Es schreibt: Aleš Urválek

(5. 5. 2023)

Hört man die Namen Hermann Bahr, Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler oder Richard Beer-Hofmann, fällt einem wahrscheinlich zuerst ein, dass es sich hierbei um die Vertreter der Wiener Moderne handelt. Umso interessanter wird der Leser wahrscheinlich den von Barbara Beßlich und Cristina Fossaluzza herausgegebenen Sammelband finden, der die Vertreter der sogenannten Wiener Moderne – neben den oben Genannten auch die weniger bekannten, wie etwa Felix Salten, Leopold von Andrian, Richard von Schaukal, Hugo Bettauer und Felix Dörmann – in den Kontext kulturkritischer Diskurse einordnet. Jede Kulturkritik, und damit auch die Kulturkritik der Wiener Moderne, um die es in den Beiträgen dieser Publikation geht, begreift die Moderne als einen ambivalenten Prozess, der neben positiven Auswirkungen auch Krisenprozesse hervorrief, deren Schattenseiten die Kulturkritik thematisiert, um normativ verbindliche Werte zu bestimmen, anhand deren die moderne Welt Ganzheit und Ordnung wiedererlangen soll. Reagiert die Kulturkritik also generell auf die Sekundärverluste, die die Moderne mit sich bringt, würde sich in diesem speziellen Fall anbieten, die Verquickung zwischen der Wiener Moderne und der Kulturkritik auch als sukzessiv aufzufassen: nach der einst modernen Phase von Jung-Wien kommt bei einigen dieser Autoren eine spätere Phase der Kulturkritik.

 

Obwohl sich die Herausgeberinnen des Sammelbandes bewusst sind, dass die Autoren der Wiener Moderne um 1890 sich in der ästhetischen Selbstreflexivität der modernen Form vom literarischen Werk relativ einig waren und dann in den späteren Stadien ihres Schaffens durchaus keine einheitlich verbindlichen poetischen und weltanschaulichen Programme formulierten, wollen sie diese Phase nicht unbehandelt lassen. Dem Leser bietet sich somit eine Konstellation der Wiener Moderne an, die der der Romantik in vielerlei Hinsicht ähnlich ist: Auch viele Romantiker vollzogen nämlich zwischen der Früh- und Spätphase ihres Schaffens einen großen Wandel vom selbstreflexiven (vor-)modernen Schreiben und Denken hin zu kulturkritischen Diagnosen und konservativen Einstellungen, die oft stark politisch motiviert waren. Und wenn wir von der Wiederspiegelung der Moderne und der Romantik sprechen, die in ihrer frühen Phase oft als Archäologie der Moderne angesehen wird, ist es wohl dann kein Zufall, dass auch die späte (Wiener) Moderne sich bei ihrer kulturkritischen Wende von der Spätromantik inspirieren ließ, insbesondere von Adam Müller, dessen (neue) Sammelausgabe in den 1920er Jahren eine intensive Rezeption erfuhr. Im Fokus der vorliegenden Publikation steht die Entwicklung ästhetizistischer und dekadenter – politisch und gesellschaftlich indifferenter – künstlerischer Konzepte, die bereits während des Ersten Weltkriegs einen Wandlungsprozess durchliefen, und die nach 1918 häufig von Kulturdiagnosen konservativer Prägung abgelöst wurden, in denen sich die weitreichenden geo- und gesellschaftspolitischen Umwälzungen im gesamten mitteleuropäischen Raum maßgeblich widerspiegeln. Verunsicherungen, Ängste sowie Verlustgefühle, die mit dem Anbruch der postimperialen Welt einhergingen, führten in vielen Texten der Autoren der Wiener Moderne ab den 1920er Jahren zur Formulierung unhinterfragbarer Werte, Formen, Bindungen und Haltungen, auch wenn sich diese größtenteils affirmativen Konzepte – wie bereits erwähnt – bei einigen Dichtern (etwa bei H. von Hofmannsthal) bereits während des Krieges bildeten.

