Es schreibt Lucie Merhautová

(26. 5. 2014)

In ihrer Monografie Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag (1918–1938), die 2012 als 124. Band des Münchner Collegium Carolinum erschienen ist, geht Ines Koeltzsch in erster Linie von zwei Prämissen aus: Einerseits folgt sie keinem der vorherrschenden, widersprüchlichen Narrative von Prag – entweder als Stadt der (nationalen, kulturellen, sozialen) Grenzen oder als multikulturellem, symbiotischem Raum –, andererseits versteht sie den Identitätsbegriff in Anknüpfung an das Konzept der sogenannten integrierten Stadtgeschichte und der Histoire croisée situativ, relational und prozesshaft, als Ergebnis „direkter und indirekter Interaktionsprozesse zwischen sprachlich und kulturell verschiedenen Städterinnen und Städtern“ (S. 17f.). Die vier Kapitel des Buchs dringen grundlegend in ihre jeweiligen Bereiche vor, jedes hätte auch in einer eigenständigen Arbeit ausgeführt werden können, allerdings erlaubt es gerade ihr In-Bezug-Setzen, den Alltag und die Veränderungen der kulturell, sozial, politisch und religiös geschichteten Prager Gesellschaft in ihrer vieldeutigen Dynamik einzufangen. Ich will mich hier auf das dritte Kapitel konzentrieren, das sich den Formen interkultureller Vermittlung in besagter Zeit am Beispiel der Intellektuellen sowie der Presse widmet. Durch einen reflexiven Zugang zum Vermittlungsbegriff unterscheidet sich die Autorin von einer Reihe von Arbeiten, die entweder auf der Ebene der Theorie verbleiben – die nicht durch Interpretation von Quellen problematisiert wird – oder die jedweden Kontakt automatisch als Vermittlung auslegen, als deren Ergebnis sodann der wenig erforschte interkulturelle Austausch bzw. ‚Kulturtransfer’gilt.

 

Die ersten beiden Kapitel der Publikation setzen sich mit Diskursen und Praktiken auseinander, die danach streben, die eindeutig ethnisch-national definierten Grenzen und Gruppierungen zu begründen und aufrechtzuerhalten – das erste Kapitel behandelt die Ausblendung der städtischen Heterogenität und Mehrsprachigkeit durch Demographen und Statistiker bei Volkszählungen, das zweite widmet sich den symbolischen Grenzziehungen der Kommunalpolitiker. Das vierte Kapitel erforscht den Aufschwung des Wenzelsplatzes und neue Formen von Freizeitvergnügungen und Zeitvertreib, für welche die Volkszugehörigkeit nicht entscheidend war. Das dritte Kapitel mit dem Titel Grenzüberschreitungen (und dem Untertitel Kulturelle Vermittlung in der intellektuellen Öffentlichkeit) nimmt im Gegensatz zu den vorigen Kapiteln Persönlichkeiten in den Blick, welche die verlangten eindeutigen nationalen Zugehörigkeiten in sich bündelten und in bestimmten Momenten zu einem gewissen Grad auch überwanden. Die heterogene Stadtgesellschaft ist immer ein natürlicher Raum interkulturellen Austauschs gewesen. Für die Prager Intellektuellen gehörte es zur alltäglichen Realität, die anderssprachige Presse, die publizistischen wie die persönlichen Debatten sowie Kulturveranstaltungen zu verfolgen. Gerade die gebildeten und sprachlich versierten Intellektuellen, „Professionelle (in) der städtischen Kultur“ (Walter Prigge, zit. nach Koeltzsch, S. 179), neigten zu vermittelnden Tätigkeiten. Mit Verweis auf Christoph Charle merkt Koeltzsch an, dass auch negative Diskussionen oder eine Ablehnung der gegenseitigen (tschechisch-deutschen, jüdisch-nichtjüdischen) Beziehungen zum Austausch beitrugen, dass also jedwede interkulturelle Interaktion die Beteiligten beeinflusse, wenngleich oftmals anders, als von ihnen selbst angenommen. Ebenso wie Verständnis und Austausch seien auch Konflikte inhärenter Bestandteil eines Beziehungsgeflechts. Die Autorin fokussiert in den analytischen Passagen freilich auf diejenigen Literaten, die Vermittlung dialogisch auffassten, sowie darauf, warum sie diese vermittelnde Rolle annahmen, wie sie sie verstanden und darstellten. Angesichts der Tatsache, dass viele der Schriftsteller, Journalisten, Kritiker und Übersetzer, die sich für die Vermittlung entschieden, Juden waren, stellt sich notwendigerweise die Frage nach ihrer persönlichen Motivation, die mit oftmals changierenden jüdischen Selbstentwürfen zusammenhing und bedingt war durch die in der Familie und an tschechischen und deutschen Schulen erworbene Mehrsprachigkeit.

