Es schreibt Manfred Weinberg

(Echos, 31. 3. 2014)

Manfred Weinberg

Noch einmal zu Max Brods „Der Prager Kreis“

 

In der vor einigen Wochen in diesen „Echos“ von Michal Topor besprochenen Neuausgabe Ausgewählter Werke von Max Brod (siehe das „Echo“ vom 3. 2. 2014) sind zehn Bände vorgesehen; konkret angekündigt sind auf der Homepage des Wallstein-Verlags bisher allerdings nur sechs, von denen fünf dem erzählerischen Werk Brods gelten und nur ein Band literatur- und kunstkritische Arbeiten versammelt. Man liest dort zur Vorstellung des Autors: „Max Brod (1884–1968) war vor und nach dem Ersten Weltkrieg einer der bekanntesten Vertreter der Prager deutschsprachigen Literatur, heute ist er vor allem als Herausgeber der Werke Franz Kafkas berühmt“. In einem weiteren „Echo“ hat Eva Jelínková das Fehlen einer „komplexe[n] neue[n] Monographie, die das literarische Leben im gesamten Raum Böhmens, Mährens und Schlesiens erfassen würde“, reklamiert (ein Missstand, dem übrigens das zum Frühjahr 2016 im Metzler-Verlag erscheinende Handbuch zur deutschsprachigen Literatur in den böhmischen Ländern abhelfen wird). Man kann das noch zuspitzen: Nicht einmal für das (anders als die Literatur des „ganzen“ böhmischen Kulturraums) selbst der so genannten Inlands-Germanistik und einer breiteren Öffentlichkeit bekannte Phänomen der „Prager deutschen Literatur“ findet sich eine aktuelle Darstellung auf dem neuesten Stand der Forschung. Dies hat allerdings auch damit zu tun, dass trotz aller Bekanntheit der Bezeichnung eher unklar ist, was damit überhaupt benannt sein soll.

 

Georg Escher hat darauf hingewiesen, dass sich zwischen 1896 und 1914 „in der deutschsprachigen wie auch tschechischen Literaturkritik Ausdrücke wie ‚Prager Dichter‘, ‚Prager Roman‘, ‚deutscher Dichter/Roman aus Prag‘, ‚deutsche Literatur Prags‘“ häuften („‚In Prag gibt es keine deutsche Literatur‘. Überlegungen zu Geschichte und Implikationen des Begriffs Prager deutsche Literatur“, in: Peter Becher, Anna Knechtel [Hg.]: Praha–Prag 1900–1945. Literaturstadt zweier Sprachen, Passau 2010, S. 197–211, hier: S. 201). Was an diesen Formeln allerdings auffällt, ist das Fehlen des bestimmten Artikels; dessen Applikation auf das Phänomen verdankt sich tatsächlich erst der Konferenz über „die Prager deutsche Literatur“ unter dem Titel Weltfreunde, die im Jahr 1965 in Liblice stattfand. Kurz danach erschien Max Brods Buch Der Prager Kreis (1966). 1976 hat dann H. G. Adler mit seinem Essay über Die Dichtung der Prager Schule das Angebot der ‚Fassungen‘ komplettiert (Neuausgabe: Wuppertal 2010). Während sich der Begriff der „Prager Schule“ nicht durchgesetzt hat, koexistieren heutzutage die Begriffe „Prager deutsche Literatur“ und „Prager Kreis“ (wenn auch, wie zu zeigen sein wird, zu Unrecht).

 

