parteifunktionär „um besonderer Verdienste um die Bewegung willen wärmstens befürwortet“, obgleich schließlich nicht genehmigt wurde. Im Herbst 1938 gründet der katholische Priester Scholz in Klosterneuburg schon seine Widerstandsgruppe. Krappmann erklärt diese Wendung als Scholz’ Reaktion auf die Drangsalierung der Kirche durch die Nationalsozialisten, was viel überzeugender ist als Serkes Vorstellung von Scholz’ plötzlicher Erleuchtung beim NSDAP-Parteitag im Jahre 1936 oder die Formulierung von Grete Gergasevics aus dem Vorwort der ersten Ausgabe des Goneril-Romans: „Doch schon die ersten Auswirkungen der Machtergreifung Hitlers belehrten ihn und machten ihn klarsichtig“ (S. 53).

 

Neben Krappmanns Vorwort beinhaltet der schmale Band zwei Begleittexte zu Goneril: das Vorwort von Gergasevics zur ersten Ausgabe (1947) und einen eigenen Kommentar von Roman Scholz (1942). Wichtig ist, dass die einzelnen Texte kein Puzzle darstellen, dessen Teile  sich problemlos zusammensetzen lassen. Dass sie einander teilweise widersprechen, kann inspirativ sein, dass sie manchmal bereits Gesagtes wiederholen, ist es weniger. Als überflüssig erscheint vor allem das ursprüngliche Vorwort Gergasevics’, das großteils von Krappmanns Einleitung vorweggenommen wird. Fraglich sind auch einige weitere Entscheidungen der Herausgeber: So fehlt dem Band ein Inhaltsverzeichnis, was dazu führt, dass z. B. das Vorwort von 1947 und vor allem Scholz’ eigener Begleittext zum Roman, der für die Interpretation entscheidend ist, „verschüttet“, wenig sichtbar sind. Für temporäre Desorientierung der LeserInnen wird wahrscheinlich auch die Tatsache sorgen, dass Krappmanns Einleitung und die Auswahl aus Scholz’ lyrischem Werk nicht deutlich genug voneinander abgesetzt sind. Die LeserInnen werden das erste Gedicht des Lyrik-Teils („Dem Leser“) wahrscheinlich als einen poetischen Nachtrag zu der allgemeinen Einleitung verstehen.  

 

Neben diesen eher nebensächlichen Unbequemlichkeiten ergibt sich bei der Auswahl aus dem Werk Scholz’ die grundsätzliche Frage nach Ausmaß und Charakter der Fiktionalität in Goneril. In dieser Hinsicht ist es sicher schade, dass Krappmann, ein gründlicher und kühner Interpret (vgl. Štěpán Zbytovskýs „Echo“ vom 9. 6. 2014), in seinem Vorwort relativ wenig Raum der Analyse des Romans widmet, die die Grenzen einer biografischen Interpretation des Textes genauer abstecken könnte. Die autobiografische Interpretation des Textes gründet sich primär auf der typologischen Ähnlichkeit von Christian, dem Protagonisten, mit dem Verfasser und auf der Tatsache, dass Scholz genauso wie Christian im August 1939 eine Reise nach England unternommen hat, von der er kurz nach Kriegsausbruch nach Österreich zurückkehrte. Das Entscheidende, so scheint es, ist jedoch – und zwar auch für den Verfasser – das, was sich an der Liebesgeschichte zwischen einem Priester und dem Mädchen Goneril der „profanen Neugier“ entzieht: nämlich das ständige Abzielen aufs „Prinzipielle“. Gerade auf der Prinzipien-Ebene kommt es zu tragischen Kontrasten (z.B. Schönheit versus Freiheit), in deren Falle Christian gerät. Der autobiografische Roman wird somit mindestens genauso zum autostilisierenden, der im Spannungsfeld zweier Strategien konstruiert ist, die Scholz beim Schreiben „vor der Hinrichtung“ verwendet. Er trotzt dem Tod, indem er eine literarische Welt der abstrakten und verkörperten „Schönheit“ baut, und gleichzeitig entscheidet er sich für den Tod in der Selbststilisierung des „Kämpfers für die auferstandene Freiheit“.

 

Ausdrücklich hervorheben will ich schließlich die Qualität der tschechischen Übersetzung von Goneril von Lucy Topoľská sowie von Scholz’ Lyrik durch Radek Malý. Malý trifft hervorragend das geradlinige Pathos von Scholz’ reflexiven Gefängnisgedichten. Die Elegie der „Schönheit“ in der tschechischen Goneril wird durch keinen einzigen falschen Ton gestört. Leider kann die tschechische Übersetzung des Vorworts durch Jitka Stiessová nicht mit gleicher Begeisterung gelobt werden, denn sie überzeugt weder in terminologischer Hinsicht (z. B. die verschiedenen tschechischen Äquivalente für östr. „Ständestaat“) noch durch ihre Genauigkeit (tsch. „terroristische Regierung“ entspricht nicht der Vorlage „Terrorherrschaft“ im deutschen Text). Sowohl im deutschen als auch im tschechischen Vorwort finden sich einige typografische – teilweise auch sinnentstellende – Fehler. Dessen ungeachtet: Der insgesamt ausgezeichnete Eindruck von diesem Entdeckungs-Doppelband wird durch den minimalistischen Umschlag in Nuancen von Grau bestärkt (von Marie Krappmann), mit einer sich entfernenden Silhouette und ihrem Schatten, der sich vom Dunklen ins Licht ausdehnt.


zpět | stáhnout PDF