Es schreibt Jiří Stromšík

(Echos, 6. 1. 2014)

Unter dem Titel „Echos“ wird vom Prager Institut für Literaturforschung gemeinsam mit dem Institut für germanische Studien der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität und dem Österreichischen Kulturforum in Prag eine neue Beitragsreihe zur deutschsprachigen Literatur und Kultur der böhmischen Länder herausgegeben. Die Folge von tschechisch und deutsch erscheinenden Texten wird in einem regelmäßigen, zweiwöchigen Rhythmus Besprechungen und Analysen aktueller Forschungsergebnisse bringen, die auf die Geschichte der deutschsprachigen Literatur in Böhmen, Mähren und Schlesien ausgerichtet sind. Die germanobohemistischen Echos werden feierlich mit einem längeren Aufsatz des Germanisten Jiří Stromšík über die Natur der fragmentarischen bzw. unvollendeten Texte Franz Kafkas sowie deren Konsequenzen für Deutung und Edition eröffnet; der Aufsatz stellt die umgearbeitete Fassung des bisher unveröffentlichten Vortrags dar, der am 15. April 2004 vor dem Wissenschaftlichen Beirat der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag tschechisch gehalten wurde.

 

 

Kafkas „Schreiben“ zwischen Tagebuch und Fiktion: Texte aus dem Nachlaß

 

Der vorliegende Aufsatz erörtert die Tatsache, daß den Großteil (etwa neun Zehntel) dessen, was als Kafkas Lebenswerk herausgegeben und gelesen wird, erst nach dem Tod des Autors edierte Texte darstellen. Es sind das einerseits Fragmente (einschließlich aller drei Romane), andererseits Texte, die zwar aus der Sicht des Lesers „vollständig“ erscheinen, doch im strengen Sinn unvollendet sind, weil sie nicht vom Autor einer endgültigen Redaktion unterzogen und zur Veröffentlichung approbiert wurden. Man kann sich die Frage stellen, was aus diesem Umstand für das Verstehen, Auslegen sowie Edieren der betreffenden Texte zu folgern ist. Bei der Beantwortung dieser Frage berücksichtige ich vor allem drei Aspekte: (1) das geradezu existentiale Gewicht, das Kafka dem „Schreiben“ im eigenen Leben beimaß; (2) die starke gegenseitige Entgrenzung von Textsorten und Gattungen in allem, was Kafka schrieb; (3) den spezifischen Stellenwert des Fragmentarischen in Kafkas Nachlaß.

 

Existentiales Schreiben

 

Wie aus einer Reihe von direkten Äußerungen in den Tagebüchern und der Korrespondenz, indirekt auch aus manchen künstlerischen Texten hervorgeht, verstand Kafka sein Schreiben nicht nur oder nicht primär als ein auf die Veröffentlichung ausgerichtetes Unterfangen, sondern als seine eigentliche Existenzweise, eine für ihn lebensnotwendige, ja zwanghafte Aktivität. Diese innere Notwendigkeit betont er immer wieder seit seinen literarischen Anfängen. Bereits am 8. 11. 1903 schreibt er an seinen Freund Oskar Pollak: „Gott will nicht, daß ich schreibe, ich aber, ich muß“ (BBr 21 / KBr I, 30). Zehn Jahre später stellt er Felices Bemerkung über sein „künstlerische[s] Interesse“ richtig: „Ich habe kein literarisches Interesse, sondern bestehe aus Literatur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein“ (14. 8. 1913, F 444 / KBr II, 261). In einem nicht abgeschickten Brief an Felices Vater (vom 21. 8. 1913, KT 579) heißt es noch deutlicher: „Mein Posten ist mir unerträglich, weil er meinem einzigen Verlangen und meinem einzigen Beruf das ist der Litteratur widerspricht. Da ich nichts anderes bin als Litteratur und nichts anderes sein kann und will, so kann mich mein Posten niemals zu sich reißen, wohl aber kann er mich gänzlich zerrütten.“ Und am 31. 7. 1914 notiert er für sich: „Aber schreiben werde ich trotz alledem, unbedingt, es ist mein Kampf um die Selbsterhaltung“ (KT 543).

 

Ähnliche Bekenntnisse zur absoluten Hingabe an die Literatur findet man sicherlich auch bei anderen Autoren. Die Kafkaschen unterscheiden sich von den meisten anderen dadurch, daß er sein Schreiben als eine grundlegende Lebensäußerung betrachtete, als etwas, was nicht nur mit Intellekt, Willen und Gefühl, sondern mit der somatischen Beschaffenheit der Persönlichkeit zusammenhängt, und er gebraucht für diese seine Einstellung oft geradezu „physiologische“ Bilder, die wohl nicht nur metaphorisch, sondern fast wörtlich zu nehmen sind. Am 17. 12. 1910 schreibt er an Brod: „Ich kann nicht schreiben; ich habe keine Zeile gemacht, die ich anerkenne [...]. Mein ganzer Körper warnt mich vor jedem Wort, jedes Wort, ehe es sich von mir niederschreiben läßt, schaut sich zuerst nach allen Seiten um; die Sätze zerbrechen mir förmlich, ich sehe ihr Inneres und muß dann aber rasch aufhören“ (BBr 85 / KBr I, 131); im Tagebuch heißt es am 3. 12. 1911: „[...] daß ich ebenso schreiben muß, wie man sich bei äußerer durch Äußeres erzwungener Aufregung nur durch Fuchteln mit den Armen helfen kann“ (KT 279); und daselbst am 3. 1. 1912: „Als es in meinem Organismus klar geworden war, daß das Schreiben die ergiebigste Richtung meines Wesens sei, drängte sich alles hin und ließ alle Fähigkeiten leer stehn, die sich auf die Freuden des Geschlechtes, des Essens, des Trinkens, des philosophischen Nachdenkens der Musik zuallererst richteten“ (KT 341). Nach der Niederschrift von Das Urteil kommt er am 23. 9. 1912 zu dem Schluß: „Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele“ (KT 461).

