Es schreibt Olga Zitová

(28. 4. 2014)

Das Phänomen des Judentums in den historischen böhmischen Ländern und in der ersten Tschechoslowakischen Republik weckt Interesse nicht nur bei tschechischen Forschern wie Kateřina Čapková (ihr Buch Češi, Němci, Židé [Tschechen, Deutsche, Juden] wurde 2013 im Paseka-Verlag schon zum zweiten Mal aufgelegt, 2012 erschien es auf Englisch). Auch ausländische Wissenschaftler, z. B. Scott Spector (Prague Territories, 2000) und Hillel Kieval (The Making of Czech Jewry, 1988, tsch. 2012 – vgl. das „Echo“ vom 21. 3. 2013) haben sich in den letzten Jahren intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Einen neuen bedeutenden Beitrag zur Diskussion bringt Dimitry Shumskys Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900–1930 (Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht 2013), übertragen ins Deutsche aus dem Hebräischen.

 

In einem Kollektivportrait verfolgt Shumsky die ideelle Entwicklung ausgewählter Führungspersönlichkeiten des Prager Zionismus zwischen 1900–1930, v. a. Max Brod, Hugo Bergmann, Leo und Hugo Herrmann, Hans Kohn und Robert Weltsch. Diese Schriftsteller, Journalisten und Philosophen standen dem Kulturzionismus nahe, wie er durch den Hochschulverein „Bar Kochba“ repräsentiert wurde. Gleichzeitig formulierten sie direkt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs innerhalb der zionistischen Bewegung eine klare Idee des binationalen jüdisch-arabischen Staates. Zu ihnen wird hier auch Franz Kafka gerechnet, obwohl er seine Einstellung zum Zionismus niemals eindeutig definierte. Shumsky argumentiert, Kafka habe sich an der Vereinstätigkeit beteiligt und die „arabische Frage“ war ihm nicht völlig fremd. Die letztgenannte These versucht er am Ende des Buches in einer Analyse der Erzählung Schakale und Araber zu belegen.

 

Diese Persönlichkeiten fasst Shumsky unter dem Begriff „tschecho-deutsche Juden“ zusammen und ersetzt dadurch Kievals Bezeichnung „deutschsprachige tschechische Juden“. Auf diese Weise grenzt er sich vom Ethnozentrismus ab, der seiner Meinung nach in der gegenwärtigen Geschichtsschreibung überwiegt (Kieval bewertet er als einen tschechozentrischen, Spector und Ruth Kestenberg-Gladstein als germanozentrische Autoren). Laut Kestenberg-Gladstein würden z. B. Brod, Weltsch, Bergmann und Kohn zu den deutschen Juden gehören. Shumsky macht jedoch wiederholt auf ihren natürlichen tschechisch-deutschen soziokulturellen Hintergrund aufmerksam. Diese Juden unterhielten gezielt Beziehungen sowohl mit der deutschenals auch mit der tschechischen Kultur, lebten mit deutschen und tschechischen Nachbarn zusammen, besuchten freiwillig in den deutschen Schulen Tschechischunterricht und gaben später Tschechisch häufig als ihre Umgangssprache an. Er weist so darauf hin, dass die lineare These über den Weg der Prager Juden zum Zionismus, der seinen Anfang in der deutschen Assimilierung haben soll, zumindest im Falle dieser markanten Persönlichkeiten an Relevanz verliert.

 

Der doppelte soziokulturelle Hintergrund und die damit zusammenhängende Zweisprachigkeit (die der Autor nicht flächendeckend voraussetzt, z. B. Paul Kisch, Bruno Kafka und Fritz Mauthner bezeichnet er als „deutsche Juden“; Alois Zucker, Viktor Vohryzek und Eduard Lederer hingegen als „tschechische Juden“) hatten laut Shumsky wesentlichen Einfluss auf die ideologische und politische Denkweise der tschecho-deutschen Juden gehabt. Schon vor und auch während des Ersten Weltkriegs hat sich im Verein „Bar Kochba“die Idee eines multinationalen Österreich-Ungarns gebildet. Die anhaltende ungarisch-österreichische Hegemonie wollte man durch ein föderatives Zusammenleben der einzelnen Völker (einschließlich der Juden) ersetzen, die einerseits eine gewisse Autonomie genössen, andererseits in einem ununterbrochenen soziokulturellen Dialog lebten. Shumsky macht auf einen engen Zusammenhang mit dem Bohemismus und Landespatriotismus Bernard Bolzanos aufmerksam, mit dessen Schaffen sich Hugo Bergmann beschäftigte. Voraussetzungen für ein solches Zusammenleben seien laut Bergmann die Rekonstruktion einer gemeinsamen böhmisch-jüdischen Vergangenheit und eine neu definierte Beziehung zwischen Juden, Tschechen und Deutschen. So würden die Juden in einer Diaspora ohne Exil leben, zwar außerhalb von Palästina, jedoch ohne jegliche negativen, mit Exil verbundenen Konnotationen.  

