Es schreibt Eva Jelínková

(17. 2. 2014)

Auch wenn der deutschsprachigen Literatur aus den böhmischen Ländern in den letzten fünfundzwanzig Jahren erhebliche Aufmerksamkeit gewidmet wurde, ist eine komplexe neue Monographie, die das literarische Leben im gesamten Raum Böhmens, Mährens und Schlesiens erfassen würde, noch immer nicht vorhanden. In der Forschung zur deutschen bildenden Kunst in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit, für die bisher ebensowenig eine Gesamtdarstellung vorliegt, werden die Jungen Löwen im Käfig sicherlich zu einem Meilenstein werden: dabei handelt es sich um eine unter diesem Titel präsentierte Ausstellung und einen gleichnamigen umfangreichen Band, der größtenteils von dem Ehepaar Anna und Ivo Habán verfasst wurde (erschienen 2013, gleichzeitig im tschechischen Original und in einer deutschen Übersetzung im Arbor Vitae-Verlag und der Regionalgalerie in Liberec, 440 Seiten). Die beiden jungen tschechischen Kunsthistoriker stellten auf diese Weise Ende vergangenen Jahres die Ergebnisse ihrer mehrjährigen Arbeit vor: In der Ausstellung in der Reichenberger Regionalgalerie versammelten sie Originalwerke von mehr als hundert in Prag, Brünn, Liberec sowie den Regionen wirkenden Künstlern und mit dem Buch, das entscheidend mehr ist als ein Ausstellungskatalog, boten sie eine neue Gesamtdarstellung der Problematik.

 

Um ein möglichst breites Spektrum der deutschböhmischen bildenden Kunst zwischen den Weltkriegen zu berücksichtigen, wählten die Habáns Künstlervereine als ihren Untersuchungsgegenstand. Diese Vereinigungen (oftmals aus Vorgängerorganisationen der Vorkriegsjahre hervorgegangen) wurden nach der Entstehung der Tschechoslowakei gezielt nach dem regionalen Prinzip gegründet, „um Präsentation und Verkauf der Arbeiten ihrer Mitglieder zu vereinfachen“ (S. 95). Die Bemühungen, die böhmischen, mährischen und schlesischen Künstler ohne Nationalitätsunterschied unter einem Dach zu vereinen, ließen allmählich nach, und die neu entstehenden Vereine der deutschsprachigen Künstler stellten dann ein „national ausgerichtetes Modell dar, welches ein Gegengewicht gegen die expandierende tschechische Kultur bilden sollte“ (Tomas Pospiszyl  in seiner Studie über Maxim Kopf, einen der bedeutendsten Organisatoren des Prager deutschen Kunstbetriebs  in der Zwischenkriegszeit, in: Revolver Revue, Nr. 49, Mai 2002, S. 181).

 

Nach den wichtigsten Gruppierungen der deutschsprachigen Künstler aus Böhmen, Mähren und Schlesien wurde sowohl die Reichenberger Ausstellung als auch die neue Monographie strukturiert, die als eine Sammlung eigenständiger Studien konzipiert ist. Während sich der ungeschulte Ausstellungsbesucher unter den zahlreichen Bildern und oftmals völlig unbekannten Namen (zu denen sich in den Ausstellungsräumen jeweils ein kurzer Abriss zu Entstehung und Wirkungsbereich der einzelnen Vereine befand) einigermaßen verloren vorkommen konnte, ermöglicht das Buch dem Leser, sich in der überraschend vielfältigen deutschböhmischen Kunstlandschaft der Zwischenkriegszeit schnell zu orientieren, indem es nicht allein die Werke präsentiert, sondern auch grundlegende Informationen zum Kontext vermittelt, in welchem diese in der Tschechoslowakei gezeigt wurden.

 

Es ist gerade der Anspruch, die Kunst der Deutschböhmen als Ganzes zu erörtern, die bei den Jungen Löwen im Käfig besonders hervorzuheben ist. In letzter Zeit, vor allem seit der bahnbrechenden Prager Ausstellung „Lücken in der Geschichte“ von Hana Rousová (1994), wurden zahlreiche Teilstudien über einzelne deutschsprachige bildende Künstler aus der Tschechoslowakei publiziert (Alfred Justitz, Georg Kars, Emil Orlik, August Brömse, Maxim Kopf, Josef Hegenbarth, Eugen von Kahler, Willi Novak u. a.), eine moderne Synthese fehlte jedoch bislang. Die Autoren der Monographie konnten sich auf eine Reihe neuer Abschlussarbeiten besonders aus Brünn und Olmütz stützen, die auf ein beständiges Interesse der mährischen kunsthistorischen Lehrstühle an dieser Problematik schließen lassen (im Brünner Seminar für Kunstgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Masaryk-Universität verteidigten sie selbst unlängst ihre Dissertationen); dennoch mussten sie mit einem deutlichen Mangel an Forschungsliteratur zurechtkommen und waren in vielerlei Hinsicht auf eigene Quellenforschung angewiesen (vor allem Archivrecherchen und eine gezielte Suche nach oftmals völlig vergessenen Werken).