 

Eine solche Abhängigkeit vom Schreiben wird unter anderem auch auf Kafkas (in mehreren Hinsichten) extrem niedrige Selbsteinschätzung zurückzuführen sein: daraus entstand sein starkes Bedürfnis nach Selbsterforschung bzw. der Zwang, seinen eigenen Platz unter Menschen und in der Welt immer wieder zu suchen und zu bestimmen. Auch bei großer Skepsis gegenüber psychologischen Deutungen kann man nicht bestreiten, daß das Schreiben für ihn eine z. T. kompensatorische, ja autotherapeutische Funktion hatte: er hoffte, wenigstens in seiner frühen Phase, darin eine Erfüllung und Selbstbestätigung zu finden, welche er im persönlichen bzw. bürgerlichen Bereich (Beruf, Ehe, Familie usw.) vergeblich suchte. Dieser kompensatorischen Deutung sind allerdings zumindest zwei Einschränkungen hinzuzufügen:

 

(1) Wichtig war für ihn am Schreiben nicht nur das Ergebnis, d. h. das Werk, wenigstens nicht in dem Sinn, daß der Künstler – wie es Freud zugespitzt formulierte – durch sein Schaffen das erwerben kann, woran es ihm im realen Leben mangelt, nämlich „Ehre, Macht, Reichtum, Ruhm und die Liebe der Frauen“ (Freud, 366). Für Kafka war vielmehr der Schreibakt selbst entscheidend. Auf Brods Bitte, einige Prosastücke zum öffentlichen Vorlesen einer Schauspielerin zuzuschicken, antwortete er: „Die Stücke, die ich schicken könnte, bedeuten für mich wesentlich gar nichts, ich respektiere nur den Augenblick, in dem ich sie geschrieben habe [...]“ (6. 11. 1917, BBr 191 / KBr III, 358). Das ist zweifelsohne keine Koketterie; die zögernd-nachdenkliche Geste deutet vielmehr an, daß das Schreiben ihm vor allem die Gelegenheit bot, für sich selbst Gedanken, Beobachtungen und Vorstellungen möglichst genau zu formulieren, ohne Rücksicht auf die äußere Wirkung der Worte, ohne die Kompromisse, die im Kontakt mit der realen Umwelt unausweichlich sind.

 

(2) Gleich stark wie der innere Schreibzwang waren bei ihm auch Schreibhemmungen sowie Zweifel an der Kunst – an seiner eigenen, doch später, etwa seit 1921, an der Kunst überhaupt (siehe u. a. Erstes LeidHungerkünstlerJosefine, die Sängerin). Sein Bedürfnis zu schreiben ist nicht als programmatische Ablehnung der praktischen, bürgerlichen Existenz und vorbehaltlose Hinwendung zur Literatur zu verstehen. Kafka war kein Romantiker und auch kein Modernist, der auf seine literarische Orientierung stolz ist und diese für grundsätzlich besser hält als die Orientierung auf praktisches Leben. Er suchte zwar im Schreiben eine Zuflucht vor dem realen Leben, doch gleichzeitig vermochte er nicht, auf Bemühungen um Teilhabe am Leben zu verzichten: seine Neigung, aus dem Leben zu flüchten, empfand er vielmehr als einen Mangel, nicht als Vorteil, und immer wieder versuchte er, sich doch noch auch im Leben, z. B. in einer Ehe, zu bewähren. Im Tagebuch (am 6. 12. 1921) stellt er fest: „das Schreiben ist hilflos, wohnt nicht in sich selbst, ist Spaß und Verzweiflung“ (KT 875). Am 23. Januar 1922, in der großen Bestandsaufnahme seiner erfolglosen „Anläufe“ zum praktischen Leben, stellt er die Literatur fast ans Ende der Reihe „Klavier, Violine, Sprachen, Germanistik, Antizionismus, Zionismus, Hebräisch, Gärtnerei, Tischlerei, Litteratur, Heiratsversuche, eigene Wohnung“ (KT 887). Und im folgenden Sommer (am 5. 7. 1922) schreibt er aus Planá n. L. an Brod mit ungewohntem Pathos: „Das Schreiben ist ein süßer wunderbarer Lohn, aber wofür? In der Nacht war es mir [...] klar, daß es der Lohn für Teufelsdienst ist“ (BBr 384).

