Es schrieb Rudolf Wolkan

(3. 3. 2014)

In der Sparte „Es schrieben“ veröffentlichen wir einen Erinnerungstext, in dem Rudolf Wolkan (21. 7. 1860 in Přelouč/Prelautsch bei Pardubice/Pardubitz – 16. 5. 1927 in Wien), damals schon emeritierter Professor der Wiener Universität, mit einem Abstand von fast fünfzig Jahren und nur wenige Monate vor seinem Tod auf seine Studienzeit in Prag (1879–1882) zurückblickt. Wolkan, der das Gymnasium in Česká Lípa (Böhmisch Leipa) absolviert hatte, wechselte 1889 von seinem zweifachen Vertretungsunterricht (am Deutschen Obergymnasium der Kleinseite in Prag und der Deutschen Staatsgewerbeschule in Reichenberg) auf die Stelle des Universitätsbibliothekars im bukowinischen Czernowitz; hier habilitierte er sich 1896 und hier schrieb er, „fern der Heimat, aber stets in geistiger Verbindung mit ihr, mehrere Werke, die sich mit der Geschichte und Literatur Deutschböhmens befassten“, wie es der Verfasser des Nachrufs in der „Deutschen Zeitung Bohemia“ (vom 17. 5. 1927) formulierte.

 

Es waren eben diese Werke (vor allem die drei Bände von Böhmens Antheil an der deutschen Litteratur des XVI. Jahrhunderts, Prag: A. Haase 1890, 1894), die bereits in der letzten Dekade des 19. Jahrhunderts reichlich diskutiert worden waren – und zwar sowohl in den tschechischen wie auch den deutschböhmischen historiographischen Debatten. So stellte beispielsweise Josef Truhlář Ende 1891 in der Besprechung des Buches Das deutsche Kirchlied der Böhmischen Brüder im XVI. Jahrhunderte (Prag 1891) die Grundlagen von Wolkans Arbeit infrage, gleichzeitig eine kritische Diagnose des Autors liefernd: „H[err] Wokan arbeitet, so scheint es, überhaupt gar zu sehr schnell, ihm gelingt es nicht, aus der literaturhistorischen Forschung Gemeinplätze auszuweisen, daraus resultieren alle Fehler und Mängel in seinen literaturwissenschaftlichen Arbeiten, die er sicherlich vermeiden könnte, würde er seinem Leib und seiner Seele etwas mehr Ruhe gönnen. Uns wie auch seinen Landsleuten kann die literaturwissenschaftliche Tätigkeit, der er sich hingegeben hatte, nur dann von Nutzen sein, wenn sie mit einem genauso guten tschechischen literaturhistorischen Apparat versehen wird, wie sie mit einem deutschen versehen ist – doch dafür sind Fleiß, Zeit und nicht zuletzt kühles Gemüt unentbehrlich“ (Časopis Muzea království českého [Zeitschrift des Museums des Königreichs Böhmen] 65, 1891, Bd. 2, S. 527–532, hier S. 531–532).

 

Das tschechische Misstrauen begleitete Wolkans gelehrte Tätigkeit – wahrscheinlich nicht ganz zu Unrecht – auch in den nächsten Jahrzehnten (inzwischen war er 1902 nach Wien an die dortige Universitätsbibliothek gegangen, wurde 1908 zum außerordentlichen Professor für Neuere deutsche Literatur ernannt und verblieb in diesem Amt bis 1923). Auch sein Buch Geschichte der deutschen Literatur in Böhmen und in den Sudetenländern (Augsburg 1925), mit dem Wolkan an seine vorherigen Versuche, die Entwicklungen der deutschsprachigen Literaturin Böhmen aufzuzeichnen, anknüpfte, ist in der tschechischsprachigen Fachpresse nicht sonderlich positiv aufgenommen worden. Arnošt Kraus widmete dem Buch eine ironische Auflistung seiner Defizite und Irrtümer, und Vojtěch Jirát zweifelte in seiner ausführlichen Rezension (Časopis pro moderní filologii [Zeitschrift für moderne Philologie] 13, 1926/1927, Nr. 1, Dezember 1926) Wolkans Darlegungen in mehrfacher Hinsicht an. Nach seiner Emeritierung widmete sich Wolkan, so der Nachruf in „Národní politika“ ([Nationale Politik] 17. 5. 1927), mit großem Eifer der Politik: „Er war ein eifriger Agitator der großdeutschen Bewegung und Fürsprecher des Zusammenschlusses Österreichs mit Deutschland.“ Bis heute fehlt eine umfassende und umsichtige Biografie Wolkans, dabei würde eine solche Fallstudie gewiss in vielerlei Hinsicht dazu beitragen, die Parameter des mitteleuropäischen intellektuellen – nicht nur des historiographischen – Diskurses kennen zu lernen.

