Es schrieb: Emil Saudek

(18. 1. 2023)

Im Laufe des Jahres 2022 erschienen – als finale Ergebnisse eines von der Grantová agentura ČR geförderten Forschungsprojekts – gleich zwei Monographien, die sich auf unterschiedliche Weise auf die Person des beachtenswerten Literaturvermittlers Emil Saudek konzentrieren. Der Böhlau-Verlag veröffentlichte einen Band von Studien, der (herausgegeben von Lucie Merhautová, Václav Petrbok und Michal Topor) den Untertitel Ein Übersetzer und Kulturvermittler zwischen Metropole und Provinz trägt, unter der Federführung des Institut pro studium literatury wurde sodann der Band Nalezen v překladu. Emil Saudek (1876–1941) [Found in translation. Emil Saudek (1876–1941)] (Hg. L. Merhautová und M. Topor) zusammengestellt und veröffentlicht, dessen Autorenteam außer den Herausgebern Vratislav Doubek, Ines Koeltzsch, Josef Vojvodík und Štěpán Zbytovský angehörten. Der tschechischsprachige Band ist in bedeutendem Maße auch als Anthologie von Saudeks Texten konzipiert. Diese bilden eine dichte, fortlaufende Schicht – eine Linie so genannter „Dokumente“, die über hundert Artikel (z. B. über das Werk Březinas, Machars, aber auch über Hugo Sonnenschein /vgl. E*forum 23. 10. 2019/, Josef Popper-Lynke, Max Brod, Franz Werfel) und Briefe umfassen. Zu dieser Schicht gehört (auf S. 485490) auch der Artikel Člověk křičí [Der Mensch schreit], den Saudek am 14. 5. 1916 im Vídeňský deník [Wiener Tageszeitung] publizierte. Sein Hauptgegenstand war Albert Ehrensteins Band Der Mensch schreit (mit Ehrenstein verband ihn zu jener Zeit seine Zuneigung zum Werk Březinas – er konsultierte während des Krieges mit ihm seine Übersetzung der Gedichtsammlung Větry od pólů [Winde von Mittag nach Mitternacht], Ehrenstein selbst übersetzte für den Almanach Vom jüngsten Tag. Ein Almanach neuer Dichtung /1916/ Březinas Modlitba za nepřátele [Gebet für die Feinde]); in diesem Buch – in einem Kommentar und durch die Übersetzung ausgewählter Verse – konnte Saudek tschechischen Lesern ein starkes Stück Poesie, für die ansonsten zu jener Zeit im tschechischen Umfeld anscheinend nicht viel Sympathie bestand, zumindest vorstellen.

 

mt

 

 

Der Mensch schreit

 

Mackensen selbst, der eiserne Architekt menschlicher Schicksale, war es, dessen tapferer Brust sich der bange Aufschrei entrang, der Krieg beraube uns der Besten.

 

Zwei Dichter der modernsten deutschen Literatur sind von uns gegangen, leider – und beide sind dem unerbittlichen Mars zum Opfer gefallen. Ihr Schicksal ist so ergreifend, dass wir alle, welcher Nationalität auch immer, die wir uns zu der einen, gemeinsamen Familie der nunmehr verwaisten allgemein menschlichen Kultur zählen, ihre Gräber nicht übergehen dürfen. Ernst Stadler, geboren am 11. August 1883 in Colmar, fiel im November 1914 auf den Schlachtfeldern im Westen. Georg Trakl, geboren am 3. Februar 1887 in Salzburg, starb am 3. November 1914 in Krakau. Ernst Stadler, sagt sein deutscher Kritiker, überwältigte seine Zeitgenossen durch die Pracht und die Meisterschaft seines Wortes und noch mehr durch die Kraft seiner moralischen Leidenschaft und die Freiheit seines Geistes. Als Liebhaber der französischen Literatur übertrug er Verse von Francis Jammes (Die Gebete der Demut, Kurt Wollf 1921) und fiel – welch Ironie des Schicksals – als Leutnant der Artillerie im Kampf gegen eben jenes Volk, dessen Dichter er so rührend liebte. Seine letzten Gedanken und Gefühle waren – so teilt uns der erwähnte Kritiker in seinem Nachruf mit – wohl ähnlichen Charakters wie jene, mit denen sich Fürst Andrej aus Tolstojs Krieg und Frieden trägt, als er im Feld stirbt…

 