 

Einen entscheidenden Anstoß zu den neuen Gruppenaktivitäten habe nach Anna und Ivo Habán die deutsche Klasse der Prager Akademie der Bildenden Künste gegeben. Zu „wesentlichen Triebkräften der deutschböhmischen Kunstszene“ (S. 41) nach der Gründung der Republik seien die Professoren Karl Krattner (Vorsitzender des größten, künstlerisch jedoch gescheiterten Vereins „Metznerbund“ und Organisator der ersten umfassenden Gesamtschau deutschböhmischer Kunst in Brünn 1921) und August Brömse geworden, um den sich die erste künstlerisch einheitlichere Gruppierung junger Künstler formierte (sie traten ab 1921 als „Die Pilger“ auf; außer Brömse zählten Maxim Kopf, Josef Hegenbarth, Julius Pfeiffer, Mary Duras, Anton Bruder u. a. zu diesem Zusammenschluss).

 

Die Autoren verzeichnen auf der Karte Böhmens, Mährens und Schlesiens die wichtigsten Zentren und deren Akteure: neben den ambitionierten Prager „Pilgern“ den Brünner Verein „Scholle“ (Vereinigung deutscher bildender Künstler Mährens und Schlesiens „Scholle“), welcher in den Jahren 1922–1937 neben dem „Mährischen Kunstverein“ als national konzipierter und künstlerisch nicht deutlich profilierter Dachverband wirkte. Weiterhin die künstlerisch eindeutigere Reichenberger „Oktobergruppe“ (1922–1927) und die wiederum in Prag angesiedelten Gruppierungen „Verein deutscher Malerinnen“ (der tatsächlich nur Frauen vorbehaltene Verein veranstaltete Ausstellungen während der gesamten 20er und 30er Jahre), die später gegründete „Junge Kunst“ (initiiert von Maxim Kopf, 1928) und die wahrscheinlich prestigeträchtigste „Prager Secession“ (entstanden durch die Transformation der „Jungen Kunst“, 1929–1937). Die „Prager Secession“, um die sich die deutschsprachige Elite versammelte, könne den Autoren zufolge als deutsches Pendant zum tschechischen Künstlerverein „Mánes“ oder zur „Umělecká beseda“ (Künstlerischer Verein) verstanden werden (S. 132 und 131).

 

Die genannten Vereinsaktivitäten der deutschböhmischen bildenden Künstler werden im Buch ausschließlich von Anna bzw. Ivo Habán behandelt: Ihre konzisen Studien verfolgen jeweils die Geschichte, Ausrichtung, Wirkung (wichtigste Ausstellungen) und Rezeption der einzelnen Gruppierungen, die von ihrer eigenen kunsthistorischen Interpretation begleitet werden. Die deutschen Vereine in anderen kulturellen Zentren, konkret in Mährisch Ostrau (Ostrava) und Troppau (Opava), Karlsbad (Karlovy Vary) und Teplitz (Teplice), wurden anderen Autoren anvertraut. Als verpasste Chance erscheint hier ein Text über die Region Ostrau und Schlesien, der sich fast überhaupt nicht an die festgesetzten Kriterien hält: Der bedeutendste Verein in der Region, der Ostrauer „Kunstring“ (1926–1939), wird nur am Rande erwähnt und das Werk des gebürtigen Troppauers Leo Haas, der zwischen 1926 und 1938, bis zu seiner Deportation ins Konzentrationslager Nisko und anschließend ins Theresienstädter Ghetto, in der Stadt wirkte, wird beispielsweise völlig beiseite gelassen. Die Habáns zählen Haas gleichwohl unter die 86 „‚wichtigsten‘ bildenden Künstler“ (S. 293), denen im Buch selbstständige Künstlerporträts gewidmet sind (mit Hinweis auf deren Zugehörigkeit zu den einzelnen Vereinen). Die Auswahl dieser Persönlichkeiten erfolgte mit Rücksicht auf die bisherige Kenntnis ihrer erhaltenen Werke und mit „dem Versuch, möglichst alle Regionen zu erfassen“ (ebd.).

