Es schrieb Oskar Wiener

(Echos, 21. 7. 2014)

Die Sparte „Es schrieben“ ist einer ambivalenten Liebeserklärung an Prag gewidmet, deren Verfasser Oskar Wiener (1873–1944) sein ganzes Leben in dieser Stadt verbrachte, bis er nach Theresienstadt (Terezín) deportiert wurde, wo er vor siebzig Jahren – genau an Hitlers Geburtstag, dem 20. April – den Tod fand. Es soll an einen seiner bekanntesten und gerne zitierten Texte erinnert werden, den er – Zum Geleit – der Anthologie Deutsche Dichter aus Prag (Ein Sammelbuch herausgegeben und eingeleitet von Oskar Wiener. Wien/Leipzig: Ed. Strache 1919, S. 5–9) vorangestellt hat.

 

„Prag, die Stadt der Sonderlinge und Phantasten, dies ruhelose Herz von Mitteleuropa“ (S. 5), bildete laut diesem Vorwort auch den gemeinsamen Nenner der siebenunddreißig BeiträgerInnen. Sie sind in alphabetischer Reihenfolge sowohl mit vielseitiger Lyrik als auch Prosa sowie Dramenszenen in dem umfangreichen Band vertreten, der 400 Seiten umfasst und mit Zeichnungen Friedrich Feigls ausgestattet ist. Das Kriterium zur Aufnahme war eine vorhandene Beziehung zu Prag, die jedoch in erster Linie weniger räumlich als vor allem innerlich motiviert sein musste. Wie Auguste Hauschner, die selbst die Stadt schon lange verlassen hatte und trotzdem eine Erzählung beisteuerte, es in einer Rezension formulierte, waren „sie alle in der Hunderttürmestadt geboren oder ihr in freiwilliger Kindschaft zugetan“ und hatten im „Blut den dunkeln Tropfen Schwermut, aus dem Schatten ihrer Schönheit in die Adern geträufelt, im Wesen die Tatkraft, die sich an steten Kämpfen und Widerständen stählt“ (Auguste Hauschner: Prag in Dichtung und in Sage. In: Berliner Börsen-Courier. Jg. 52, 1920, Nr. 251, 2. 6., 1. Beilage, S. 5).

 

Dadurch ergab sich eine besondere Auswahl, die nicht von dem im Prager Literaturbetrieb ansonsten gerne ausgelebten Nepotismus geleitet war und im Gegensatz zu manchen anderen Sammelwerken der Prager deutschen Literatur, wie z. B. dem Prager Dichterbuch, das Heinrich Teweles mit Unterstützung der „Gesellschaft zur Förderung deutscher Wissenschaft, Kunst und Literatur in Böhmen“ herausgab (Prag: Friedrich Ehrlich’s Buchhandlung 1894), nicht nur eine Generation repräsentierte, sondern eine weite Spanne an Geburtsjahren der AutorInnen vereinte. Um zumindest einige Namen zu nennen: Friedrich Adler, Oskar Baum, Max Brod, Emil Faktor, Ernst Feigl, Rudolf Fuchs, Leo Heller, Camill Hoffmann, Egon Erwin Kisch, Paul Kornfeld, Paul Leppin, Fritz Mauthner, Gustav Meyrink, Rainer Maria Rilke, Hugo Salus, Hedda Sauer, Heinrich Teweles, Johannes Urzidil, Franz Werfel, Paul Wiegler, Ludwig Winder und Ottokar Winicky. Hauptsächlich sind – bis auf die zwei Ausnahmen Karl Brand und Victor Hadwiger – zum Zeitpunkt des Erscheinens noch lebende SchrifstellerInnen aufgenommen worden, wobei einen Großteil der Arbeit an der Anthologie Otto Pick, der die Herausgabe mit dem Verlag vereinbart und an Wiener übertragen hatte (vgl. Otto Pick: Zwanzig Jahre deutsches Schrifttum in Prag. In: Witiko, Jg. 2, 1929, S. 116–120, hier 119), geleistet hat. Dafür wurde ihm in der Einleitung besonderer Dank ausgesprochen und „der Übersetzer von Šrámek, Březina, Machar und anderen, einer der wirksamen und wahren Befürworter der kulturellen Annäherung von Tschechen und Deutschen, oder, wenn man so will, umgekehrt“, wurde auch in einer Besprechung, die in der Tageszeitung „Národní listy“ (Volksblätter) erschien, hervorgehoben.