 

So ambivalente Formulierungen sind nicht nur in Bezug auf den Autor, sondern auch für seine literarischen Texte aufschlußreich: sie bestätigen nicht nur deren stark autobiographischen Charakter, sondern bieten auch einen Schlüssel zu deren Semantik und literarischer Gestaltung. Die autobiographische Komponente von Kafkas Texten läßt sich nicht auf den Versuch des Autors reduzieren, sich psychische Frustrationen von der Seele zu schreiben. Sein verbissenes Ringen um das Schreiben ist nicht zuletzt auf sein (bei ihm offensichtlich gleichfalls konstitutionell bedingtes) Bedürfnis zurückzuführen, einen adäquaten, möglichst präzisen sprachlichen Ausdruck für Erfahrung und Beobachtung zu finden – wobei sich seine Beobachtung freilich vor allem auf das nächstliegende Objekt, auf ihn selbst, richtete. In der Krise vom Januar 1922 (kurz vor Beginn der Arbeit am Schloß-Roman) stellt er seine permanente Selbstbeobachtung als eine Art von Ausdruckszwang dar: „[...] die Selbstbeobachtung, die keine Vorstellung zur Ruhe kommen läßt, jede emporjagt um dann selbst wieder als Vorstellung von neuer Selbstbeobachtung weiter gejagt zu werden“; für diesen Zwang gebraucht er Bilder wie „Jagd“ bzw. „Ansturm gegen die letzte irdische Grenze“ (16. 1. 1922, KT 877f), wobei er sich wohl dessen bewußt war, daß dieser „Ansturm“ für ihn selbst vernichtend sein kann.

 

Diese extreme Ausrichtung des Autors wie des Menschen auf die Einheit von Erfahrung und Wort führt oft zu einem eigenartigen Verfließen von Biographie und Werk: Kafka projizierte in Figuren und Handlungen seine innere Welt hinein – wie es u. a. durch Analysen von Der Prozeß (bes. Pasley 1995, 99–120, 181–201) nachgewiesen wurde –, so daß in einige Romanszenen die Situation des Autors im Augenblick der Niederschrift oder verschiedene Erlebnisse der letzten Tage und Stunden einfließen; es sind das allerdings – und das ist entscheidend – Erlebnisse, die schon vor der Niederschrift in eine literarische Realität, d. h. ein freies, von der Erfahrung unabhängiges und verallgemeinerungsfähiges Bild verwandelt wurden. (Solche Nähe von Fiktion und Leben findet sich sicherlich – in verschiedenem Maße – auch bei anderen Autoren: Goethe bezeichnete in Dichtung und Wahrheit alles, was er je geschrieben hat, als „Bruchstücke einer großen Konfession“.) Jürgen Born hat sogar auch auf umgekehrte Beispiele des Verfließens von Leben und Werk bei Kafka hingewiesen: Kafka deutete manchmal sein reales Leben im Sinne dessen, was er vorher in seinen literarischen Bildern dargestellt hatte. So stellt z. B. die Tagebuchaufzeichnung nach dem 6. Mai 1914 eine fiktive Verlobungsszene dar, in der der Verlobte sich offensichtlich fehl am Platze fühlt (KT 516f); die Situation dieses Fragments weist erstaunliche Ähnlichkeiten mit der Aufzeichnung vom 6. Juni desselben Jahres, in der Kafka seine eigene Verlobung mit Felice in Berlin beschreibt, auf (KT 528f). Diese Parallelität ist keine forcierte Hypothese des Forschers: es ist nachweisbar, daß Kafka selbst an eine derartige Einheit von seinem Werk und Leben glaubte – desto stärker, je mehr er von seinem Scheitern in beiden Bereichen überzeugt war; in dem zitierten Brief an Brod vom 5. 7. 1922 heißt es: „Was ich gespielt habe, wird wirklich geschehn. Ich habe mich durch das Schreiben nicht losgekauft. Mein Leben lang bin ich gestorben und nun werde ich wirklich sterben“ (BBr 385).

 

Entgrenzung der Gattungen

 

Diese Literarisierung des eigenen Lebens schlägt sich in allem, was Kafka schrieb, nieder, und es ist daher gerechtfertigt, seine Texte aus dem Nachlaß als eine bestimmte (wenn auch formal differenzierte) Einheit anzusehen. Äußerlich umfaßt der Nachlaß drei Texttypen: künstlerische Texte, Tagebücher und Briefe. Die Grenzen zwischen ihnen sind jedoch oft sehr fließend: seine künstlerischen Texte lassen sich von den Tagebüchern oder Briefen weder an der Achse „künstlerisch (fiktional) – nichtkünstlerisch (sachlich)“ noch an der Achse „öffentlich – privat“ eindeutig unterscheiden.

 

Kafka selbst hat zwar rahmenhaft zwei Texttypen unterschieden, indem er „eher“ künstlerische Texte auf lose Blätter oder in besondere Notizhefte (von 1916 an sog. Oktavhefte) und „eher“ diaristische in sog. Quarthefte schrieb, doch er war in dieser Unterscheidung keineswegs konsequent: in den Quartheften sind an die 140 Texte fiktionaler Art aufgezeichnet, in den Oktavheften kommen wieder zahlreiche Abschnitte diaristischen Charakters vor, und einige Motive und Gedanken werden parallel, in beiderlei Notizheften, hie und da sogar in Briefen variiert. In den Tagebüchern aufgezeichnete Gedanken und traumatische Zustände kann man hinter Situationen und Handlungen mehrerer Erzählungen erkennen, z. B. wird das Motiv von zweierlei „Nahrung“ (29. 1. 1922, KT 895) im Herbst desselben Jahres in einem der Hauptmotive der fragmentarischen Erzählung Forschungen eines Hundes ausgeführt.