 

Im Großen und Ganzen verfolgen die Beiträger dieses Sammelbandes (die deutschen, österreichischen und italienischen Germanisten, die sich unter dem Dach einer großzügig angelegten bilateralen Kooperation zwischen den Universitäten Heidelberg und Venedig zusammenfanden) vor allem die Konturen der oben erwähnten Transformationsprozesse. In diesem Rahmen konzentrieren sie sich beispielsweise auf die Renaissance antidemokratischer und antiliberaler elitärer Programme der Kulturerneuerung, die den Untergang des Imperiums sowie des sozialen Adelsstatus (in Österreich) nach 1918 durch Anlehnung an übernationale Staatsgebilde europäischen Formats kompensierten. An den unterschiedlichsten Formen des kulturkritischen Aristokratismus nahmen sehr oft eben österreichische Intellektuelle aktiv teil, für die die diversen europäischen aristokratischen (genauer gesagt postaristokratischen) Plattformen (von R. N. Coudenhove-Kalergi oder K. A. Rohan) eine willkommene Gelegenheit darstellten, den eigenen postimperialen Kater in neue Visionen des österreichischen Europäismus zu transformieren – bei diesem undemokratischen Prozess erhoben sie den Anspruch, das Sagen zu haben, v. a. wenn es um den Widerstand gegen die modernistisch kritische Ausrichtung ging. Die Beiträger des Sammelbandes reflektieren die semantische Ebene der Verschiebungen zwischen der frühen und späten Wiener Moderne, sie konzentrieren sich auf die massive Instrumentalisierung bestimmter Begriffe wie etwa Barock oder Aufklärung, denen immer mehr Bedeutungen hinzugefügt wurden, damit man sie entweder als völlig ahistorische und somit uneingeschränkt geeignete Identifikationsquellen bei der Suche nach einer postimperialen österreichischen Identität (Barock oder der sog. „zweiter Barock“ im Konzept des späten H. Bahr als Selbstbehauptung der katholischen, vielschichtigen, übernationalen, post-imperialen, konservativen, volkstümlichen Österreich-Idee) oder in genauso pauschalisierendem Geist als abgrenzungsfähige Negativfolie (wie man es – wenig überraschend – bei den völlig zweckmäßigen Rekonstruktionen des Begriffs der Aufklärung sieht) anwenden konnte. Versuche, die Wiener Kulturkritik als einen – im Wesentlichen modernen – reflexiven Modus der Moderne zu beschreiben, sind hier in der Minderzahl vertreten. Hinweise darauf, dass einige kulturkritische Propheten ihre Visionen und Verheißungen schließlich einer weiteren Reflexion unterzogen und sie damit der Möglichkeit endloser Relativierung und reflexiver Verunsicherung aussetzten, finden sich stellenweise in den H. Bahr gewidmeten Beiträgen. Dass die Fälle, in denen die Kulturkritik durch diese reflexive Schleife sozusagen in den Schoß der Moderne zurückkehrt, aus der ihre Korrektur geboren wurde, eher eine Ausnahme als die Regel darstellen, illustriert auch der insgesamt geringere Anteil der Beiträge, die die Fälle von Fiktionalisierung im Dienste der Hinterfragung von kulturkritischen Haltungen und Vorgehensweisen thematisieren. Umso mehr ist in diesem Zusammenhang C. Fossaluzzis Studie zur Komödientrilogie O du mein Österreich von A. Schnitzler hervorzuheben, die insbesondere das Stück Fink und Fliederbusch und das Fragment Wort als gelungene Beiträge zur Kritik kulturkritischer Praxis interpretiert.

 

Dennoch scheint H. von Hofmannsthal das Zentrum des Sammelbandes darzustellen: Im ersten Block der Beiträge, die unter dem Titel Elitäre Konzepte und Traditionsbildung zusammengefasst wurden, stellte T. Heise ihn als einen führenden Vertreter der europäischen Bewegung der sog. kreativen Restauration vor, der mit K. A. Rohan an der Ausbildung des österreichischen übernationalen Europäismus im Rahmen von Rohans Projekten des Kulturbundes sowie auf den Seiten der Europäischen Revue (1925–44) eng zusammenarbeitete. Hofmannsthal wird hier somit auf eine originelle Weise in den bisher wenig erforschten Kontext der europäischen Idee nach 1920 gestellt, die sich in vielen europäisch orientierten Zeitschriften der Zeit profiliert, bei denen jedoch das zeitbedingte unterschiedliche Ausmaß von Nationalismus, Antiliberalismus und antimodernistischem Elitarismus und Autoritarismus immer mit Vorsicht zu beurteilen ist, zu denen auch die Europäische Revue im Laufe der Zeit immer mehr tendierte (partielle Sympathie für den Faschismus wurde durch offensichtliche Kollaboration mit dem Nationalsozialismus ab Mitte der 1930er Jahre abgelöst), wenn auch ihre Anfänge – mit einem wesentlichen Beitrag von Hofmannsthal – sich durch relativ liberale Einstellungen, eine europäisch-intellektuelle Polyphonie, auszeichneten.