 

Für die deutschen Dichter aus Prag, wie der Rezensent Karel Jehlička darin zu Recht betont, sei es „jedoch das Prag der Vergangenheit, das sie lieben. Prag, das Zentrum der kräftig um ihre Rechte kämpfenden, leidenden, siegreichen Nation, ist ihnen fremd, etwas, was sie entweder überhaupt nicht oder nur kaum verstehen, auch wenn sie sich darum bemühen“ (Karel Jehlička: Pražští němečtí básníci. In: Národní listy, Jg. 60, Nr. 141, 23. 5. 1920, S. 2). Dies war Oskar Wiener durchaus bewusst, schon 1906 hatte er mit Bedauern festgestellt: „Prag, diese unsagbar schöne, aber verruchte Burg an der Moldau, das alte Prag liegt im Sterben und eine neue, nüchterne Stadt wächst aus dem wuchtigen Quaderwerk seiner Trümmer. Was wir geliebt und was eine Heimat war all unseren Träumen, es muss dahin. Wir gehn wie Enterbte durch die neuen Strassenzüge und trauern“ (Oskar Wiener: Das schöne Prag. In: Wir, Jg. 1, 1906, H. 1, April, S. 21). Doch einer anderen Veränderung konnte er nun in Zum Geleit Positives abgewinnen: „In den letzten zwanzig Jahren erlangte Prag als deutsche Dichterstadt immer wachsendere Bedeutung“. Und zwar im Unterschied zu Wien, das „fast unbeachtet und völlig einflußlos beiseite steht“ (S. 7), was dort für zynisches Schmunzeln und folgende Bemerkung sorgte: „[...] so lasse ich noch nicht alle Hoffnungen auf Wien fahren, namentlich da uns Prag zwar nicht Lebensmittel und Betriebsstoffe, aber die Einfuhr einiger seiner aussichtsreichsten schriftstellerischen Talente großmütig zugestanden hat“ (Eduard Castle: Wiener Brief. In: Beiblatt der Zeitschrift für Bücherfreunde. N. F. Jg. 11, 1919, H. 5–6, August–September, S. 204–212, hier 206).

 

Mag Wieners Charakterisierung der Prager deutschen Literatur – „Aus dem dreifach gedüngten Boden sprießen Blüten, deren Eigenart sonst nirgendwo zu gedeihen vermöchte“ (S. 7) – pathetisch klingen, Tatsache ist, dass diese außergewöhnliche Blütenlese auch über neunzig Jahre nach ihrem Erscheinen nicht im Geringsten verwelkt ist; eine Neuauflage wäre mehr als wünschenswert.

 

jh

 

 

Zum Geleit

 

Prag, die Stadt der Sonderlinge und Phantasten, dies ruhelose Herz von Mitteleuropa, ist meine Heimat. Ich liebe Prag, wie man nur seine Heimat lieben kann. Aber diese Hingabe ist eine schmerzensreiche Neigung. Sie gleicht der Leidenschaft zu einer berückend schönen Frau, die Launen hat. Wer ihr einmal in die tiefen, geheimnisbangen Augen sah, bleibt für sein ferneres Leben der Magierin untertan. Er bleibt es auch, wenn er noch so frühzeitig und jung an Jahren in die Fremde zog, um draußen auf anderem Erdreich das Feld zu bestellen.

 

Viele hatten die Kraft dazu, rissen sich los von dieser düstern Salome, aber sie wollte mit dem Haupte eines jeden vor Holofernes tanzen. Auch jene, die an ihrer Leidenschaft nicht zugrunde gingen, kranken nun an einer unsterblichen Sehnsucht zu Prag. Gustav Meyrink schrieb in der neuen Heimat die Worte: „Es gibt keine Stadt der Welt, der man so gern den Rücken kehren möchte, wenn man in ihr wohnt, wie Prag, aber auch keine, nach der man sich so zurücksehnt, kaum, daß man sie verlassen hat.“ – Und Fritz Mauthner füllte ein ganzes Buch über seine Prager Jugendjahre; schmerzliche Erinnerungen eines deutschen Dichters sind es, der an der Schwelle des Greisenalters noch immer nicht verwinden kann, daß dem Jüngling einst die breiten Grundpfeiler eines angestammten, tief wurzelnden Volkstums fehlten: „Ich könnte vielleicht heute noch aufheulen wie in meiner Jugend, wenn jemand mir zuriefe: Ohne Mundart sei man nicht im Besitze einer eigentlichen Muttersprache. Aber ich könnte ihn nicht Lügen strafen; denn in Prag gibt es keine deutsche Mundart, hier spricht man nur ein papierenes Buchdeutsch.“

 

Dies ist das tragische Geschick aller deutschen Dichter meiner Vaterstadt. Sie bleiben immer nur die Söhne einer auf sich selbst angewiesenen, von der slawischen Umgebung streng abgeschlossenen Gesellschaft. Wollen sie aus dem Volke schöpfen – und welcher Dichter müßte dies nicht – dann tauchen sie unter in der Flut eines fremden Volkstums, holen sich ihre Anregungen und den Stimmungsgehalt ihrer Werke aus der tschechischen Wesensart, die sie befruchtend umströmt. Wer hier hinter Mauern wandelt und den Weg zum lebendigen Leben verschmäht, wird ein Salondichter, schreibt nur für einen engen Kreis kultivierter Leute. Mit diesem Fluch belastet sind alle künstlerischen Naturen Deutsch-Prags, sind Märtyrer ihrer Heimatlichkeit.