 

Die ausgewählten Vermittler stellen „keine homogene Gruppe“ dar, die ältesten hatten ihre literarische Laufbahn vor dem Krieg eingeschlagen und waren in der Zwischenkriegszeit bereits entsprechend etabliert. Ihre zentrale Position im literarischen Feld jener Zeit verdeutlicht eine Karikatur Adolf Hoffmeisters, die auf der Titelseite der ersten Ausgabe der Wochenzeitschrift „Die Welt im Wort“ Anfang 1933 unter der Überschrift „Prager Parnass von heute“ erschien. Sie fängt tschechische und deutsche Schriftsteller ein – mit František Langer und Karel Čapek symbolisch in der Mitte, um sie versammelt Walter Seidl, Oskar Baum, Rudolf Fuchs, František Kubka, Paul/Pavel Eisner, Otokar Fischer, Max Brod, Paul Kornfeld und Paul Leppin; zudem sind im unteren Teil der Seite allen „literarische Selbstcharakteristiken in vier Worten“ beigefügt. Die Zeitschrift gab eine kurze Zeit lang, ähnlich wie 1911/1912 die „Herder-Blätter“, der nach Prag zurückgekehrte Willy Haas heraus, zusammen mit Otto Pick, welcher Redakteur der „Prager Presse“ und zudem eine zentrale Übersetzerpersönlichkeit war und der auf der Karikatur fehlt. Koeltzsch stellt zunächst kurz das soziale und intellektuelle Umfeld der abgebildeten Schriftsteller vor (ausgenommen ihr literarisches Schaffen und ihre Ästhetik). Erwähnenswert wäre gewesen, dass auch der im übrigen weitgereiste und gebildete Hoffmeister ein spezifischer Vermittlertyp der jüngsten avantgardistischen Generation war. Die Karikaturen Hoffmeisters, der u. a. für die Tageszeitung „Tribuna“ und eine Reihe avantgardistischer Zeitschriften Beiträge lieferte und außerdem Redakteur der „Lidové noviny“ [Volkszeitung] war, begleiteten ab 1925 regelmäßig die Ausgaben von „Rozpravy Aventina“ [etwa: „Aventinum-Gespräche“, benannt nach dem gleichnamigen Verlag, Anm. d. Ü.]; er stellte ausländische und ins Tschechische übersetzte Schriftsteller in Interviews und Zeichnungen vor (vgl. die Sammlung von Gesprächen „Piš jak slyšíš“, ungefähr „Schreib, wie du hörst“, von 1931) und arbeitete in den 30er Jahren mit Prager deutschen Theatermachern zusammen. Die Autorin erweitert die erwähnte Reihe, von der sie ausgegangen ist, zuletzt um viele weitere Namen und vergleicht die einzelnen Typen der bekanntesten Vermittler miteinander – die Schriftsteller, Kritiker und Übersetzer Otto Pick, Rudolf Fuchs, Pavel Eisner, aber auch František Khol als bedeutenden Herausgeber deutscher Übersetzungen tschechischer Dramatiker. Im Unterkapitel Erfahrungen der Ambivalenz. Zum Selbstverständnis der jüdischen Vermittler stellt sie sodann verschiedene Persönlichkeiten und Kreise nebeneinander, ob sie nun der tschechisch-jüdischen Bewegung oder dem Zionismus verbunden waren oder auch der Prager liberalen jüdischen Bevölkerung angehörten.