 

Rudolf Wolkans Erinnerungen an die studentischen Vereinigungen (Burschenschaften), den Verein Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag und an das Studium an der Prager Universität kurz vor ihrer Teilung wurde in der Beilage zum hundertjährigen Jubiläum des Tagblattes „Bohemia“ abgedruckt (Deutsche Zeitung Bohemia, vom 30. 1. 1927, Beilage „Erinnerung und Erlebnis“ zur Jahrhundert-Ausgabe der Bohemia, S. 1).

 

mt, Übersetzung Martina Lisa

 

 

Prof. Dr. Rudolf Wolkan (Wien): Student in Prag

 

Prag war, als ich seine Universität 1879 bezog, dem Anscheine nach eine ruhige Provinzhauptstadt, in der es zwar innerlich gären mochte, was aber kaum nach außen in die Erscheinung trat. Wenige Bürger mochten sich träumen lassen, sie könnten eines Tages die Herren eines selbständigen tschechischen Staates sein; nur den Kaiser Franz Joseph in ihrer Stadt zum Könige von Böhmen gekrönt zu sehen, war ihr kühnster Wunsch. Prag war wohl zum größten Teile tschechisch, aber man merkte es kaum, zur Mittagszeit hörte man auf der Kasinoseite des Grabens fast nur deutsch sprechen und bat man jemanden auf der Gasse in gebrochenen Tschechisch um Auskunft, konnte man sicher sein, eine freundliche deutsche Antwort zu erhalten. Auch der „buršák“ erregte mit seiner farbigen Kappe noch kein allgemeines Aergernis und konnte selbst in ausgesprochen tschechischen Lokalen, wie „U Primasů“, in Kappe und Band erscheinen. Ich war damals in die Burschenschaft „Teutonia“ eingesprungen; in den ersten Bänken meines Hörsaales an der philosophischen Fakultät saßen mehrere Teutonen, mit denen ich bald in nähere Berührung gekommen war und die mich aufforderten, als Fuchs bei ihnen einzutreten; unter ihnen vor allem Rafael Pacher, der spätere Staatssekretär, damals das geistige Oberhaupt der „Teutonia“, dessen witzige und oft sehr scharfe politische Gedichte, die sich besonders gegen den Ministerpräsidenten Taaffe richteten, rasch die Runde durch die ganze nationale Studentenschaft machten; später gesellte sich uns der jüngere und schon damals stets zum Angriffe gegen jeden Gegner bereite K. H. Wolf zu, der der Burschenschaft „Ghibellinia“ angehörte, an deren Gründung sich die „Teutonia“ beteiligt hatte; wie die „Ghibellinen“ sich fast ganz aus Reichenberg rekrutierten, so die „Carolen“ aus Leipa, die „Teutonen“ zum [Teil] auch aus Leipa, teils aus Leitmeritz.

 

Die deutsche Studentenschaft war damals noch wenig national; die Burschenschaften „Teutonia“ und „Carolina“ begannen den Kampf mit der Absicht die „Lese- und Redehalle der deutschen Studenten“, die einen wichtigen Mittelpunkt der Studentenschaft bildete, national umzugestalten. Sie stand damals unter der farblosen Leitung von Franz Studniczka, heute Professor an der Universität Leipzig, der mit Dr. Salz aufs heftigste die bisherige Haltung der Halle gegen die scharfen Angriffe der Nationalen verteidigte, zu denen der feinsinnige Dr. Robert Schnürdreher, der stürmische Wolf Raudnitz und der Satiriker Emil Kuh gehörten, von denen namentlich der letztere den Gegner mit Witz und Ironie scharf angriff. Besonders die Corps „Albia“ und „Austria“ verteidigten ihre parteilose Haltung, bis ihnen der Tag von Kuchelbad endlich die Augen öffnen sollte, an dem das Corps „Austria“ und vor allem ihr Fuchsmajor Prinz Thurn-Taxis ihre tschechenfreundliche Gesinnung bitter zu büßen bekamen. Mit diesem Tage war der Sieg der nationalen Partei entschieden, deren Kampf durch die „Bohemia“ und ihren Redakteur Josef Willomitzer, dessen Lied „Wir schielen nicht, wir schauen“ stürmische Begeisterung geweckt hatte, wie durch die „Montagsrevue“ tatkräftig unterstützt wurde. Die Burschenschaften zogen als Sieger in die „Halle“ ein, das schwarz-rot-goldene Band wurde das Abzeichen ihrer Mitglieder; an ihre Spitze trat Friedrich Adler.