 

Innerhalb aller drei Texttypen verwischen oft die Gattungsgrenzen. Eine Tagebuchaufzeichnung oder ein Brief hat manchmal ein hohes oder volles Maß an Literarizität: die diskursive Selbstanalyse oder Beschreibung der Beziehung zur Adressatin geht stellenweise in die Bildlichkeit und Komponiertheit der literarischen Ausdrucksweise über; das Tagebuch verliert stellenweise seinen dokumentarischen Charakter, der Brief seinen kommunikativen Zweck, und beide gewinnen dafür den Mehrwert einer freien literarischen Gestalt – frei im Kantschen Sinn, nämlich daß sie „ohne Interesse“ an Objekt und Zweck ist. Als Beleg kann hier der Abschiedsbrief an Felice (30. 9. 1917, F 755f / KBr III, 333f) dienen, in dem Kafka ein spitzfindiges, geradezu concettistisches Spiel mit rhetorischen und sophistischen Figuren („betrügen ohne Betrug“, Tuberkulose als „Waffe“ usw.) treibt – ein Spiel, von dem er wissen mußte, daß es die Adressatin nicht voll verstehen konnte, doch das für ihn, wie gesagt, die einzige Möglichkeit der „Selbsterhaltung“ bzw. der Rechfertigung seiner Existenzweise bot. Das hohe Maß an Literarizität haben einige Forscher und Leser unmittelbar nach dem Erscheinen der Briefe an Felice (1967) erkannt: ihr Herausgeber Erich Heller bekennt, er würde die Briefe am liebsten als „Gesänge [...] eines unbekannten Minnesängers aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts“ (F 9) einleiten, als Minnelieder, deren Ziel und Zweck es war, nicht erhört zu werden, in denen die besungene Frau unerreichbar zu bleiben und bloß als „Zünder“ für artistisch-rhetorische Feuerwerke zu fungieren hatte. Heinz Politzer wiederum sieht die ganze Geschichte der unerfüllbaren Liebe als einen Briefroman an: seine Studie hat er denn auch „Franz Kafkas vollendeter Roman“ überschrieben – in Anspielung auf die drei unvollendeten „wirklichen“ Romane Kafkas. Im ähnlich literarisch-biographischen Sinn wurden die Briefe in Elias Canettis Essay Der andere Prozeß gedeutet.

 

Das Fragmentarische

 

Genauso relativ wie die Oppositionen „künstlerisch – nichtkünstlerisch“ oder „öffentlich – privat“ ist auch die Grenze zwischen vollendeten und nicht vollendeten Texten. Der Ausnahmestatus von Kafkas Fragmenten unter anderen literarischen Fragmenten ist vordergründig schon dadurch gegeben, daß ihr Autor nicht durch äußere Umstände oder Tod an ihrer Vollendung gehindert worden wäre, sondern daß er selbst auf ihre Vollendung oder Schlußredaktion verzichtet und sie darüber hinaus in zwei sogenannten „Testamenten“ (Herbst/Winter 1921 und 29. 11. 1922, BKF 365 und 421f) zur Vernichtung verurteilt hat – mit anderen Worten: er verweigerte ihnen den Rang des Werkes, welches in dieser und keiner anderen Form Träger eines (mit Gadamer gesprochen) „Sinnpotentials“ sein, oder aber Anhaltspunkte für die Wahrnehmung einer „Intentionalität“ (in Mukařovskýs Sinn) beim Rezipienten bilden soll.

 

Eines der Paradoxe von Kafkas Wirkung liegt darin, daß seine Rezeption auf „Werke“ gründet, die der Autor in einer unvollendeten Textfassung (oder in mehreren Fassungen) hinterlassen hat; im Falle des gesamten Nachlasses handelt es sich also um eine Menge von Texten, die erst von späteren Herausgebern in „Werk“ (Grundtext, Lesetext) und Ergänzungsapparat (Varianten, Streichungen, Einschübe usw.) geteilt wurden.

 

Das Fragmentarische von Kafkas Nachlaß hat allerdings noch tiefere Ursachen, die mit den Grundlagen seiner Literaturauffassung zusammenhängen, und zwar nicht nur mit der beschriebenen existentialen Dimension, sondern auch mit der Technik seines Schreibens (mit dem Stil, der Poetik seiner Prosa). Auch ein oberflächlicher Leser bemerkt, daß jede Behauptung bei Kafka sogleich mit dem folgenden Satz in Frage gestellt oder schon mitten im Satz mit mehreren einschränkenden Zusätzen versehen wird, die die Hauptbehauptung scheinbar präzisieren, doch im Endeffekt alles verunsichern und komplizieren, indem sie die ursprüngliche Behauptung unterlaufen oder unterminieren: diese Ergänzungen – wie es Maurice Blanchot schon 1949 formuliert hat – „bilden [...] eine negative Argumentationskette parallel zur Hauptargumentation, die gleichzeitig weiterläuft und zum Abschluß geführt wird. So ist die Behauptung am Ende gleichzeitig völlig entwickelt und völlig zurückgenommen“ (Blanchot, 76). Eine ähnliche Wirkung haben die vielen Abschweifungen, Parenthesen oder schon syntaktisch widersprüchliche Konstruktionen wie „einerseits ist es so, andererseits gerade umgekehrt“.

 

