Es schreibt: Václav Maidl

(E*forum, 30. 11. 2022)

Unter dem Wort Hahnenkreuz kann man sich dreierlei vorstellen: Erstens das Denotat, mit dem der Hahnenkreuz von Nitzau (tsch. Nicov) als Symbol der Leiden Christi bezeichnet wird, ferner entweder das 2003 vom Verlag BB art herausgegebene Buch oder die Webseite Kohoutí kříž /´s Hohnakreiz, die seit 2001 betrieben wird. Alles verbindet die Person von Jan Mareš, Dichter, Übersetzer und langjähriger Bibliothekar der Südböhmischen wissenschaftlichen Bibliothek in Budweis (Jihočeská vědecká knihovna v Českých Budějovicích), der das Nitzauer Kreuz u. a. als Symbol des Leids auffasst, das Menschen anderen Menschen angetan haben – der gemeinsame Nenner ist das Interesse an der deutsch geschriebenen Literatur aus dem Böhmerwald.

 

Zwei unterschiedliche „Plattformen“, wie dies ein Buch und eine Webseite sind, führen uns die jeweils unterschiedliche Reichweite dieser Aktivitäten ganz klar vor Augen. Während das Buch von der Zahl der Exemplare her (laut der Firma Kosmas ist das Buch auf Weiteres hoffnungslos vergriffen), bzw. hinsichtlich der Ausleihmöglichkeit Einschränkungen mit sich bringt (der Leser muss die Bibliothek ja zum Ausleihen physisch besuchen), wird die Webseite am Computer von zu Hause, oder im Büro aufgerufen und die Besucherzahl lässt sich nicht einschätzen – um uns diese uneingeschränkte massive Reichweite vor Augen zu führen, sei hier nur angemerkt, dass die Webseite allein im Jahr 2021 von 102 901 Internetnutzern besucht wurde. Das ist allerdings nicht der einzige Unterschied. Nach dem Erscheinen wird ein Buch zum „abgeschlossenen Projekt“, demgegenüber lässt sich die Webseite kontinuierlich ergänzen, erweitern und der Inhalt kann gegebenenfalls auch revidiert werden. Die aktuelle Webseite Kohoutí kříž /´s Hohnakreiz unterscheidet sich von der früheren von 2001 wesentlich. Die erste „Auflage“ der Webseite stellte dem Publikum 306 Autoren vor. Wenn man sie heute besucht, gibt es hier Beiträge zu 2 390 Autoren! Der immense Umfang an Arbeit, den diese Zahlen verraten, führt uns zu dem Begründer, resp. Zu den Autoren dieses ständig wachsenden Werks.

 