 

Anstatt eines von tschecho-deutschen Juden bevorzugten Nationalitätenstaates entstanden jedoch nach dem Ersten Weltkrieg einzelne Nationalstaaten. Den daraus folgenden Dialogmöglichkeiten und der Gründung der Tschechoslowakei als multikulturellen Staates stand Hugo Bergmann eher skeptisch gegenüber und ging deshalb bald nach Palästina, wo für ihn auch weiterhin die Hoffnung bestand, dass es möglich sei, den Universalgedanken eines dialogischen Zusammenlebens von unterschiedlichen Kulturen zu verwirklichen – anstatt das der Deutschen und Tschechen das mit palästinensischen Arabern. Auch dort akzentuierte Bergmann die notwendige Zweisprachigkeit, das heißt Arabischunterricht in jüdischen Schulen, und die erforderliche Suche nach einer gemeinsamen Geschichte und Mythologie.

 

Als Historiker begibt sich Shumsky auch auf das Feld der Literatur und findet Parallelen zwischen Max Brods Roman Ein tschechisches Dienstmädchen von 1909 und den Nachkriegsüberlegungen Hugo Bergmanns (v. a. seiner Kritik an der überstürzten zionistischen Besiedlung Palästinas). Brod schöpfe, so Shumsky, aus dem ihn umgebenden doppelten kulturellen Milieu und erfasse mit seinem literarischen Text das Wesen des tschecho-deutschen Judentums, noch bevor er zum Zionismus selbst gefunden habe. Der Protagonist des Romans verkehrt ausschließlich in den deutschen Kreisen Prags und hat nur eine ungefähre Ahnung von dem Leben der tschechischen Bevölkerung. Er ist überzeugt, die Tschechen seien rückständig, ans Land gebunden und von den urbanisierten und industrialisierten Deutschböhmen mental und physisch entfernt. Erst die Begegnung mit einem sinnlichen tschechischen Dienstmädchen zwingt ihn zum Überdenken dieser Vorstellung und zum gründlicheren Kennenlernen der anderen Kultur. Der Romanprotagonist erkennt, dass die Tschechen eine ähnliche historische Entwicklung wie die anderen Völker durchlaufen, er fängt an, sie als begabte Menschen zu sehen, nimmt das nationale Ringen zwischen Tschechen und Deutschen wahr. Ähnlich wie in Brods Roman Deutsche Vorurteile gegenüber Tschechen haben (ihnen Rückständigkeit und Bäuerlichkeit zuschreiben) beziehungsweise ihre Existenz gar übersehen, behandeln Zionisten, so Shumsky in Anlehnung an Bergmanns Überlegungen, die Araber: Bergmann kritisierte territoriale Ansprüche der Herzl-Zionisten, die massenhaft Land gekauft und dabei die Anwesenheit der palästinensischen Arabern ignorierten, bzw. von der eigenen orientalisch-europäischen Position auf sie als auf ein rückständiges Volk herabsahen.

 

Den Gedanken eines gemeinsamen jüdisch-arabischen Staates wollte Hugo Bergmann in Palästina durchsetzen, nachdem die Idee des multikulturellen föderativen Österreich-Ungarns gescheitert war. Das Konzept war jedoch gleich. Max Brod hingegen blieb in Prag, wo er sich um die Verwirklichung der Vermittlerrolle der Juden zwischen Deutschen und Tschechen bemühte. Dem tschecho-deutschen Zionismus in Shumskys Auffassung war die Idee des Territorialismus Herzl'scher Prägung fremd. Persönlichkeiten wie Hugo Bergmann oder Max Brod strebten eher das dialogische Zusammenleben mit anderen Völkern an, und zwar ungeachtet des konkreten Gebiets. Auch für Hans Kohn war Dialog eine der Voraussetzungen des sog. „wahren Zionismus“. Überzeugend belegt der Autor auch seine These der kontinuierlichen ideellen Entwicklung führender Persönlichkeiten des Prager Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg und danach, als die meisten von ihnen die Tschechoslowakei für immer verließen und ins Ausland gingen, am häufigsten nach Palästina. Die Zweisprachigkeit, die sie aus den böhmischen Ländern mitgebracht hatten, sei zur Grundlage der Idee des gemeinsamen Zusammenlebens und gegenseitigen kulturellen Begegnens geworden. Eine nähere Untersuchung würde die Frage verdienen, wie die Gründung des Staates Israel von den tschecho-deutschen Juden wahrgenommen wurde. Shumskys Überlegungen zufolge müsste sie eine definitive Enttäuschung und das Scheitern von all ihren Hoffnungen auf einen Nationalitätenstaat bedeutet haben.  

 

Übersetzung Katka Ringesová

 


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