Georg Trakl, österreichischer Sanitätsleutnant, hielt fünf Tage „Gródek“ in einem polnischen Lazarett aus, wo er mit einem Entsetzen, das nur dem Dichterherzen eigen ist, zusehen musste, wie es dort an Ärzten und am allernötigsten Verbandsmaterial mangelte. Da wollte er sich töten. Er klagte: „Nein, ich kann nicht mehr leben, ich muss mich erschießen.“ Man brachte ihn „zur gründlichen Beobachtung seines Geisteszustands“ ins Garnisonshospital in Krakau. Hier erdrosselte ihn die schwarze Hand der Melancholie. Sein getreuer Diener, der wackere Bergmann Mathias Roth hat uns die Nachricht hinterlassen, dass der Leichnam eine schwere Verletzung an der Schläfe aufwies und eine zweite Wunde am Hals (wahrscheinlich von der Obduktion). Des Dichters Herz war vor allzu großem Mitgefühl zersprungen. Was auch immer der äußerliche Hergang seines Todes gewesen sein mag; seine Verse verraten alles:

 

„Menschheit vor Feuerschlünden aufgestellt,

ein Trommelwirbel, dunkler Krieger Stirnen,

Schritte durch Blutnebel, schwarzes Eisen schellt,

Verzweiflung, Nacht in traurigen Gehirnen…“

 

Ein tragischer Tod sichert allzu häufig auch kleineren Geistern die Unsterblichkeit. Aber diese Dichter sind für uns gestorben, und zwar in einem höheren Wortsinn, als unzählige andere Soldaten für uns sterben. Sie starben an ihrem Schmerz und Entsetzen über die Ironie des Schicksals, zwei Herzen, die alles in höchstem Maße liebten und denen das schwere Los zufiel, alles zu hassen…

 

*

 

Trakls Fall wirkte mächtig inspirierend auf einen Gedichtband Albert Ehrensteins, eines jungen Wiener Dichters aus dem Umkreis der Weißen Blätter, den der bekannte Verlag Kurt Wolff unter dem suggestiv-zutreffenden Titel Der Mensch schreit in Leipzig veröffentlichte. An dieser Sammlung interessiert uns besonders jener größere Teil, der Motiven unserer kriegerischen Zeiten gewidmet ist. Unter den heutigen chaotischen Bedingungen stellt er eine mutige Tat dar und muss von allen gelesen werden, die unter den Anlagerungen unterjochender Suggestionen bereits das Erwachen dürstender Menschlichkeit spüren.

 

Mit dem Wiener Künstlermilieu – um nicht zu sagen mit dem bekannten Wienertum – verbindet Albert Ehrenstein kaum mehr, als dass er im Proletarierviertel Ottakring wohnt, die Typen, die es bevölkern, sehr gut kennt und gesellschaftlich mit einer literarischen Gefolgschaft verkehrt, die zwar insgesamt seinen scharfen Verstand anerkennt, sich aber in keiner Weise mit ihm identifiziert. Karl Kraus, der Herausgeber der Fackel, äußerte einmal, dass Albert Ehrenstein die unerwartete Tatsache verkörpert, dass die Dichterkraft in Wien doch wieder einmal erstarkt ist ... Der Dichter hatte damals zwei Prosa-Bände herausgegeben: Tubutsch und Der Selbstmord eines Katers. Dort spricht der Autor über die Maßen ehrlich, enthüllt sein Innerstes in einer Sprache, die schon damals auf geniale Weise dreist und schamlos ist. Doch der Trübsinn verbindet sich mit der stolzen Güte eines Geistes, der nicht weiß, wo er sich in der nichtsnutzigen Gemeinheit seiner Umgebung sinnvoll verausgaben soll.

 

Den grotesken Weltschmerz dieser Schriften kündigte bereits die Lyrik dieses eigenartigen, in der Wahl seiner Gegenstände und des künstlerischen Ausdrucks kühnen und verdammten Enfant terribles der so genannten besseren menschlichen Gesellschaft an. Soeben erschien eine zweite umfangreiche Gedichtsammlung desselben Autors, Die weiße Zeit (im Verlag Georg Müller), in der ein gefragter, wunderbarer Lyriker zu Wort kommt, glücklicher Beherrscher musikalischer Rhythmen, in die nur selten Reime eingestreut sind; das schwerfällige Wortmaterial des Deutschen (das schon Goethe Verdruss bereitet hat) ist mit bemerkenswerter Sparsamkeit bearbeitet. Inhaltlich staunenswert ist die Nacktheit der Seele: raubtierhafte, elementare Leidenschaft, Zorn, Satire und Invektive, Bitterkeit und Rache. Die Entrüstung eines jungen Mannes, eines genialen Menschen, Schlingel und Dandy in einer Person. Keine Spur von Wiener Sentimentalität, von der mystischen Geistesverfassung der Gegenwart oder dem Glauben an eine verborgene wundermilde Ordnung: kein blasser Schimmer. Eine Art negativer Walt Whitman, ebenso ausladend in seinem elementaren Gestus, aber unzufrieden, zum Schweigen gebracht, abgelehnt und fluchend, einer der Erlösung nötig hat und nach ihr sich sehnt:

 

Ich bin der Winselwind, der Pfützen trübt,

Ich bin der Blitz, der zuckend verzuckt,

Ich bin der Schnee der kommt und vergeht,

Ich bin die Ruderspur,

die sich im Teich verliert,

Ich bin der Samen im Schoß einer Hur!

