Es schreibt Štěpán Zbytovský

(Echos, 20. 1. 2014)

Peter Demetz (geb. 1922), Koryphäe der germanobohemistischen Forschung, der Prag noch als Treffpunkt der Kulturen erlebt hatte, präsentiert in seinem neuesten Buch Auf den Spuren Bernard Bolzanos (Wuppertal, Arco Verlag 2013) vier Essays. Bolzano (1781–1848), der mit seinen Schriften mehrfach in die hitzigen Debatten zur Landesgeschichte und zu den nationalen Verhältnissen in Böhmen eingegriffen hatte, erfreut sich bis heute eines regen Forschungsinteresses – und so kann das vorliegende Buch als ein Dialog Demetz’mit tschechischer Bolzano-Literatur gelesen werden, vor allem mit Jaromír Loužil (1926–2013), ihrem kürzlich verstorbenen Klassiker.

 

Während sich die drei längeren Abhandlungen in der Sammlung drei konkreten Betrachtungen und Themen von Bolzano widmen, stellt der Einleitungstext eine historische wie topographische Einführung in die Lebenssituation Bolzanos in den Jahren 1823 bis 1842 dar: Als verstoßener Universitätsprediger im intellektuellen Abseits und – besonders in der Zeit seiner Aufenthalte im südböhmischen Dorf Těchobuz bei Pacov – in inniger Vertrautheit mit der Ehefrau seines Mäzens, Anna Hoffmann.

 

Für die literaturhistorische Forschung zu Bolzano ist der zweite Text von besonderem Interesse: Libussa auf Latein – Ein Gymnasiast namens Bolzano bittet die sagenhafte Herrscherin um Schutz und Hilfe (1796), der einzige bis dato unveröffentlichte Essay. Er widmet sich dem in Hexametern verfassten lateinischen Gedicht Bolzanos, das der damals Fünfzehnjährige am Ende seiner Lehrjahre am Prager Piaristengymnasium geschrieben hatte. Der Sprecher, über die nicht weiter spezifizierte Bedrohung der „Bohemia“ klagend, richtet seine Worte an die sagenhafte Fürstin der Tschechen Libussa, die, stilisiert als olympische Göttin und „Gründerin“ der Nation, den künftigen Sieg des gequälten böhmischen Löwen prophezeit. Der Essay geht der Frage nach, welche Bedrohung Bolzano gemeint haben könnte, und polemisiert dabei mit Loužils Aufsatz von 1981, in dem dieser das Gedicht in Zusammenhang mit dem Wiener Zentralismus und der späteren Distanzierung Bolzanos vom Nationalismus stellte. Demetz hingegen weist auf die Bedrohung hin, die die französischen Truppen auf ihrem Siegeszug in Norditalien in diesem Jahr für die Länder der Donaumonarchie darstellten, und so ist ihm das Gedicht ein Beweis für den langen Weg Bolzanos hin zu einem späteren sozialen Reformdenker: „Der Schüler fürchtete die französischen Revolutionsheere – nicht so der [erwachsene] Alliierte Saint-Simons und Etienne Cabets. Es wird sich noch erweisen, dass Bolzano im 19. Jahrhundert der radikalste Denker Böhmens war, und selbst die internationalen Occupy Wallstreet-Gruppen könnten heute von ihm lernen“ (S. 35). Demetz’Auslegung ist nicht weniger spekulativ als die von Loužil. Sympathisch erscheint jedoch seine Wachsamkeit gegenüber den Versuchen, in den damaligen sprachlichen und nationalen Diskurs Böhmens solche Äußerungen aufzunehmen, die da nicht unbedingt hingehören.

 