 

Pavel/Paul Eisners kurze Selbstbeschreibung „Zuhause in seinem Niemandsland“ steht der Autorin zufolge für „die ambivalenten Erfahrungen vieler Schriftsteller und Übersetzer, die sich im Prag der Ersten Republik um eine kulturelle Vermittlung bemühten“ (S. 185), ebenso weist sie an selber Stelle auf „ein ebenso produktives wie konfliktreiches Beziehungsgeflecht tschechisch- und deutschsprachiger, jüdischer und nichtjüdischer Prager Intellektueller und Künstler“ hin. Zu den Hürden und Konflikten gehörten die begrenzte Mitgliederschaft deutscher Schriftsteller im Prager P.E.N.-Club, die Absichten der tschechoslowakischen Kulturpolitik oder die Differenzen und Spannungen zwischen den Prager und Nichtprager deutschsprachigen Autoren (beispielsweise die Kampagne gegen Rudolf Fuchs und seine Übersetzungen Petr Bezručs sowie seine Anthologie tschechischer Literatur, die im Jahre 1935 geführt wurde, oder weitere antisemitische Angriffe auf deutschschreibende jüdische Schriftsteller, die mit dem Tschechoslowakischen Staatspreis ausgezeichnet worden waren, vgl. S. 192f.).

 

Koeltzsch vergleicht die Ergebnisse ihrer Analysen mit den Schlussfolgerungen der bemerkenswerten und zugleich diskutablen Synthesen zu diesem Thema in der Monografie Prague Territories (2000) von Scott Spector, der das Schaffen von Kafkas Generationsgenossen im Kontext nationaler Konflikte vor dem ersten Weltkrieg deutete. Sie stimmt ihm in Einzelheiten zu (z. B. in Hinblick auf Rudolf Fuchs), polemisiert jedoch gegen die Idee, die Vermittler hätten vorsätzlich ein „gemeinsames ‚Projekt‘“ namens „middle nation“ (Koeltzsch, S. 251) entworfen, ohne allerdings selbst das Theoriemodell des Autors grundlegend zu reflektieren. Spector, der sich in der Terminologie auf Gilles Deleuze und Félix Guattari mit der Absicht beruft, den politischen Aspekt kultureller Produktion herauszuarbeiten, erforschte in seinem dem Übersetzen und Vermitteln gewidmeten Kapitel kein solch mannigfaltiges Material wie Koeltzsch (er konzentrierte sich auf einige der führenden Altersgenossen – Otto Pick, Rudolf Fuchs, Max Brod, Franz Werfel und Egon Erwin Kisch); er wies auf den ideologischen Ursprung ihrer Übersetzertätigkeit hin, auf deren Voraussetzungen in einer ethnisch-national eingegrenzten Identität, zugleich aber auch auf ihr Potential, den Kulturbereich umzuwandeln. Spector versichert zu Beginn, die Übersetzer und Vermittler hätten gemeinsam „a strange sort of ‚nation‘ between the hostile Czech and German front“ (Prague Territories, S. 196) konstituiert; in weiteren Passagen präzisiert er sodann, auf welche Weise die Vermittler einen fragilen sprachlichen Raum jeweils für sich selbst geschaffen hätten – „apart but not isolated from German and Czech Bohemia“ (ebda.).

 

Beim Benennen der mehrdeutigen Erfahrungen als Vermittler hilft Koeltzsch der Ansatz des Sozialhistorikers Victor Karady, der den Einsatz und die Kreativität der Juden in ihrem Bestreben um Anpassung an das Leben der europäischen Mehrheitsgesellschaften und zugleich um Bewahrung der Verbindung zur jüdischen Tradition betont. Die ambivalente Erfahrung habe zwangsläufig ihre Reflexion über eine inkohärente und labile moderne Welt sowie über persönliche und kollektive Identitäten verfeinert, was natürlich auch in der Kunst zum Tragen kam. Welchen Weg der Zugehörigkeit die jüdischen Intellektuellen in Prag auch einschlugen (Tschechojudentum, Zionismus, Sozialismus, religiöse Tradition...), sie lassen sich, wie Koeltzsch anmerkt, „dennoch kaum einem einzigen Identitätskonzept zuordnen, da sie abhängig von ihrer konkreten Lebenssituation und den politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verschiedene, parallele oder zeitlich versetzte Erfahrungen mit ihrem ‚Jüdischsein‘ machten“ (S. 199).