 

Durch die Fokussierung auf die Tätigkeit der organisierten Vereine entgeht der Aufmerksamkeit die Teilnahme deutschböhmischer Künstler als Einzelne an tschechischen Ausstellungen – und allgemein die Frage des Dialogs national tschechischer und deutscher Künstler aus der Tschechoslowakei. Ein bekannter Kontaktvermittler zwischen der tschechischen und der deutschböhmischen Szene war der Prager deutsche Dichter, Diplomat, Publizist und Kunsthistoriker Johannes Urzidil (dessen etliche Rezensionen deutschböhmischer Ausstellungen von den Autoren der Jungen Löwen zitiert werden; außer mit den Kunstzeitschriften „Volné směry“ oder „Forum“, in denen Übersetzungen seiner Artikel erschienen, arbeitete Urzidil allerdings auch mit den tschechischen Revuen „Rozpravy Aventina“ und „Musaion“ zusammen). Urzidils Beziehungen zu tschechischen Künstlern führten zur Teilnahme von Egon Adler, Friedrich Feigl, Alfred Justitz und Georg Kars an der Ausstellung der Künstlergruppe „Tvrdošíjní“ (Die Hartnäckigen) im Jahre 1921.

 

Die Persönlichkeit Johannes Urzidils wirft außerdem die Frage nach Kontakten zwischen Künstlern und Literaten auf. Seine Rolle wird in dieser Hinsicht in der Erinnerung von Zdenka Münzerová beleuchtet: „In seiner Wohnung im [Prager] Karolinenthal, deren Wände mit Bildern der tschechischen Maler Zrzavý, Kremlička, Špála und Filla geziert waren […], trafen sich tschechische und deutsche Schriftsteller, Journalisten, Künstler und Schauspieler, für viele Jahre war das die einzige Plattform, wo gemeinsame Probleme freundschaftlich und menschlich geklärt wurden“ (zit. nach Miloš Minařík in: Mezery v historii. Sborník příspěvků ze sympozií Společnosti pro české a německé umění, konaných v letech 2004–2009, hg. J. Orlíková, [Cheb, Festival Mitte Europa 2010] S. 6). – Eine Schlüsselbedeutung für die gegenseitige Verkoppelung der Welten der Literatur und Kunst hatte auf tschechischer Seite anscheinend Josef Čapek inne, einer der wenigen Kritiker, die die Ausstellungen von deutschsprachigen Künstlern in Böhmen in der tschechischen Presse verfolgten: Die Beständigkeit, mit der er dies (in der Tageszeitung „Lidové noviny“) tat, wird vermutlich erst durch die nach und nach herausgegebenen Bände seiner Kunstkritiken zu erkennen sein (Triáda, 1. Bd. 2012; Čapeks Bibliographie zählt alleine an kunstkritischen Artikeln mehr als 1200 Einträge).

 

Das entworfene Netz des deutschen künstlerischen Lebens in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit erlaubt den Jungen Löwen im Käfig, konkrete Thesen über die künstlerischen Qualitäten der von den einzelnen Gruppierungen veranstalteten Ausstellungen aufzustellen. Obgleich die Forscher dutzende, wenn nicht hunderte von Künstlern registrieren, die in ihnen vertreten sind, kristallisiert sich in ihren Studien eine deutliche Hierarchie heraus. Das Schaffen der deutschsprachigen bildenden Künstler aus Böhmen, Mähren und Schlesien als Ganzes resümieren sie als „spezifisches, in sich geschlossenes Phänomen […], das sich um das Geschehen an der Prager Akademie konzentriert und dessen Wurzeln im Wirkungsort dieser Künstler liegen. Denn sie schöpften aus den hiesigen kulturellen Traditionen und lösten überwiegend heimische Probleme“, obgleich sie sich in ihrem Schaffen auch mit ausländischen Impulsen auseinandersetzten (S. 12). Auch wenn die Schlussfolgerungen der Habáns noch zu vertiefen sein werden (insbesondere durch eine eingehende Untersuchung der Rezeption in den zeitgenössischen deutsch- sowie tschechischsprachigen Periodika), zeichnet ihre Arbeit ein erstes abgerundetes Bild des Werks der deutschsprachigen Künstler aus der Tschechoslowakei und kann von daher von jeglicher zukünftigen Forschung nicht ignoriert werden, die sich auf das deutschsprachige kulturelle Leben in der Zwischenkriegs-Tschechoslowakei ausrichtet – nicht einmal wenn diese eigentlich nur dem literarischen Leben gilt.

 

Übersetzung Magdalena Becher


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