 

Allerdings für die wirklich Begabten wandelt sich der Fluch zum Segen. Drei verschieden geartete Kulturen stoßen hier noch immer zusammen, vereinigen und verdichten sich zu einer einzigen, untrennbaren Geistigkeit. Deutsche, tschechische und jüdische Einflüsse wirken gleichzeitig auf den schöpferischen Geist ein und zwingen ihn zu Eingebungen, die er anderwärts nicht finden könnte. Aus dem dreifach gedüngten Boden sprießen Blüten, deren Eigenart sonst nirgendwo zu gedeihen vermöchte. Aus den dreifach durchfluteten Sphären strömt eine Musik, die sich mit keiner andern verwechseln läßt. So entstanden neue Töne, neue Richtungen und sie sind auf die Gesamtheit des deutschen Schrifttums nicht ohne Wirkung geblieben. In den letzten zwanzig Jahren erlangte Prag als deutsche Dichterstadt eine immer wachsendere Bedeutung; jetzt spricht man allgemein von den literarischen Wechselbeziehungen zwischen Berlin, München und Prag, während das große Wien fast unbeachtet und völlig einflußlos beiseite steht. –

 

In diesem Sammelbuch haben sich mehr als dreißig Dichter mit Beiträgen eingefunden. Es war nicht leicht, die vielfach gegensätzlichen Überzeugungen und Richtungen unter ein gemeinsames Dach zu bringen. Nun aber sind sie glücklich vereinigt und mir scheint, daß sie sich rechtgut vertragen werden. Haben sie doch, so verschieden ihr künstlerisches Glaubensbekenntnis auch sein mag, aus dem gleichen Boden ihre Schöpferkraft gesogen. Ich bin ganz ohne Voreingenommenheit ans Werk gegangen. Wer etwas trifft oder durch anerkannte Bücher seine Berechtigung zur Teilnahme erwiesen hat, ist hier vertreten. Doch jeder trägt die Verantwortung für seine eigenen Schöpfungen.

 

Nicht nur jene, die in Prag geboren sind oder ihre Jugend hier verbrachten, auch die andern, die nur der Zufall für ein paar Jahre hierher verschlug, die aber ihr ferneres Leben von den Einflüssen und Eingebungen der seltsamen Moldaustadt nicht wieder loskommen konnten, auch sie gehören zu uns. Krönt doch die unsterbliche Schönheit jedes empfindsame Gemüt mit der Dornenkrone des Dichters. Die grandiose Kulisse der Königsburg, die stolze Schwermut der Kleinseite, die Pracht der barocken Nepomukbrücke, der ergreifende Judenfriedhof, ob im Herbststurm oder Winterschnee geschaut oder in der Fülle einer sanftgoldenen Frühlingssonne, es sind Bilder von berauschendster Tiefe und unauslöschlicher Prägung. Detlev Liliencron, der große norddeutsche Dichter, den es immer wieder nach Prag zog, träumte davon, hier den Lebensabend zu beschließen, und in seinem Poggfred schrieb er die Verse:

 

Du mußt es sehn, wenn sich der volle Mond

In seinen Gassen, Gäßchen eingefangen,

Wenn im Barock er auf den Kirchen thront,

Wenn seine Lichter den Hradschin umprangen,

Den silbernen Sarg Sankt Nepomuks umfangen,

Wenn er in Waldsteins großer Halle wohnt.

Viel hundert Sagen singen und Geschichten,

Ganz Praha ist ein Goldnetz von Gedichten.

 

Gewiß, ganz Prag ist ein Goldnetz von Gedichten. Und die in diesem Buche hier vereinigt stehen, die Berühmten und Unberühmten, die Werdenden und die Vollendeten, sie alle sind von diesem Goldnetz umsponnen. Daß sie sich hier zusammenfanden, danke ich ihrer Liebe zu Prag, und jeder einzelne sei herzlich bedankt für seine Mitwirkung. Ganz besonderer Dank aber gebührt Herrn Otto Pick, der in selbstlosem Eifer zum Gelingen dieses Werkes beitrug und ihm manchen jüngern Poeten, der vielleicht sonst ferngeblieben wäre, zugeführt hat.

 

Prag, im Herbst 1918

 

Oskar Wiener

 


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