Es schreibt: Michaela Peroutková

(23. 3. 2023)

Die zweisprachige Veröffentlichung Mai 1945 in der Tschechoslowakei. Erinnerungen jenseits und diesseits der Grenze. / Květen 1945 v Československu. Vzpomínky na jedné i druhé straně hranice (2020), herausgegeben von Kateřina Kovačková, enthält zehn Erinnerungstexte über die Ereignisse am Ende des Zweiten Weltkriegs in der Tschechoslowakei, erzählt von Zeitzeugen, die damals Kinder im Alter von fünf bis fünfzehn Jahren waren. Die Herausgeberin konzentrierte sich vor allem auf Erlebnisse im Zusammenhang mit der Vertreibung deutschsprachiger Bevölkerung aus Böhmen und Mähren oder deren Verfolgung. Wie der Untertitel der Publikation bereits andeutet, werden hier einerseits die Erinnerungen derer festgehalten, für die das Kriegsende einen grundlegenden Wendepunkt in ihrem Leben bedeutete, die ihre Heimat verloren und sich an eine neue Umgebung anpassen und ein neues Leben beginnen mussten. Es werden hier andererseits auch Erzählungen derer aufgezeichnet, die in der Tschechoslowakei geblieben sind oder hier ihre neue Heimat gefunden haben, allerdings unter widrigsten Umständen. Bis auf eine Ausnahme stammen alle Zeugen aus dem deutschsprachigen Milieu, nur ein Befragter wuchs in einer gemischten Familie auf, und seine Eltern bekannten sich nach der Besetzung des Sudetenlandes durch Nazideutschland zur tschechischen Nationalität.

 

Die Erinnerungen werden vom Vorwort der Herausgeberin eingeleitet, das aus der Perspektive eines Schulkindes geschrieben ist, das „eine Art weißes Band sieht, das nie endet… [und das] sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt hat.“ (S. 17) Obwohl dieses kleine Mädchen nur eine sehr vage Ahnung vom Krieg und dessen Auswirkungen hat, versteht es ihn als Vorboten des Endes eines unbeschwerten Lebens und des Beginns einer leiderfüllten Zeit. Die Herausgeberin versucht hiermit, dem Leser die Befindlichkeit und Gefühle der Befragten näher zu bringen, die damals die Schrecken des Kriegsendes erlebten, was jedoch gleichzeitig eine gewisse Vorstellung von Unschuld und Naivität suggeriert, die zu einer Vereinfachung oder sogar Verzerrung historischer Ereignisse führen kann. Im Vorwort erklärt die Herausgeberin, sie sei sich der Subjektivität von Augenzeugenberichten bewusst, sie spricht ferner von der „Familientradition des Geschichtenerzählens“ (S. 20) und merkt an, sie habe in diese Erzählungen absichtlich nicht eingegriffen, damit sich der Leser eigene Meinung bilden könne. Das Erinnern an die ferne Vergangenheit ist bekanntlich immer subjektiv und daher mehr oder weniger verzerrt, deshalb wäre es hilfreich gewesen, wenn Kovačková die ungenauen oder sogar irreführenden Daten mit einem Hinweis im Anmerkungsapparat oder auf eine andere, geeignete Weise korrigiert oder erklärt hätte. Der Leser könnte sich so besser im Text orientieren und er würde auf Abweichungen von den tatsächlichen Gegebenheiten aufmerksam gemacht. Als Beispiel kann das „gelbe Band am Ärmel“ (S. 97) dienen, das von einem der Augenzeugen erwähnt wird. Der Augenzeuge hatte wohl das weiße Band im Sinn, das die deutsche Bevölkerung tragen musste, gelbe Bänder kamen in keiner Situation vor. Das Problem mit der Verwechslung der Farben besteht darin, dass die damals als Stigma empfundene Farbe Gelb eine Assoziation mit Juden weckt, die während der NS-Diktatur einen gelben Stern tragen mussten. Es wird dadurch suggeriert, dass der Zeuge sich bewusst oder unbewusst mit den jüdischen Opfern identifiziert, was zu einer völlig verzerrten Wahrnehmung der geschichtlichen Ereignisse führt, indem Täter und Opfer verwechselt werden. Ähnlich verhält es sich mit der Geschichte von Frau Sieglinde, wenn sie schildert, wie ihr Bruder und andere Menschen „in das Konzentrationslager Rabštejn gebracht wurden, wo sie schwersten Folterungen ausgesetzt waren“ (S. 155). Nach Kriegsende – d. h. zu der geschilderten Zeit – war das (übrigens von Hitler errichtete) Konzentrationslager Rabštejn jedoch nicht mehr in Betrieb. Es wurde verwendet, um inhaftierte NSDAP-Mitglieder, Mitglieder der Gestapo, SS, SA und andere aktive Unterstützer Nazideutschlands zu versammeln. Die Formulierung „in ein Konzentrationslager gebracht“ ruft erneut die Vorstellung hervor, dass er als unschuldiges Opfer (wie Juden während des Hitler-Regimes) grundlos in ein Internierungslager nach nationalsozialistischem Vorbild abgeschleppt wurde. Der einfache Leser wird diese Informationen wahrnehmen, aber nicht mehr wissen, dass dies historisch nicht der Fall gewesen sein kann, da die NS-Konzentrationslager am Ende des Krieges abgeschafft wurden. Die Tatsache, dass einige Konzentrationslager der Nazis zu Internierungslagern für Hitlers Anhänger und für zur Deportation bestimmte Deutsche umfunktioniert wurden, hätte eine angemessene Erklärung verdient. Die Liste ähnlicher Ungenauigkeiten ließe sich fortführen.