Die später in der Forschung zur Prager deutschen Literatur vergessene Grundlage der Weltfreunde-Konferenz war der damals herrschende Kommunismus, weshalb es damals erst einmal einer Rechtfertigung bedurfte, warum man überhaupt über bürgerliche, der Dekadenz verdächtige Autoren sprechen wollte. Dem vermissten Klassenstandpunkt begegnete man, indem man diese Autoren als Inbegriff einer humanistischen Haltung und die von ihnen hervorgebrachte Literatur als absolute Ausnahme vorstellte. Die Etablierung einer, wie Eduard Goldstücker als Initiator der Tagung formulierte, „Literatur von Weltinteresse“ („Die Prager deutsche Literatur als historisches Phänomen“, in: ders. [Hg.], Weltfreunde. Konferenz über die Prager deutsche Literatur. Berlin, Neuwied 1967, S. 21–45, hier: S. 30)gelang aber nur im (was die umfassende ‚Verrechnung‘ mit Prag angeht: für die ersten zwei durchaus fragwürdigen) Zeichen der eben weltberühmten Autoren Rilke, Werfel und Kafka, weshalb Goldstücker die eigentliche Prager deutsche Literatur auch erst mit dem Jahr 1894 als dem Erscheinungsjahr des ersten Gedichtbandes Rilkes beginnen lässt, was alle vorhandenen Kontinuitäten zurück ins 19. Jahrhundert zumindest ‚abdunkelt‘. Goldstücker stellt zudem der humanistischen, antichauvinistischen Literatur Prags die vermeintlich durchgängig nationalistische, gar präfaschistische sudetendeutsche Literatur gegenüber. Zuletzt ‚unterschreibt‘ er Pavel Eisners Ansicht, die Prager deutsche Literatur sei „in einem unnatürlichen, insularen, von einem gesunden Volksganzen abgeschlossenen Milieu entstanden und ihre Schöpfer hätten auf diesem deutschsprachigen Inselchen gelebt wie in einem dreifachen Ghetto: einem deutschen, einem deutsch-jüdischen und einem bürgerlichen“ (S. 27). Diese Thesen wurden in der Zeit des Kommunismus aufgestellt; so liegt der eigentliche Skandal auch weit eher in der schlichten Übernahme dieser ‚Fassung‘ durch die so genannte „Inlands-Germanistik“, die nicht einmal nach dem Wegfall der ideologischen Beschränkungen 1989 dieses Modell einer Überprüfung unterzog.

 

Wie anders Max Brod das Phänomen profiliert, zeigt allein schon der Blick auf die Einteilung seines Buchs (im Weiteren zitiert nach der Taschenbuchausgabe: Frankfurt a. M. 1979). Dessen erstes Kapitel trägt den Titel „Ahnensaal. Versuch einer historischen Einordnung“ (S. 9ff.; hier finden sich etwa Ausführungen zu Marie von Ebner-Eschenbach und Charles Sealsfield), gefolgt von Anmerkungen zur „drittletzten Generation vor dem ‚engeren Prager Kreis‘“ (S. 39ff.; mit Ausführungen u. a. zu Alfred Klaar, Fritz Mauthner und Auguste Hauschner) und zu den „beiden letzten Halbgenerationen vor der Zeit des ‚engeren Prager Kreises‘ (S. 80ff.; gemeint sind hier die Generation um den Künstler-Verein Concordia und die so genannte „Frühlings-Generation“ resp. Jung Prag); dann erst folgt das Kapitel zum „engere[n] Kreis“ (S. 99ff.; dieser meint die „freundschaftliche Verbindung“ von „Franz Kafka, Felix Weltsch, Oskar Baum“ und Max Brod, zu der sich nach Kafkas Tod noch Ludwig Winder gesellte [S. 39] und gilt für die Jahre „etwa von 1904 bis 1939“ [S. 41]), dem sich wiederum Ausführungen zum „weitere[n] Kreis und seine[n] Ausstrahlungen“ (S. 169ff.) anschließen.

 

Der „engere Prager Kreis“ erscheint so als diachroner Zielpunkt wie synchrones Zentrum (der Entwicklung) der Literatur in Prag, aber – und das wird selten erwähnt – ihm gilt nur etwa ein Drittel der Ausführungen; die restlichen zwei Drittel entfallen auf seine Vorgeschichte wie sein zeitgleiches Umfeld. Das heißt schon einmal: Von einer streng abgrenzenden Singularisierung des Phänomens kann bei Brod nicht die Rede sein! So schreibt Brod auch, dass er es nicht für seine Aufgabe halte, „der Literaturgeschichte der Sudetendeutschen eine weitere Arbeit dieser Art hinzuzufügen“; einige der sudetendeutschen Autoren „(wie Mühlberger, Dietzenschmidt, Walter Seidl u. a.)“ hätten aber im Kontakt mit dem Prager Kreis gestanden, doch auch ansonsten habe es unter diesen Autoren „hervorragende Lyriker“ und „gute Erzähler“ gegeben (S. 74). Dies ist alles andere als eine hierarchisierende Separierung von Prager deutscher und sudetendeutscher Literatur. Entsprechendes gilt für die These vom „dreifachen Ghetto“, die Brod „ganz entschieden ab[lehnt]“, insofern sie den „Prager Kreis als unnatürlich isoliert, als von einer ‚dreifachen Ghettomauer‘ gegen die Welt hin abgesperrt darstellt. Diese Theorie ist durchaus unfundiert (und sachlich unrichtig, ja irreführend)“ (S. 41). Schließlich heißt es: „Mit den Tschechen hielten wir gute Nachbarschaft und die tschechischen Dichter liebten wir; [...]. Wir alle beherrschten die tschechische Sprache vollständig, die uns nicht weniger als die deutsche sagte“ (S. 207).