 

Hofmannsthals Vision eines postimperialen Europas mit dem Zentrum in Österreich, die von Heise zu Recht als imperiale „Mischung“ aus dem Heiligen Römischen Reich, dem Kaisertum Österreich und der österreichisch-ungarischen Monarchie bezeichnet wird, entpuppt sich somit als eine Art Soft-Version einer neuen europäischen Ordnung mit der kulturell-geistigen Hegemonialrolle Österreichs, d. h. als eine faktische Übertragung der geistigen und konservativbasierten Dispositionen des Reichs auf nachimperiale Verhältnisse. Parallel dazu übertrug Hofmannsthal diese Haltung auf seine anderen, kulturell ambitionierten Projekte, die – wie N. Ch. Wolf am Beispiel der Salzburger Festspiele demonstriert – durchaus den traditionalistischen und konservativen kulturkritischen Ideen verpflichtet waren, die nicht nur der frühen Wiener Moderne widersprachen, sondern auch vielen Wiener Weggefährten Hofmannsthals nicht konvenierten, bei denen diese kulturkritische Tendenz nicht derart stark bzw. offensichtlich war (Schnitzler, Beer-Hofmann). Mit wem Hofmannsthal in der Grundausrichtung hingegen einverstanden gewesen wäre, war Hermann Bahr, dessen Vision des „zweiten Barock“ (mit den pauschalen, von G. Streim oben angedeuteten Appropriationen) Hofmannsthal nicht fremd war. Abgerundet werden die Beiträge des ersten Teils durch Beiträge zum Aristokratismus als kulturkritischem, semantisch nicht sehr scharf profiliertem, aber umso attraktiverem antiliberalem Konzept (J. Strobel), ferner durch eine gründliche Kontextualisierung der kulturkritischen Arbeit des aus Brünn stammenden Richard Schaukal (M. Pirr), deren Schlussfolgerungen bereits der Titel des Beitrags vorwegnimmt, der Schaukals kulturkritisches Werk zwischen Elitismus und Ressentiment verortet. Mit der Zeit und der schwindenden öffentlichen Resonanz seiner Texte habe sich Schaukal laut Pirr immer mehr in seine antisemitischen Ressentiments und radikalisierten antiliberalen Ausbrüche verstrickt, was ihn folglich daran hinderte, eine glaubwürdige Position zu formulieren, die zumindest eine verhältnismäßig konsistente Orientierungshilfe in der schwierigen Zeit geboten hätte.

 

Hofmannsthals zentrale Position widerspiegelt sich auch im zweiten Teil der Publikation, der sich mit der Herausbildung nationaler Identitäten befasst; Hofmannsthal wird zunächst Rudolf Borchardt als ein Intellektueller gegenübergestellt, der – im Gegensatz zu Borchardt – bereit war, seine militante Haltung von August 1914 während des Ersten Weltkriegs zu transformieren und sie bis zu einem gewissen Grad aufzuweichen und vom Nationalismus zu befreien, der aber andererseits der oben angedeuteten Versuchung nicht widerstehen konnte, für Österreich die Rolle eines privilegierten Trägers der nur scheinbar postimperialen Europaidee zu beanspruchen und ihm damit die wenig sympathische Idee einer weltgeschichtlichen Mission aufzubürden. In der Studie von J. Andres wird diese Mission mit Hofmannsthals spätem Vortrag Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation (1927) in Zusammenhang gebracht, der die österreichische Idee des Europäismus – unter Berücksichtigung anderer, bisher nur minimal berücksichtigter Inspirationsquellen – wieder eher als ein übernationales Projekt konservativer Erneuerung auf deutsch-österreichischem Grundriss liest, das allerdings ohne romanistische Inspirationen und Implikationen undenkbar ist. Andres‘ inspirierende Studie folgt auch der relativ starken holistisch-physiognomischen Linie von Hofmannsthals Überlegungen, der zu Gunsten seines Konzepts verschiedene Profile von intellektuellen Gesichtern, Formen und Charakteren beschwört, die berechtigt sein sollten, den Prozess der konservativen Revolution oder die kreative Wiederherstellung des geistigen Europas mitzugestalten. Der Charakter des zweiten Buchabschnitts wird einerseits durch H. Dorowins Studie über Andrians illusorische, aber für das österreichische Umfeld durchaus charakteristische Bestrebungen vervollständigt, die die konservative Form der standeshierarchischen Organisation gegen den hegemonialen Druck aus Deutschland zu verteidigen suchten, etwa im Sinne der Theorien von O. Spann, der diese Projekte trotz vieler Gemeinsamkeiten im Keim erstickte. Mit einem gewissen bitteren Nachgeschmack liest sich dann die gute Studie von K. Ifkovits über Bahrs Kulturkritik in dessen Tagebucheinträgen für das Neue Wiener Journal von 1927–1931, wo Bahr sich an das bereits erwähnte antiliberale Konzept des zweiten Barock anlehnt, dem er später blindlings aktivistische und autoritäre Elemente implementiert, bis er als verbitterter Antimodernist endet, den sein antizivilisatorischer Konservatismus in eine unverkennbare Nähe zu den Nationalsozialisten lockt.