In dem Essay Sprachphilosophie im Nationalitätenkonflikt – Noch einmal: Patočka, Jungmann, Bolzano (liegt auch bereits auf Tschechisch vor als Dějiště: Čechy, Praha 2008) , erinnert Demetz an die tschechische Rezeption von Bolzanos Erbe, vor allem an den Essay des Philosophen Jan Patočka Das Dilemma in unserem Nationalprogramm – Jungmann und Bolzano (Dilema v našem národním programu – Jungmann a Bolzano, 1969, Deutsch erstmals 1972), der auf dem Gegensatz der von Josef Jungmann vertretenen sprachlich charakterisierten nationalen Gemeinschaft und Bolzanos territorial und sozial definierten Gemeinschaft der Bewohner Böhmens beider Sprachen basiert. Als wichtigster Beitrag erscheint hier die Tatsache, dass Demetz – nachdem er die Ideengeschichte zur Sprache und Nation im Stil der Sprachverteidigungen skizziert hat – der Versuchung widersteht, die Gegensätzlichkeit von Jungmann und Bolzano aufs Neue wertend zu elaborieren, sondern viel eher eine philologisch-historische Betrachtung der Texte bietet: Jungmanns Gespräche über die tschechische Sprache (Rozmlouvání o jazyce českém, 1806) und Bolzanos berühmter Erbauungsreden Über das Verhältnis der beiden Volksstämme in Böhmen (1816). Bemerkenswert ist seine Analyse der Argumentation von Slawomil in Jungmanns zweitem Gespräch, die die Idee der kosmopolitischen Gemeinschaft als einen trügerischen Traum kritisiert. In Slawomils Hinweis auf die gottgegebene Mannigfaltigkeit an Rassen und Sprachen sieht Demetz indes eine Falle: „Von Slawomils Argument für die vom Schöpfer konstituierte Pluralität der Sprachen ist es aber in den böhmischen Verhältnissen [nur] ein Schritt zu der patriotischen Möglichkeit, die eine oder andere Gruppe von dieser Partikularität auszuschließen“ (S. 50). Bolzano hingegen vertritt den territorialen Patriotismus und die Auffassung der Sprache als ein System konventioneller Namen. Doch Demetz idealisiert Bolzanos Konzept nicht als einen Ausweg aus den Aporien der national-sprachlichen Disputationen. Beide Autoren gehören zu den grundlegenden historischen Modalitäten der Ideengeschichte der Sprache. Genauso auch das dritte Modell, das Demetz als eine überraschend moderne Bezugsebene für die beiden vorherigen bietet: Die barocke Konzeption der Sprache von Comenius, die in der Triade Panglottie – Polyglottie – Monoglottie sowohl die Einzigartigkeit der einzelnen Sprachen wie auch die Reflexion über Sprachgrenzen und eine universelle und vollkommene Sprache integriert.

 

Die Erbauungsrede, mit der Demetz sich in seinem letzten Aufsatz beschäftigt, ist die Rede Von den Grausamkeiten der Christen an den Juden(1809), in der Bolzano die Wiedergutmachung der unchristlichen Behandlung der Juden durch Christen diskutiert, darunter auch die Frage, ob es möglich sei, den „verächtlichen“ Zustand der jüdischen Gesellschaft als Gottes Wille zu sehen. An die Arbeiten von Jaromír Loužil, Edgar Morscher oder Helmut Rumpler knüpfend sieht Demetz in Bolzanos Einstellung die innere Spannung eines Aufklärers, der zugleich katholischer Geistlicher war. Dabei ergründet er Bolzanos „Rhetorik der Temporalität“, die in einer gegenwartsbezogenen Einführung an das Gewissen appelliert, in der historisch-biblischen Abhandlung die Höhepunkte der jüdischen Geschichte unter der Prämisse der Überlegenheit sowie die Wurzeln der Zerrissenheit zeigt, um in der abschließenden Segnung in die Zukunft im Zeichen der bürgerlichen Aktivierung der christlichen Gemeinschaft zu blicken. Auch hier fällt Demetz’philologisches Gespür für Text und Genre auf, etwa wenn er zeigt, dass man Bolzano nicht unbedingt Antisemitismus unterstellen sollte: Bolzanos Worte von „tatsächlichen“ Lastern der Juden in der Zeit des Merkantilismus würden primär die reale Schuld der Christen unterstreichen und mit der Intention der Anleitung einer Ermahnungsrede zusammenhängen – Buße und Schuldbekenntnis.

 

In den letzten Passagen äußert sich Demetz enttäuscht über die Abwesenheit einer ausdrücklichen Sympathie Bolzanos für das neuere jüdische Denken,  repräsentiert etwa in den Werken der Prager Schüler von Moses Mendelssohn, die nur einige Straßen von  Bolzano entfernt gewohnt hatten. Möglicherweise ist für Demetz diese Frage auch deswegen so dringlich, weil er selbst den Typus eines Gelehrten verkörpert, in dem sich eine bewundernswerte historisch-philologische Akribie mit eigener Erfahrung und Erinnerung vereinigt sowie mit dem, was man wohl einen moralischen Horizont des wissenschaftlichen Interesses nennen dürfte. Für die Ergründung der Kulturgeschichte der böhmischen Länder über nationale wie andere Grenzen hinaus erscheint diese Verbindung besonders wertvoll. Sie ist in Demetz’Schriften ohnehin stets präsent, wird jedoch nie zu einer vordergründigen Harmonisierung des historischen Materials mit priorisierten Einstellungen. So wird auch Bolzano in diesem Band nicht als ein Verteidiger „richtiger“ Lösungen für die Probleme des 19. Jahrhunderts vorgestellt; er wird jedoch in einigen Zügen als ein Denker gezeigt, der durch seine intellektuelle Ehrlichkeit und persönliche Haftung für das Gesagte inspirierend wirkt.

 

Übersetzung Martina Lisa


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