Das sind keine bloßen Oberflächenerscheinungen oder stilistische Manierismen, sondern etwas, was wohl von den Tiefenschichten von Kafkas Denk- und Erlebnisweise, gleichsam von den Wurzeln seiner Persönlichkeit herrührt: diese negierenden inneren Gegenströmungen seiner Syntax und seines Denkens scheinen seinen autodestruktiven Neigungen zu entsprechen (fast flagellantische Selbstbezichtigungen gehören zum stehenden Repertoire seiner Tagebücher und Briefe). Damit kann auch der fragmentarische Charakter seines Œuvres zusammenhängen, den er schon ziemlich früh (nach den gescheiterten Projekten von Beschreibung eines Kampfes und Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande) als einen fatalen Mangel seines Schreibens erkannt hat: Noch bevor es ihm gelang, seine erste größere Erzählung – Das Urteil (1912) – zu Ende zu führen, stellte er im Tagebuch bedauernd fest: „Es kommen daher immer nur abreißende Anfänge zu Tage [...]. Würde ich einmal ein größeres Ganzes schreiben können wohlgebildet vom Anfang bis zum Ende, dann könnte sich auch die Geschichte niemals endgiltig von mir loslösen und ich dürfte ruhig und mit offenen Augen als Blutsverwandter einer gesunden Geschichte ihrer Vorlesung zuhören, so aber lauft jedes Stückchen der Geschichte heimatlos herum und treibt mich in die entgegengesetzte Richtung“ (5. 11. 1911, KT 227); und einige Wochen später (17. 12. 1911): „Solche Angst vor dem Schreiben äußert sich immer darin, daß ich [...] Eingangssätze des zu Schreibenden erfinde, die sich gleich als unbrauchbar, trocken, weit vor dem Ende abgebrochen herausstellen und mit ihren vorragenden Bruchstellen in eine traurige Zukunft zeigen“ (KT 294). Genau so sehen die meisten Texte aus dem Nachlaß aus. Die Hunderte von Fabulationsanläufen, die wir in den Nachlaßkonvoluten vorfinden, sind offensichtlich Folgen jenes Anspruchs auf absolute Einheit von literarischer Gestalt und Erfahrung, jenes Versuchs, bis an die Grenze der Möglichkeiten der Sprache vorzustoßen, dem Kafka selbst, wie schon zitiert, das Gewicht des „Ansturm[s] gegen die letzte irdische Grenze“ (KT 877) beimaß. Dieser Ansturm muß zwangsläufig in mehreren Fällen im plötzlichen Verstummen im gegebenen Augenblick enden, zumal er immer die Gefahr eines endgültigen Verstummens in sich trug.

 

Eine weitere Ursache des Fragmentarischen von Kafkas Œuvre hängt mit seiner Schreibweise zusammen, die, aufgrund von minuziösen Untersuchungen der Handschriften, von den Herausgebern der Kritischen Ausgabe in den 1970er und 80er Jahren beschrieben wurde. Malcolm Pasley hat nachgewiesen, daß Kafka in der Regel keinen festen Plan oder eine im voraus durchdachte Konstruktion der angefangenen Erzählung bzw. des Romans hatte, daß die Geschichte sich ihm gleichsam eigenmächtig unter der Hand im Laufe des zwanghaften Schreibens entwickelt hat (Pasley 1995, bes. 106, 111). Nur in so glücklichen Fällen wie Das Urteil gelang ihm „die restlose Verkoppelung von Erfindung und Niederschrift“ (ebd. 109); ansonsten stellt sich Pasley die Frage, „inwiefern man [bei Kafka] das Zustandekommen des Werkes vom Zustandekommen des handschriftlichen Textes überhaupt trennen kann“ (ebd. 104). Mit anderen Worten, Kafka wußte meistens nicht, wohin oder wie sich die Handlung oder die Figur weiter entwickeln wird, und auch wenn er, wie in Der Prozeß, im voraus bestimmt hatte, wie die Hauptfigur enden wird (das Schlußkapitel wurde unmittelbar nach dem ersten geschrieben), so wußte er nicht, warum sie so endet oder wie es zu diesem Ende kommt. Bei solch einer Schreibmethode ist nicht zu verwundern, daß die anfänglichen Situationen oder Figuren oft eine Richtung nahmen, die – wie der Autor schon nach einigen Sätzen oder erst nach einigen hunderten Seiten festgestellt hat – in Sackgassen führte oder keinen zufriedenstellenden Sinn ergab, so daß die angefangene Geschichte fallen gelassen wurde. Dies geschah besonders dort, wo sich Kafka um ein rein erzählerisches Sujet, namentlich um die große Romanform, bemühte – und seine Ambitionen richteten sich von Anfang an auf den großen Roman, wie es mehrere diesbezügliche Äußerungen bezeugen; so schreibt er am 10. 7. 1912, während der Arbeit an Der Verschollene, an Brod: „Der Roman ist so groß, wie über den ganzen Himmel hin entworfen [...] und ich verfitze mich beim ersten Satz, den ich schreiben will“ (BBr 96 / KBr I, 158).

 

Die inneren „Gegenströmungen“ von Kafkas Denken sowie die Methode der in jedem Augenblick freien Entwicklung des Grundeinfalls konnten hingegen in kurzen, gnomischen Formen zum Gelingen (bzw. zur Zufriedenheit des Autors selbst) führen: im Aphorismus, in der aphoristisch aufgebauten Kurzerzählung (Von den GleichnissenDas Schweigen der Sirenen usw.) oder auch in novellistisch geschlossenen größeren Erzählungen (Die Verwandlung). Hier kam seine Begabung zu virtuosen logischen bzw. sophistischen Spielen voll zur Geltung, hier konnte er jeden Gedanken zur unausweichlichen Aporie führen, Begriffe umkrempeln und Denkverfahren auf den Kopf stellen, und sogar jene nichts erklärenden, alles verwirrenden „Erklärungen“ in ein beunruhigend unlösbares Rätsel oder in eine vieldeutige, doch höchst suggestive sprachliche Gestalt („Odradek“) verwandeln. Und dies gelingt ihm wieder nicht nur in künstlerischen Formen, sondern, wie nebenbei, auch in der Korrespondenz; so schreibt er z. B. Ende März 1923 an den jungen Freund Klopstock: „Ich habe inzwischen, nachdem ich durch Wahnsinnszeiten gepeitscht worden bin, zu schreiben angefangen und dieses Schreiben ist mir in einer für jeden Menschen um mich grausamsten [...] Weise das Wichtigste auf Erden, wie etwa einem Irrsinnigen sein Wahn (wenn er ihn verlieren würde, würde er ‚irrsinnig‘ werden) oder wie einer Frau ihre Schwangerschaft“ (BBr 431).