 

Diese Schmerzen können uns jedoch nicht in dem Maße ergreifen wie der letzte Band Der Mensch schreit. Dies ist Lektüre nicht nur für Künstler und Genießer, sondern für alle Menschen. Denn hier ist jedes Wort auf lange Zeit hinaus dynamisiert durch den Atemhauch und Rauch unserer schweren Tage.

 

Die Zeit der „fleischlosen Tage“ hat auch die Liebe versklavt; Fürsten und Grafen kaufen sie „für den gelben Dreck des Geldes“. Keine Nausikaa legt dem verlassenen Herrscher Ithakas die Arme um den dürstenden Hals. Ein gefangener Dichter beklagt das heutige Land, den heutigen Monat und ruft – in einer völlig zeitgemäßen Terminologie – den Weltenherrscher an:

 

Generalgewaltiger, Weltwebel im Geldall.

 

Die Frauen werden verworfen:

 

Seh’ rüstige Gebärerinnen

Verreckende Verehrer minnen ...

 

Dem Dichter sind die Frauen aus guten Familien verhasst, er sieht in ihnen jungfräuliche Dirnen:

 

Immer gehört dem Nahen das Weib,

nicht flieht das Wasser vor dem trinkenden Ochsen

wenig bedeutet das gierige Sträuben eines Mädchens.

 

Man könnte eine hübsche Liste der artigen Beschimpfungen und Höflichkeiten zusammenstellen, mit denen Ehrenstein – ein leidender, abgewiesener Grobian – die schönen Töchter ehrenwerter Familien bedenkt. Unnötig, dagegen den Stein des moralischen Anstoßes zu erheben. Endlich macht sich auch einmal eine Seele, die in höheren Sphären geboren ward – und dort zu Hause ist – mit rechtschaffenem Donnergetöse Luft! Ist denn nicht wenigstens die Aufrichtigkeit – gerade die höchste, schamlose Aufrichtigkeit – das Privileg der Dichter? Wohl nur in der Antike, bei Catull, Horaz und Ovid – doch auch bei Homer – klagt so unumwunden der hungrige liebende Mann, flucht der Prophet und der niederträchtige Rächer. Ehrensteins Lyrik – die ansonsten in ihrer formalen und ideellen Beschaffenheit derjenigen vieler anderer moderner Deutscher (Else Lasker-Schüler, Hugo Sonnenschein usw.) ebenbürtig ist, ist unter diesem Aspekt des „Fallens der letzten Hüllen“ einzigartig. Jedoch weist auch der Aufbau seiner Gedichte interessante, ungewöhnliche Nuancen auf. Augenscheinlich zeichnet der Dichter einzelne Bilder, Alltagsszenen und poetische Einfälle auf. Häufig zunächst nur in einem kurzen Vers. Dieser wird nach Bedarf Teil größerer Kompositionen. So finden wir solch urwüchsige Zellen, eingebunden in ein neues organisches herrschendes Ganzes in Gedichten wieder, in denen sie häufig ihren bisherigen eigentümlichen unberührten Charakter beibehalten. Die Kristallisation des Gedichts ist somit fast immer massenweise: als Druse oder Traube mischt sie ein völlig menschliches, persönliches Erlebnis mit einem überpersönlichen Thema, die Farce mit der Tragödie.

 

Eine kleine Anmerkung zur Wort- und Verstechnik: freier Vers, gewöhnlich kurz, manchmal jedoch bis zur Breite der der Strophe der englischen Bibel auseinanderfließend, zahlreiche Assonanzen und Alliterationen, wenig Rhythmus, Wortwitz und Wortspiel (Kraus‘ Einfluss), ein sehr knapper Stil, der sich manchmal auch gegen den Geist der deutschen Sprache auflehnt, häufig archaisch klingend, hie und da mit altgermanischem Duft und antiker Diktion. Hier liebreizender Mozart oder auch einfaches Volkslied, dort die Fanfaren Wagners, hier eine Idylle des ältlichen Waldmüller, dort eine wilde Radierung à la Kokoschka, des Modernsten der Modernen, dem Ehrenstein eines seiner Gedichte gewidmet hat.