 

Beispiele für die sich überlappenden Identitäten von Juden führt auch Kateřina Čapková in ihrem bisher singulären Buch Češi, Němci, Židé? Národní identita Židů v Čechách 1918 až 1938 [Tschechen, Deutsche, Juden? Die nationale Identität der Juden in Böhmen 1918 bis 1938, Prag, Paseka 2005, überarbeitete Ausgabe 2013] an, auf das sich Koeltzsch in Teilen beruft; sie selbst zeigt die Vielschichtigkeit jüdischen Selbstbewusstseins in der untersuchten Zeit auf. So verfolgt sie beispielsweise die Suche nach einer Alternative zum sich ausbreitenden Nationalismus im Konzept eines gemäßigt sozialistischen geistigen Nationalismus bzw. eines „Nationalhumanismus“ bei Max Brod und Felix Weltschoder die Tätigkeiten der Mitglieder des Herder-Vereins, die 1919 die Broschüre „Die jüdische Aktion“ herausgaben und die den Prager Kulturzionismus sowie den Gedanken eines jüdischen Nationalstaats ablehnten und für ein Leben in der Diaspora eintraten, die sich jedoch weiterhin auf die Tradition beriefen, auf den „alten jüdischen Geist“. Ein neues jüdisches Selbstbewusstsein zeigte sich auch bei den Prager Mitgliedern des jüdischen Ordens B'nai B'rith, wie Gustav Flusser oder Friedrich Thieberger überzeugt vom unersetzlichen ethischen Wert der jüdischen Existenz. Die Mitglieder dieser säkularen Organisation, die sich für eine aktive bürgerliche Tätigkeit von Juden und für die Solidarität innerhalb der Gemeinschaft einsetzte sowie zeitgleich die Integration in die Mehrheitsgesellschaft förderte, vermittelten oftmals auch einem deutschen Publikum Informationen über die tschechische Kultur, beispielsweise in der Monatsschrift „B'nai B'rith“. Für diese arbeitete auch der Literaturhistoriker Oskar Donath, der die tschechische Literatur aus dem Blickwinkel ihrer Beziehung zu den Juden analysierte. Ausdruck von Donaths jüdischem Selbstbewusstsein in der Forderung von Gegenseitigkeit der jüdisch-nichtjüdischen Beziehungen, das auch für eine Reihe von Mitgliedern des B'nai B'rith-Ordens bezeichnend war und laut Koeltzsch nichts mit Zionismus zu tun haben musste, ist die Behauptung (in Polemik gegen Rudolf Fuchs über die Deutung von Bezručs Antisemitismus), dass ein Jude sich nicht davor fürchten dürfe, über Antisemitismus zu sprechen, ebensowenig davor, der „jüdischen Überempfindlichkeit“ bezichtigt zu werden. Den Juden solle es nicht gleichgültig sein, wie die Nation über sie denkt, „in deren Mitte wir leben und mit der wir im steten Verkehr stehen“ (S. 211).

 

Medium der kulturellen Vermittlung war in erster Linie die Presse, der sich der zweite Teil des Kapitels widmet. In den Periodika „Jüdischer Almanach“, „Židovský kalendář“ [Jüdischer Kalender], „Selbstwehr“ und „Židovské zprávy“ [Jüdische Nachrichten] veröffentlichten nicht nur zionistische Schriftsteller beider Sprachen, sondern auch Autoren, die der tschechisch-jüdischen Bewegung nahestanden, sowie nichtjüdische Autoren, die über jüdische Themen schrieben. Aus der breiten Palette (vor allem parteigebundener) Zeitungen und Zeitschriften, die in Prag erschienen, wählt Koeltzsch jene Periodika aus, in denen man die Bemühung um nationale Verständigung nachverfolgen kann. Nach einem Übersichtsabschnitt, in dem sie auf die Beziehungen von Konkurrenz und Zusammenarbeit hinweist, widmet sie sich den Zeitschriften „Die Wahrheit“ und „Přítomnost“ [Gegenwart], wobei v. a. die Vorstellung der ersteren von bahnbrechendem Wert ist, da ihr bisher weder Historiker noch Bohemisten oder Germanisten ihre Aufmerksamkeit geschenkt haben. „Die Wahrheit“ erschien in den Jahren 1921 bis 1938, anfänglich als Presseorgan des Europäischen Zollvereins, und bemühte sich programmatisch um die deutsch-tschechische und jüdisch-nichtjüdische Zusammenarbeit, und dies im Hinblick auf einen erweiterten, mitteleuropäischen Kontext und die dort vorherrschenden Debatten sowie den politisch-kulturellen Wandel. Der übernationale Zugriff lag auch an ihren jüdischen Gründern und Redakteuren, Adalbert (Béla, Vojtěch) Rév und Georg (Jiří) Mannheimer. Dass der Zeitschrift an Diskussion gelegen war, wird auch aus den Meinungsumfragen ersichtlich, die hier zu verschiedenen Themen erschienen, unter anderen 1925 zur nationalen Verständigung. Aus dem literarischen Bereich defilieren hier die Namen Max Brod, Oskar Baum, Karel Čapek, Alois Jirásek, František Kubka, Paul Leppin, Arne Novák, Otto Pick, Ivan Olbracht, F. X. Šalda und weitere. In den 30er Jahren verfolgte die Zeitschrift die Lage der Flüchtlinge, publizierte Texte von Emigrierten, kritisierte die Radikalisierung und den Antisemitismus in der tschechischen und deutschen Rechten innerhalb der ČSR sowie die Unfähigkeit der demokratischen Kräfte, jenen Tendenzen tatkräftig entgegenzutreten. Notwendigerweise stellte sich auch die Frage nach der Identität der deutschen Juden und inwieweit es tragbar sei, sich auch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Deutschland noch an der deutschen Kultur zu orientieren. Erneut wurde die Frage im Rahmen einer nationalen Identifikation beantwortet – der Identifikation mit dem Zionismus oder einem deutsch- bzw. tschechisch-jüdischen Konzept. Bezeichnend sind die ablehnenden Reaktionen, die Joseph Roths Essay „Der Segen des ewigen Juden“ hervorrief, der im Sommer 1934 in der Zeitschrift abgedruckt war. In ihm erinnert Roth daran, dass der Nationalismus eine moderne und höchstwahrscheinlich vorübergehende Erscheinung sei, und verficht die Freiheit der jüdischen Position zwischen den Rassen und Nationen.