 

Werk – Text

                                                                                                     

Zu Kafkas fragmentarischen oder „unfertigen“ Texten – zu jedem einzelnen wie zu dem ganzen Korpus des Nachlasses – stellt sich naturgemäß die Frage, wie sie zu handhaben sind, wenn man sie herausgeben oder interpretieren will. Das scheinbar nur theoretische Problem des Verhältnisses zwischen Text (als bloß materieller Träger der Bedeutung) und Werk (als semantisch und ästhetisch wahrnehmbare Gestalt) kann bei Kafkas Nachlaß durchaus praktische Konsequenzen haben: Welchen oder wie edierten Text soll man nämlich lesen, verstehen, auslegen, wenn man das oder jenes Werk lesen, verstehen, auslegen will? Es versteht sich heute von selbst, daß wir auch ein unvollendetes oder unvollständig erhaltenes Werk als selbständiges Artefakt wahrnehmen können: die antiken Torsi (wie schon Mukařovský argumentierte) brauchen wir nicht durch fehlende Köpfe oder Gliedmaßen zu ergänzen, um einen vollwertigen ästhetischen Eindruck zu gewinnen, und mit den literarischen Fragmenten verhält es sich im Grunde genommen ähnlich. Andererseits aber sollte aus der Tatsache, daß Kafkas Romane seiner Meinung nach mißlungen oder nicht zu dem erwünschten Sinn gediehen seien, etwas auch für den Interpreten hervorgehen: allenfalls so viel, daß er sie nicht durch „Köpfe und Arme“ vervollständigen sollte, das heißt daß er beispielsweise die vom Autor in der Schwebe gelassene Bestimmung der forschenden Hunde nicht eigenmächtig mit einer eindeutigen „Intention“ (talmudistische Schrifterklärer, Parodie moderner Wissenschaftler, usw. usf.) verbindet.

 

Damit sind jedoch nicht alle Schwierigkeiten mit Kafkas Nachlaß ausgeräumt. Aus dem besonderen Charakter von Kafkas kontinuierlichem, existentialem Schreiben (als ein weitgehend homogener Fluß von Darstellungen derselben Themen in verschiedenen Texttypen) ergibt sich einerseits eine relativ nähere semantische Verwandtschaft von verschiedenen Texten, andererseits ein größeres Gewicht der Entstehungschronologie beim Edieren. Will man den Aspekt des kontinuierlichen Schreibens konsequent gelten lassen, wird bereits die Unterscheidung (bzw. editorische Trennung) zwischen den vorwiegend privaten Tagebüchern der Quarthefte und den vorwiegend künstlerischen Texten der Oktavhefte als problematisch erscheinen. Noch problematischer ist Brods Einteilung der Oktavhefte in einen Band mit mehr oder weniger unfertigen Fragmenten (Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß) und einen Band mit anscheinend fertigen Prosastücken (Beschreibung eines Kampfes. Novellen, Skizzen, Aphorismen. Aus dem Nachlaß), weil auch die letzteren, wie gesagt, sensu stricto unvollendet (weil vom Autor nicht endgültig approbiert) sind.

 

Wenn wir theoretisch noch konsequenter sein wollten, würde sich für uns auch der Status der Streichungen (bzw. Einschübe, Varianten usw.) problematisieren: der Autor hat durch beide „Testamente“ eigentlich das ganze Korpus des Nachlasses in die Kategorie der Streichungen verschoben, so daß die Unterscheidung zwischen den im Laufe des Schreibens getätigten Einzelstreichungen und jener generellen, über dem ganzen Nachlaß verhängten „testamentarischen“ Streichung als sekundär oder rein pragmatisch erscheint. Nach welchem Kriterium sollen wir beim Interpretieren oder Edieren gewisse Teile des Nachlasses als „Werk“ berücksichtigen und andere als semantisch oder ästhetisch irrelevante Paralipomena beiseite lassen?

 

Ausgaben

 

Vor viele Fragen dieser Art stellt Kafkas Nachlaß den Interpreten wie den Herausgeber, denn hermeneutische und editorische Probleme stehen hier in enger gegenseitiger Verschränkung: verschiedene nacheinander folgende Kafka-Ausgaben spiegeln sehr anschaulich verschiedene Entwicklungsphasen der Kafka-Forschung wider. Von diesem Standpunkt aus gibt es bisher drei maßgebliche Editionsweisen: die Brodsche (in zwei Gesamtausgaben: BGS I–VI, 1935–37; BGW I–XII, 1950ff); die der Kritischen Ausgabe bei Fischer (KKA, 1982ff) und die der laufenden Faksimileausgabe (mit transkribierten Spiegelseiten) bei Stroemfeld (FKA, 1997ff).

 

Max Brods Methode fußt auf der in seiner Zeit noch üblichen Vorstellung vom Werk als Träger eines einheitlichen, fixierten Sinnes (so dunkel oder vieldeutig dieser sein mag) oder gar einer Sendung. Deshalb hat der Herausgeber das Nachlaßkorpus eingeteilt in Erzählungen, die nach gängigen Maßstäben als weitgehend abgeschlossen gelten können, und diejenigen, denen nach seinem Gutdünken der Rang eines verläßlichen Sinnträgers überhaupt nicht oder nur in eingeschränktem Maße zusteht. Im Einklang mit seinem hermeneutischen Ausgangspunkt hielt es Brod für legitim, auch einigen unfertigen Texten durch kleine technische Korrekturen (Standardisierung von Rechtschreibung und Grammatik), aber auch durch größere Eingriffe (Montage eines Textes aus einigen Varianten) zum „Werk“-Status zu verhelfen.