 

Aber beachten wir die Kompositionen der Kriegslyrik. Etwa 20 Gedichte reproduzieren auf hier emphathische, dort boshaft höhnische Weise den Standpunkt des menschlichen Herzens angesichts der historischen, grausamen Ereignisse. Rund um den „Kriegsgott“ scharen sich die prophetischen Gestalten der „Waldesalten“, die im Reich der „Seele keinen Bosporus, noch Vogesen“ kennen, philosophieren Dichter, Weise und Königinnen. In der „Menschendämmerung“ weiß sich der arme Charon mit einem gewohnten Kahn keinen Rat; mietet (vollkommen un-antik) einen Überseedampfer. In den grotesken Farbsymphonien der Schlachtfelder huschen graue Soldaten vorbei, Märtyrer des Weltendramas. Der Dichter befreit im Getöse massenhafter Losungen die schwache Stimme der Einzelnen. Aber das muss man lesen; man kann nicht darüber nachdenken … Der Dichter, der im Bewusstsein des Ewigen lebt, ruft in verständlich rachedurstiger Extase:

 

Rausche, o Wasser!

Ich höre das Meer.

Über Europa: England und Rußland,

aus Urzeiten kommend zu Zeiten

ergießt sich grollend das Meer.

 

In den Tagen der Zukunft

rein von Menschenameisen stürzest du einst

oder es schluckt dich, Erde, die Sonne.

 

Der Dichter, der nie etwas von den Göttern und alles einzig von der Wiedergeburt der Menschheit zur Güte und Freundlichkeit erwartet hat, rechnet im Gedicht Die Götter, einem Gedicht, das als Fiktion eines monumentalen Traums komponiert ist, mit diesem menschlichen Irrglauben ab: die Olympischen missachten die Sterblichen. Sie allein sind der Sinn des Seins. Gleichgültig ist Mohammed, der weiterhin zum Berg eilt, der bisher weiter in die Ferne rückt. Der Gekreuzigte bewacht das Kreuz. Jehova ist gefühllos (der Dichter überschüttet ihn mit Strophen von Heinescher Skepsis), der indische Gott hat sich in Sachen menschlichen Leids die Gleichgültigkeit bewahrt. Bis sich auch der Teufel – Mephisto – in die peinlichen Götter-Anrufungen mischt, mit einem Verweis auf das ununterbrochene Dahinwelken der Herrschaft der Selbsternannten: Soll sich die Menschheit doch selbst helfen.

 

Im abschließenden Gedicht Entwandlung erklärt der Dichter, wie es kommt, dass es der holden Schönheit der Welt nicht gelungen ist, ihn im Gleichgewicht der Lebensbejahung zu halten, als er die Vielzahl der Fälle menschlichen Unterdrückung erblickte: „hanakische Bauern, den Schnellzug anstaunend, der ihre grünenden Äcker mit Ruß und Asche bestreut“, indische Tänzerinnen, „gazellengangbegabte“, „vor dem Champagner und Abschaum eingläsiger Jünglinge tanzen“, Falken, gefangen im Käfig, usw.

 

Wieder meldet sich hier der bleiche Schatten des armen Trakl: „Ich muss dem Schweiß dieser nächtlichen Tage entrinnen.“ Ich will den Tod.

 

Zuletzt nähert sich dem jungen Körper der heimtückische Verfechter des Dahinvegetierens, der alte, bespuckte Feind, die Sinneslust, könnte ihn wohl doch für das Licht des heutigen Tages gewinnen. Schroff, mit ungehört hässlichen Worten (wendet euch ab, ihr überaus sanften Seelen!) weist sie der Sieger ab. Der Todesengel verwünscht den alten Adam, es beginnt die „Entwandlung“ in ein Wesen der neuen, im Entstehen begriffenen Hoffnungen.

 

*

 

Kein Zweifel: Dieser Dichter gehört zu denen, die die Ehre der deutschen Kriegslyrik gerettet haben, welche durch die bekannten Ereignisse ramponiert war. Und vom Standpunkt des Kritikers steht fest, dass er dies mit künstlerischen Mitteln getan hat, und über viele herkulische Übergriffe, hinterlistige Verführungen funkelnder Wörter, Wortspielchen und Verse hinweg. Aber das wird vor allem die literarischen Kreise interessieren. Wir schreiben über ihn, weil er vielleicht der erste eigentümliche und reine Sprecher eines erwachenden, schmerzlich erwarteten Morgens ist. In mitternächtlichen Dunkelheiten singt er von einem schlechten Gestern und einem besseren Morgen. Alle die Schlafenden hören es und „des Häftlings ermatteter Arm, ihn durchschüttelt ein Rausch, er rüttelt am Eisen; Ein Urwind weht Verheißungen auf, den Seelen ihr Pfingsten zu weisen.“


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