 

Unter Adlers Leitung erlebte die „Halle“ eine Glanzzeit. Die damaligen Rektoren der beiden Hochschulen, Mach und Kick, wie die Professoren Hering, Knoll und andere traten zu ihr in nähere Beziehungen, das geistige Leben in ihr nahm einen neuen, bedeutungsvollen Aufschwung; an den Redeabenden maßen sich die tüchtigsten Kräfte der „Halle“, ihnen voran Adler, der damals seine Uebersetzungen aus dem Spanischen uns vortrug.

 

Private Beziehungen der Professoren zu den Studenten, wie sie in segensreicher Weise Deutschland kennt, gab es in Prag nur selten, wenigstens an der philosophischen Fakultät. Nur der Germanist Prof. Kelle, der aus Bayern gekommen war, aber an der philosophischen Fakultät scharfe Gegner besaß, lud auserwählte Hörer Mittwoch nachmittag zu sich. Bei Max Grünert hörte ich orientalische Sprachen, freute mich am Wohlklang der Dichtungen Firdusis war aber oft mit Friedr. Adler und Rudolf Dvořák, dem nachmaligen Orientalisten an der tschechischen Universität, das ganze Auditorium. Auch Sanskrit studierte ich bei Alfred Ludwig, von dem, vielleicht weil er kein Doktorat besaß die Sage ging, er sei ursprünglich Schneider gewesen und habe sich als Autodidakt weiter gebildet, einem geistreichen und liebenswürdigen Manne, der nur leider seine Hörer als vollendete Kenner der indischen Sprachen betrachtete. Seine Grammatik des Sanskrit war klar und verständlich; als er aber im 2. Semester das Darmacastra zu erklären begann, zu welchem Behufe er uns die von ihm selbst lithographierten Texte mitbrachte, griff er einzelne Worte aus dem Zusammenhange heraus und erklärte uns, wie sie in den einzelnen indischen Dialekten hießen, ohne uns aber zu sagen, was sie im Deutschen bedeuteten; auch gab er uns keine Uebersetzung des ganzen Satzes. Wir selbst aber konnten uns nicht helfen, da es nur ein einziges Sanskritlexikon auf der Universitätsbibliothek gab und dieses Ludwig entlehnt hatte; so war es begreiflich, wenn sich die wenigen Hörer, die er hatte, bald verliefen und er schließlich allein blieb.

 

Am eifrigsten aber besuchte ich die germanistischen Vorlesungen. Das lebhafte, bewegliche und scharfgeschnittene Gesicht Kelles, seine stark betonte, reichsdeutsche Aussprache und seine angeregte und anregende Sprechweise machten ihn zu einer der auffallendsten Erscheinungen an der Universität. in späteren Semestern konnten wir uns freilich nicht eines heimliches Lächelns erwehren, wenn er jedes alt- oder mittelhochdeutsche Kolleg mit den Worten begann: „Meine Herren! Die Karolinger waren mit Ludwig dem Kinde in ein frühreifes Grab gestiegen“, oder wenn er sein Kolleg über die deutsche Sage mit den Worten eröffnete: „Die Sage ist ein Produkt der Zeit, in der sie entstanden ist“, was mit solchem Ernst und mit so starker Betonung vorgetragen wurde, daß wir ganz entzückt waren und zu keiner Ueberlegung kamen, wie wenig damit gesagt sei. Prag hatte damals noch eine ungeteilte Universität; Deutsche und Tschechen vertrugen sich gut miteinander; oft halfen wir uns gegenseitig mit unseren Kollegienheften aus, ja es konnte vorkommen, daß ein Tscheche, wie Ernst (jetzt Arnošt) Kraus, Konkneipant einer deutschen Verbindung war, ohne daß es ihn gehindert hätte, später an der tschechischen Universität eine Lehrkanzel zu erreichen. Aber solche idyllische Verhältnisse änderten sich rasch, als die Teilung der Universität Prag unter Kremer-Auenrode durchgeführt wurde, wobei besonders Kremer darauf bestand, daß die Tschechen einen Teil ihrer Prüfungen in deutscher Sprache abzulegen hätten, statt die Deutschen zu veranlassen, tschechisch zu lernen, eine Kurzsichtigkeit, die sich später bitter rächen sollte.

 

 


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