 

Brod zeichnet also in seinem Prager Kreis, den Peter Demetz in seinem Nachwort zur zitierten Ausgabe präzise eine „erlebte Literaturgeschichte, nicht unpersönliche Chronik“ (S. 244) nennt, eine sich aus der Vergangenheit herschreibende und in seiner Gegenwart vielfältig vernetzte Prager deutsche Literatur und somit alles in allem ein deutliches Gegenbild zu dem Bild Goldstückers. Wenn man meint, weiterhin den Liblicer Begriff aufgrund der ihm zugewachsenen Üblichkeit verwenden zu müssen (und diesem Modell die Rede vom „Prager Kreis“ integrieren zu können), sollte einem also immerhin klar sein, dass es sich um einander ausschließende Modellierungen handelt, von denen, um zu einer ersten Schlussfolgerung zu kommen, Brods Modell deutlich besser zu den Ergebnissen auch aktueller historischer Forschungen passt, die Ines Koeltzsch in dem (wenngleich doppeldeutigen) Titel ihrer anregenden Dissertation zur Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag 1918–1938 Geteilte Kulturen (München 2012) auf den Punkt bringt.

 

Dass man allerdings Brods Ausführungen nicht einfach umfassend in eine aktuelle Darstellung der deutsch geschriebenen Literatur in Prag auch nur der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts übernehmen kann, hängt wiederum mit seinem einseitigen Kafka-Bild zusammen und damit, dass er eine ‚andere‘ Einheit dieser Literatur propagiert. Zu Kafka liest man: „Der menschlich-universalistische, humanistisch gerichtete Zionismus bietet den Schlüssel zu vielen (nicht etwa allen) Seiten von Kafkas Eigenart“ (S. 117); dagegen sind Brod andere Zugänge zu Kafkas Werk „bizarre[] Fehldeutungen“ (S. 109) oder eine „clowneske[] Kafka-Sicht“ „heutige[r] Kafkologen“ (S. 110). Zudem wird Kafka als „große[r] Realist“ (S. 125) gefeiert – und diese Diagnose gleich für den engeren Prager Kreis verallgemeinert: Sie alle seien „Adepten des absoluten oder transzendentalen Realismus“ (S. 204) gewesen; später liest man noch von einem „humanen Realismus“ (S. 228). Hatte Brod anfänglich seine Begriffsschöpfung noch damit gerechtfertigt, die Bezeichnung „Prager Kreis“ sei „lockerer, schwankender, verschwimmender“ (S. 9) als „Prager Schule“, so unternimmt er hier doch seinerseits die Etablierung einer strikten Einheitlichkeit, der man heute so nicht mehr folgen kann.

 

Das gilt aber nicht für seine grundsätzliche Modellierung der deutschen Literatur Prags. Ein Neuansatz in der Erforschung dieses Phänomens, wie er an der geplanten Kurt Krolop-Forschungsstelle zur deutsch-böhmischen Literatur an der Karls-Universität Prag vorgesehen ist (zu deren Arbeitsprogramm näher in: brücken, N. F., 20 [2012], S. 169–185; siehe auch den Schluss des tschechischen „Echos“ vom 19. 6. 2013) kann sich durchaus auf Brods ‚Zeugenaussage‘ berufen, weshalb auch eine Neuausgabe des Prager Kreises dringend wünschenswert ist.

 

Jörg Krappmann hat in seinem „Echo“ beklagt, dass die neuesten österreichischen Literaturgeschichten die Literatur aus Böhmen und Mähren nur noch bedingt zu ihrem Gegenstandsgebiet rechneten und damit der „Forschung  zu den inter- und intrakulturellen Bedingungen des Kulturraums Böhmen und Mähren [...] einen Bärendienst erwiesen“. Nun sollte man sich von den Problemen der Literaturgeschichtsschreibung einer heute kleinen Nation nicht entmutigen lassen. Meine Erfahrungen bei der Vorstellung eines neuen Blicks auf die deutschsprachige Literatur in den böhmischen Ländern an universitären Instituten der Inlands-Germanistik lässt mich zuversichtlicher sein: Es liegt schlicht an den VertreterInnen der Germanistik in Tschechien und ihrer Bereitschaft, den KollegInnen auf der ‚Höhe‘ ihrer Theorie- und Methodendiskussionen das Phänomen nahezubringen und sie (sowie die interessierte Öffentlichkeit) auf diese Weise von der Bedeutung dieses Themas zu überzeugen; davon wird in mancherlei Hinsicht auch eine neue, adäquate Fassung der „Prager deutschen Literatur“ profitieren. 

 


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