 

Obwohl sie die Demokratie, die Erste Republik und T. G. Masaryk unterstützten (Mannheimer war der Verfasser eines Theaterstücks, das Masaryks kriegspolitische Tätigkeit im Schweizer Exil darstellte), gelang es den Redakteuren der „Wahrheit“ nicht, für ihr Blatt staatliche Subvention oder offene Unterstützung von Seiten der Prager Burg zu erlangen, auch konnten sie keine Kontakte zur Präsidentenkanzlei knüpfen. Trotz ihrer Loyalität mit dem tschechoslowakischen Staat geriet die jüdische intellektuelle Elite allmählich in Situationen, in denen sie sich dem tschechischen wie dem deutschen Umfeld entfremdete. Es war Richard Weiner, der schon 1918 in der Zeitschrift „Národ“ [Das Volk/Die Nation] die heikle Frage Kde moje místo? [Wo ist mein Platz?] gestellt hatte, teils als Reaktion auf die Besprechung von Otokar Fischers Drama Die Přemysliden, vor allem jedoch als „tschechischer Schriftsteller und Jude“, der eine spontane, gefühlsgebundene Zugehörigkeit zur tschechischen Kultur empfand. „Das Gefühl der Angehörigkeit irgendwohin und zu jemandem verankert den Menschen moralisch. Uns selbst nur – niemandem sonst sind wir verantwortlich für die Antwort auf die Frage nach unserem Platz. (…) Aus dem Volk auszuschließen um Besonderheiten der Abkunft willen, während zugleich die nationalen Gefühle des Betroffenen perhorresziert werden, das ist gewiss so ungerecht wie töricht. Sagt nur hundertmal, ich hätte nicht das Recht, mich einen Tschechen zu nennen; ich entgegne hundert und einmal, dass ich mir dieses Recht mit gutem Gewissen zu eigen mache“ (im vierten Band von Weiners Schriften O umění a lidech [Von der Kunst und den Menschen] finden sich zwar seine „třásničky“ [Splitter] aus dem revolutionären Prag und von der Pariser Friedenskonferenz, nicht jedoch dieser eindringliche Artikel).

 