 

Die Kritische Ausgabe ist ein Produkt jener literaturwissenschaftlichen Phase, die sich zu Sinn und Sendung des Werks weit skeptischer verhält und das Augenmerk hauptsächlich der Authentizität des Textes (der Handschrift) widmet. Die Herausgeber verzichten nicht a priori auf den Begriff des Werks, der in der Rekonstruktion eines lesbaren Grundtextes Gestalt annimmt, doch im Apparat versuchen sie, die als semantisch relevant angenommene physische Form der Handschrift möglichst vollständig zu vermitteln, indem sie alle erhaltenen Textsignale (Varianten, Streichungen, Dichte der Schrift, benutztes Schreibzeug usw.) anführen. Wenn man die These, Kafka habe stets vor allem von sich selbst geschrieben, akzeptiert, dann ist für das Verstehen z. B. des Prozeß-Romans auch die Feststellung wichtig, daß der Autor von einem bestimmten Augenblick an nicht wußte, wie weiter (davon zeugt u. a. eine geringere oder größere Dichte der Schrift, 200–310 Wörter pro Seite; vgl. Pasley 1992, 20). Zugunsten der Authentizität der physischen Form der Handschrift wird in dieser Edition der Gesichtspunkt der Chronologie zurückgestellt: die Anordnung der Texte innerhalb des Bandes bestimmen die Schriftträger (Hefte, lose Blätter), obwohl einzelne Texte darin manchmal in verschiedenen Zeitabschnitten eingetragen wurden; abgeschwächt ist hier also die Eigenheit von Kafkas kontinuierlichem Schreiben sowie die stark diaristische Funktion eines Großteils der Nachlaßtexte. Wenn die Herausgeber weder die testamentarische „Generalstreichung“, noch die Einzelstreichungen anerkannt haben, ist die gewählte Trennung des Prosawerks (ausgenommen die Romane) – ein Band mit Drucken zu Lebzeiten, zwei Bände mit Erzählungen und Fragmenten aus dem Nachlaß – theoretisch kaum restlos begründbar, weil sich in den letzteren Bänden auch Prosastücke finden, die aus der Leserperspektive gedanklich wie literarisch vollendet, also „fertig“ sind.

 

Die Faksimileausgabe (die mit Hilfe moderner Reproduktionstechnik den Typus der diplomatischen Ausgabe vervollkommnet) radikalisiert einige Ziele der Kritischen Ausgabe, besonders das sinnbildende Gewicht der physischen Form der Handschrift. Der Hauptherausgeber Roland Reuß kritisiert in einem polemischen Kommentar zu der Ausgabe die „autoritäre Textkonstituierung“ (Reuß, 17) durch die bisherigen Kafka-Editoren und lehnt die Trennung von Grundtext und Apparat ab, womit er sich (offensichtlich in Anschluß an poststrukturalistische Theorien) prinzipiell gegen die Hierarchisierung von Zentralem und Marginalem stellt: gestrichene Stellen, Einschübe, Korrekturen, aber auch das ganze Schriftbild sollen als semantische Signale desselben Ranges angesehen werden, wie die als Grundtext anerkannten Passagen und dem Rezipienten nicht nur das Ergebnis, sondern den „Prozeß“ (Reuß, 20) des schöpferischen Aktes vermitteln.

 

Die Rechtfertigung dieser Methode liegt in dem, was wir oben als das Spezifische an Kafkas Fragmenten beschrieben haben: deren überlieferte Gestalt ist das Ergebnis des Abbrechens, nicht der endgültigen Vollendung des Schreibens, und in diesem Sinne verzichten die Editoren der Faksimileausgabe darauf, einigen Teilen der Handschrift den Rang des Definitiven zuzuerkennen. Vom Standpunkt der Forschung aus unterliegt es keinem Zweifel, daß Streichungen, unwillkürliche Schreibfehler usw. manchmal einen wertvollen Schlüssel für das Verstehen des Textes darstellen können.

 

Andererseits kann man nicht die Tatsache außer Acht lassen, daß in einer solchen Ausgabe die prinzipielle Sukzessivität oder Linearität des Lesens aufgehoben, und somit der Prozeß des Verstehens auf eine andere Ebene überführt wird: einen derart präsentierten Text kann man eigentlich nicht lesen, sondern nur komplex wahrnehmen als flächenmäßige (oder gar räumliche) Darstellung einer Menge von simultanen Signalen – oder aber man kann ihn „lesen“, etwa wie man eine Landkarte „liest“. Es fragt sich, ob oder inwieweit eine solche Ausgabe dazu angetan ist, das Wahrnehmen von Kafkas Texten als ästhetisches Phänomen im allgemeinen und Wortkunstwerk im besonderen zu ermöglichen, bzw. ob sich auf Grund einer solchen Editionsweise eine neue Ästhetik des Lesens herausbilden soll oder kann. In dem zitierten Kommentar deklariert der Herausgeber die Absicht, den „Lesetext“ durch einen Text neuen Typus zu ersetzen, den auch derjenige mit Nutzen lesen kann, der „Kafka mag“ (Reuß, 17). Diese Ambition ist schwerlich erfüllbar, und darüber hinaus ist sie überflüssig: die diplomatische oder Faksimileausgabe hat viele unersätzliche Funktionen, doch die Funktion, einen Autor für diejenigen, die „ihn mögen“, zugänglich zu machen, gehört kaum dazu.