 

Und drittens gilt Hofmannsthals zentrale Position auch für die dritte Beitragssektion, die vorhat, das ästhetische Potential von Kulturkritik an der Schnittstelle von Medienexperimenten zu verifizieren. Zunächst wird dem Leser ein kürzerer Vergleich des bekannten Chandos-Briefs mit ein paar anderen kürzeren Textfragmenten von Hofmannsthal geboten, in denen sich Chandos’ Gefühl der Sprachkrise in fragmentarischen Texten als gesamteuropäische Krise widerspiegelt. Es folgt dann eine ziemlich langatmige Überlegung über die dialogischen Essays Hofmannsthals. Im letzten Block sollte die spannende Studie über die Kulturkritik der Operette von B. Beßlich hervorgehoben werden, in der am Beispiel von Schnitzlers, Saltens und Dörmanns für Oscar Straus geschriebener Libretti der Frage nachgegangen wird, inwiefern die damalige Operette – eine für Karl Kraus völlig dekadente Gattung – ein Objekt bzw. Subjekt der Kulturkritik sei, besser gesagt inwiefern sie als ein Medium fungiert, das diese Kulturkritik formuliert und reflektiert. Anregende Lektüre bieten auch andere Beiträge des dritten Blocks, sei es der Text über Saltens Roman Bambi, oder Dörmanns Roman Jazz, ferner die Studie über Beer-Hofmanns großartigen, jedoch unvollendeten Roman über den biblischen König David oder aber die Demontage des Casanova-Mythos in Schnitzlers Spätnovelle Casanovas Heimfahrt, in der der Aufklärer Voltaire die Hauptrolle spielt, und vor allem ein Text über T. Manns Anti-Aufklärungstext Gedanken im Kriege, dessen Gegenüberstellung von Zivilisation (Voltaire) versus Kultur und Soldatentum (Friedrich der Große) Schnitzler detailliert auseinandernimmt.

 

Der Sammelband bringt wertvolle und innovative Einblicke in eine jedenfalls zu Unrecht vernachlässigte Phase der Wiener Moderne, die uns eine traurige Geschichte über das berüchtigt konservative Ende der einst fortschrittlichen Moderne bietet, die uns aber gleichzeitig auch einen umfassenden Blick auf die Transformation poetischer und gesellschaftspolitischer Programme nach dem Ende des Habsburgerreiches präsentiert. Dass dieses Thema bei weitem noch nicht erschöpft ist, zeigt etwa die Tatsache, dass die Mitherausgeberin des Sammelbandes, B. Beßlich, kürzlich eine umfangreiche Monographie veröffentlicht hat, deren Thema genau dort ansetzt, wo der Sammelband endet (Das junge Wien im Alter. Spätwerke (neben) der Moderne, 19051938), und ferner auch die Tatsache, dass ein ähnliches Team in diesem Jahr einen Sammelband zur Veröffentlichung vorbereitet, der sich antiliberalen europäischen Konzepten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts widmet, deren intellektueller Nährboden in vielen Fällen gerade die Wiener Geistesatmosphäre war.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Barbara Beßlich / Cristina Fosaluzza (Hgg.): Kulturkritik der Wiener Moderne (1890–1938). Heidelberg: Universitätsverlag Winter GmbH, 2019, 344 S.


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