Die national-ethnisch konstruierte Identität bedeutete die Grenze der Vermittlungsbemühungen zwischen tschechischer und deutscher, jüdischer und nichtjüdischer Kultur; laut Ines Koeltzsch gelang es nicht einmal den jüdischen Intellektuellen, die national bemessenen Grenzen und die geforderte Identifizierung zu überwinden, nicht einmal jenen, die den Völkerdialog von deutscher und tschechischer Seite aus gefördert hatten. Das zeigt auch das Beispiel der linksliberalen Wochenzeitschrift „Přítomnost“, die eine Politik der nationalen Verständigung vertrat, den Chauvinismus der Journalisten und der Prager Kommunalpolitiker kritisierte (die sich z. B. 1930 in einer Kampagne gegen deutsche Tonfilme aussprachen) und die deutsche Kultur zum organischen Teil der tschechoslowakischen Kultur erklärte, ihre Annahme zu „unserer Sache“. Auch für „Přítomnost“ gestalteten sich die „indifferente[n] Haltungen gegenüber einer Nation respektive einer Nationalkultur“ (S. 244) als problematisch. Koeltzsch beschäftigt sich mit Artikeln zu diesem Thema aus den 20er und 30er Jahren (beispielsweise Josef Kodíčeks Artikel „Židé mezi národy“ [Die Juden zwischen den Nationen] von 1933; die antijüdischen Artikel von Ferdinand Peroutka aus den Jahren 1938–1939, in denen er die Juden z. B. gleichsetzt mit einer „Vergiftung durch einen femden Stoff“, gegen den „sich jeder Organismus wehrt“ (S. 249); Milena Jesenskás dokumentarische Texte über Flüchtlinge). Im Fazit stellt die Autorin pessimistisch fest, dass „die Intellektuellen trotz ihrer Reflexionsleistungen die nationalistischen Diskurse und politischen Machtverhältnisse ihrer Zeit nur bedingt zu transzendieren vermochten. Sie beteiligten sich [...] an der diskursiven Konstruktion sprachlich-nationaler und/oder ethnisch-kultureller Gemeinschaften“ (S. 251). Von Statistikspezialisten und Kommunalpolitikern unterschieden sie sich dadurch, dass sie die Widersprüchlichkeit und Ambivalenz nationaler Identitätskonstrukte thematisierten.

 

Der mangelnde Erfolg der großen kulturell-politischen Ziele schmälert nicht den Wert der Vermittlungsbemühungen, deren Auswirkung meistens verschieden ist von ihrem programmatischen Rahmen – konkreter und oftmals überraschend. Dieser Einsatz und sein Wirken bleiben Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses, und es ist notwendig, sie auch in ihren literarisch-sprachlichen Zusammenhängen zu erforschen (z. B. den Einfluss der Übersetzung, des Zeitschriftenkontextes, der Übersetzerpersönlichkeit auf die Veränderung des Textes und seine Interpretationen, die Beziehung zwischen den vermittelten Texten und Autoren sowie dem tschechischen bzw. deutschen Literaturkontext u. Ä.). Nach 1918 kam es zur großen medialen Pluralisierung und Differenzierung; es gab eine breite Gruppe von Übersetzern und Dolmetschern, von denen nicht alle Juden waren und eine ganze Reihe sich kulturell nicht an der deutschen Kultur (sei es der in- oder der ausländischen) orientierte. Deutlich waren hier anglo- und frankophile Stimmen. Otokar Fischer konstatierte in seiner Vorlesung „Židé a literatura“ [Die Juden und die Literatur] aus dem Jahre 1933, dass gar keine Reinform nationaler Literatur existiere, da künstlerisches Schaffen aus verschiedensten Inspirationen und Zusammentreffen hervorgehe. Dem Thema des Fremdlings im eigenen Land und der eigenen Kultur, das typisch ist für Fischer und andere jüdische Vermittler, widmet sich aus anderer Perspektive aktuell eine Studie von Petr Málek, die auf die existentielle Bedeutung des Schreibens für Richard Weiner in der Lage einer unmöglichen Verwurzelung hinweist; im Werk Weiners „findet die universelle Fremde der Moderne ihren literarischen Ausdruck“, und dies „auf der Ebene literarischer Mittel und Verfahren“ (Petr Málek, „‚Kde moje místo?‘ Richard Weiner a otázka židovské identity: moderní umělec jako cizinec“ [„Wo ist mein Platz?“ Richard Weiner und die Frage der jüdischen Identität: der moderne Künstler als Fremder], in: Kultura a totalita. Národ [Kultur und Totalität. Die Nation], hrsg. von Ivan Klimeš und Jan Wiendl, Prag, FF UK v Praze 2013, S. 323–353). Weitere literaturwissenschaftliche Forschungen zu den Äußerungen jüdischer Kreativität und Reflexivität in der Kunst könnten die These von Ines Koeltzsch, nach der die Transzendenz nationaler Identifikationen unmöglich ist, weiterentwickeln und einen allgemein sowie kultur- und sozialhistorischen Blickwinkel ergänzen.

 

Übersetzung von Martin Mutschler

 


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