 

In einem ähnlich versimpelnden Ton ist die gesamte Publikation konzipiert, es heißt, das erklärte Ziel sei, „das zu sehen, was war, damit abzuschließen, sich zu versöhnen und alles hinter sich zu lassen.“ (S. 19) Die Publikation richtet sich zwar an die breite Öffentlichkeit und erhebt somit keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, trotzdem sollte sich auch eine populärwissenschaftliche Publikation an die Prinzipien kritischen Denkens halten. Der Mangel an einer kritischen Herangehensweise kann zu einem grundlegenden Missverständnis oder einer Vereinfachung der Geschichte führen, das Ergebnis könnte dann nicht unbedingt die erklärte Versöhnung, sondern vielmehr eine verzerrte oder widersprüchliche Wahrnehmung von Werten wie Verantwortung, Nächstenliebe und Leid sein. Schade, dass die interessanten und zweifellos nützlichen Erinnerungen der Zeitzeugen nicht einheitlich und systematisch, sondern eher wahllos aufgearbeitet wurden. Das Buch enthält zum einen sechs Interviews, von denen drei der Datenbank der Organisation Post Bellum entnommen wurden, zum anderen arbeitet die Herausgeberin mit vier anderen schriftlichen Erinnerungen von Zeitzeugen, von denen ein Text aus einem unveröffentlichten Manuskript stammt (Baldur Tomandl). Die mündlichen und schriftlichen Formen des Erinnerns sind als Quelle der subjektiven Wahrnehmung historischer Ereignisse sehr unterschiedlich, da Gespräche ihrem Wesen nach mit der Methode der Oral History und die schriftlichen Erinnerungen wiederum mit der hermeneutischen Deutung des Textes verbunden sind. Es leuchtet nicht ein, warum die Herausgeberin bei der schriftlichen Aufzeichnung mündlicher Äußerungen die Er-Form und im Fall der schriftlichen Erinnerungen die Ich-Form verwendet, während eher das Gegenteil angebracht gewesen wäre.

 

 

Dank seiner Zweisprachigkeit ist das Buch von Kateřina Kovačková sowohl für tschechische als auch für deutsche Leser zugänglich und zeigt deutsche sowie tschechische Narrative über die dramatischen Ereignisse von 1945 und 1946. Es ist interessant und nützlich für das geschichtsinteressierte Laienpublikum, das mehr über das Schicksal der deutschsprachigen Einwohner der Tschechoslowakei erfahren möchte, die Teil der tschechischen Vergangenheit sind. Der größte Beitrag ist in der Vielfalt der jeweiligen Geschichten zu sehen, die sowohl Antifaschisten als auch deutsche Nationalisten, die Hitler unterstützen, porträtieren oder aber die Nachkommen tschechischer evangelischer Exilanten, der sog. Repatrianten (Heimkehrer), die 1945 vor der Roten Armee aus Ostpreußen flohen – hier widerspiegelt sich nämlich die Komplexität der Vergangenheit und die Notwendigkeit einer komplexen Perspektive auf sie. Schade, dass die Herausgeberin die Publikation nicht redaktionell bearbeitete und die Texte nicht mit Erklärungen ergänzt hat, die zum besseren Verständnis komplexer und traumatischer historischer Ereignisse beitragen würden. Am Ende des Buches sind die Quellen des Bildmaterials aufgeführt, das die einzelnen Geschichten illustriert. Es fehlt ferner ein Fazit und ein Literaturverzeichnis. In Anbetracht all der bereits erwähnten Mängel kann das Buch nicht als ein Fach- oder Sachbuch, sondern eher als eine deskriptive Publikation bezeichnet werden.

 


 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Kateřina Kovačková (Hg.): Mai 1945 in der Tschechoslowakei. Erinnerungen jenseits und diesseits der Grenze. / Květen 1945 v Československu. Vzpomínky na jedné i druhé straně hranice. Berlin / Münster: LIT Verlag, 2020, 191 S.


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