 

Ein Widerspruch der Faksimileausgabe liegt auch darin, daß sie einerseits die Absicht, einen „Einblick in den Prozeß eines Schreibens“ (Reuß, 20) zu ermöglichen, deklariert, andererseits aber den „Primat der Schriftträger“ (ebd.) gegenüber der Entstehungschronologie betont. Wenn sich Kafkas kontinuierliches Schreiben als fortgesetztes gegenseitiges Durchdringen der realen Persönlichkeit des Autors mit seinem literarischen, alles Erlebte in Literatur verwandelnden Ich technisch-editorisch realisieren ließe, dann müßte der Herausgeber im Gegenteil alle Schriftträger aufheben und alle Texte – ungeachtet ihres Zwecks und ihrer Gattung – möglichst chronologisch anordnen, um jenen Kafkaschen Schreibfluß zu rekonstruieren. So eine kompromißlose (freilich: hypothetische) Edition wäre allerdings noch problematischer als alle bisherigen Kompromißlösungen: Was wir dann vor uns hätten, wäre vielmehr ein (ohnehin unvollständiges) Psychogramm des Menschen Kafka; was hingegen in einer solchen Edition völlig verloren ginge, ist die einfache und unbestreitbare Tatsache, daß sich aus Kafkas zwanghaftem, autobiographischen Schreiben mitunter, an mehreren Stellen, vollkommene Artefakte herauskristallisierten – Werke, die es völlig selbständig (des biographischen Hintergrundes wie der Qualen des Schreibprozesses ungeachtet) vermögen, eine starke literarische und gedankliche Wirkung hervorzurufen, also das, wodurch sich das zwanghafte Schreiben des Neurotikers Kafka vom Schreiben anderer Neurotiker wie Nichtneurotiker unterscheidet, aus dem nie etwas wie Der Prozeß oder Die Verwandlung hervorgegangen ist.

 

Siglen:

BBr= Briefe 19021924, in:Gesammelte Werke. Hg. Max Brod. Taschenausgabe in acht Bänden. Frankfurt/M.: Fischer, 1989.

BGS = Gesammelte Schriften I–VI. Hg. v. Max Brod in Gemeinschaft mit Heinz Politzer. Berlin: Schocken, 1935–37, Bd. I–IV (Bd. V–VI Prag: Heinrich Mercy Sohn)

BGW = Gesammelte Werke I–XII. Hg. von Max Brod. New York -Frankfurt/M.: Fischer, 1950ff

BKF = Max Brod – Franz Kafka. Eine Freundschaft. Briefwechsel. Hg. Malcolm Pasley. Frankfurt/M.: Fischer, 1989

F = Briefe an Felice und andere Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hg. Erich Heller und Jürgen Born, Einleitung E. Heller. Frankfurt/M.: Fischer, 1967

FKA = Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hg. Roland Reuß und Peter Staengle. Frankfurt/M. -Basel: Stroemfeld (Roter Stern), 1997ff

KBr I = Briefe 19001912 (KKA). Hg. Hans-Gerd Koch, 1999

KBr II = Briefe 1913März 1914 (KKA). Hg. Hans-Gerd Koch, 2005

KBr III = Briefe 19141917 (KKA). Hg. Hans-Gerd Koch, 2001

KKA = Kritische Ausgabe der Schriften, Tagebücher und Briefe. Hg. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit. Frankfurt/M.: Fischer, 1982ff

KT = Tagebücher (KKA). Hg. Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, 1990

 

Literatur:

Blanchot, Maurice: „Kafka und die Literatur“ (1949). In: M. B.: Von Kafka zu Kafka. Frankfurt/M.: Fischer, 1993

Born, Jürgen: „Vorahnungen bei Kafka?“ (1979). In: J. B.: „Dass zwei in mir kämpfen“ und andere Aufsätze zu Kafka. Wuppertal: Bergische Universität, 21993 (1988)

Canetti, Elias:Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice. München: Hanser, 1969 (1. Abdruck in: Neue Rundschau 1968, 185–220 und 586–623)

Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt/M.: Fischer Taschenbuchverlag, 1982 (Studienausgabe I)

Pasley, Malcolm: „Die Schrift ist unveränderlich...“Essays zu Kafka. Frankfurt/M.: Fischer, 1995; hier bes. 99–120: „Der Schreibakt und das Geschriebene. Zur Frage der Entstehung von Kafkas Texten.“

Pasley, Malcolm: „Wie der Roman entstand.“ In: Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas ‘Der Proceß‘.Hg. H. D. Zimmermann. Würzburg: Königshausen & Neumann, 1992, S. 11–33

Politzer, Heinz: „Franz Kafkas vollendeter Roman. Zur Typologie seiner Briefe an Felice Bauer.“ In: Wolfgang Paulsen (Hg.): Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur. Die Vorträge des Zweiten Kolloquiums in Amherst/Massachusetts (1. –11.5.1968). Heidelberg: Lothar Stiehm, 1969

Reuß, Roland: „Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe.“ In: FKA Einleitung. Hg. von Roland Reuß unter Mitarbeit von Peter Staengle, Michel Leiner und KD Wolff. Basel: Stroemfeld/Roter-Stern-Verlag, 1995,on-line zugänglich hier (letzter Abruf zum 11. 10. 2013)

 

 


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