Jan Mareš (*1940), der Spiritus agens, fing an, sich bereits zur Zeit seiner Tätigkeit als Redaktor im Budweiser Růže-Verlag mit der deutsch geschriebenen Literatur aus dem Böhmerwald zu beschäftigen, 1968–1972 erschienen hier Stifters Erzählungen in drei Bänden (übersetzt von Anna Siebenscheinová). Er selbst musste den Verlag bereits 1970 aus politischen Gründen verlassen und wirkte dann als Antiquar. 1988 wurde er in der damaligen Wissenschaftlichen Staatsbibliothek in Budweis (Státní vědecká knihovna v Českých Budějovicích) als Bibliothekar eingestellt. Im Jahre 1990 wurde er zum Leiter der regionalen Abteilung, er arbeitete zugleich intensiv daran, die deutschschreibenden Autoren aus dem Böhmerwald dem tschechischen Publikum zugänglich zu machen, davon zeugen seine zahlreichen Beiträge in Česko-bavorské výhledy [Tschechisch-bayrische Ausblicke] zwischen 1990–1995 sowie Artikel in anderen Periodika. Die im Antiquariat verbrachten Jahre waren ihm zweifellos eine Inspiration, die bei der ersten Gelegenheit Früchte trug, das geweckte Interesse wurde dann offenbar von weiteren Quellen genährt, wobei man darauf aufmerksam machen muss, dass das Thema der deutsch geschriebenen Literatur aus Böhmen (mit der Ausnahme der Prager deutschen Literatur) in der ersten Hälfte der 1990er Jahre nicht nur als exklusiv, sondern oft sogar als eine unerwünschte Erinnerung an tabuisierte Inhalte wahrgenommen wurde, die man hätte lieber vergessen sollen. Das ließ Jan Mareš jedoch kalt. Er verstand und versteht seine Arbeit und seinen enormen Einsatz als eine Art Vergeltung der Schuld gegenüber der verlassenen Kulturlandschaft und vor allem den Menschen, die sie früher bewohnten, gestalteten und sie letzten Endes verlassen mussten. Er knüpfte Kontakte mit noch lebenden Autoren, bzw. mit deren Nachfahren an, er brachte viele wertvolle Zeugnisse und Dokumente zusammen. Er schrieb biographisch orientierte Autorendarstellungen, übersetzte literarische Texte (vor allem Lyrik), um übersetzten zu können, lernte er sogar den Böhmerwälder Dialekt. Er beurteilte diese Literatur nicht, er stellte keine Hierarchien auf, er machte sie lediglich der interessierten Öffentlichkeit zugänglich, die nicht deutsch lesen kann oder die Böhmerwälder Mundart nicht beherrscht. Er blieb jedoch vorerst auf das gedruckte Wort angewiesen.

 

Um die Jahrtausendwende gewann das Internet massiv an Verbreitung und Jan Mareš knüpfte mit dem um eine Generation jüngeren Ivo Kareš (*1964) eine Zusammenarbeit an, der zu der Zeit in der Südböhmischen wissenschaftlichen Bibliothek als Stellvertreter für Fachdienstleistungen arbeitete. Er war also nicht nur für Nutzung moderner Technologien in der Bibliothek, sondern auch für die Webseite der Institution zuständig, auf der dann die von ihm entdeckten Fotografien sowie andere Dokumente (etwa eine Reihe von digitalisierten historischen Karten von Böhmerwald) und als Grundstein selbstverständlich auch die Ergebnisse von Mareš‘ Arbeit veröffentlicht wurden. Dieser Tätigkeit widmet Ivo Kareš sich bis heute, auch wenn er inzwischen (2012) Direktor der gesamten Bibliothek geworden ist. Genauso wie Jan Mareš fasst auch er seine Tätigkeit nicht „bloß als einen Job“ auf, sondern sie wurde ihm zur „Herzensangelegenheit“, wie er sich in einem Interview 2013 äußerte (was u. a. auch der persönliche Ton seiner Kommentare erklärt – Jan Mareš schreibt grundsätzlich in der Ich-Form). Beide Co-Autoren der Webseite haben sich sicherlich über das Diplom des Kulturministeriums für Hervorragende Leistung im Bereich des Bibliothek- und Informationswesens für das Jahr 2003, sowie über den Preis Cena Šumava litera 2018 für den außerordentlichen Beitrag zur Erforschung der Böhmerwälder Literatur gefreut, aber sie freuen sich bestimmt noch mehr über die unaufhörliche, ja vielmehr wachsende Gunst der Benutzer, die einerseits den Wandel in der Wahrnehmung der sudetendeutschen Themen vonseiten der tschechischen Gesellschaft seit den 1990er Jahren, andererseits auch das steigende Interesse an der Geschichte der Heimatregion illustriert, die man freilich nicht nur im Falle des Böhmerwalds sieht.

 

Die Vorstellung, dass Böhmerwald angesichts der großen Anzahl von erfassten Autoren ein Dichterarkadien hat sein müssen, in dem jedes Dorf und jede kleine Ortschaft seinen/ihren Sänger vorzuweisen hatte, lässt uns über die Auswahlkriterien nachdenken. Sie wurden nicht definiert, man kann auf sie aus dem Charakter der Texte sowie aus flüchtigen Anmerkungen „zwischen den Zeilen“ nur indirekt schließen, im Grunde gibt es jedoch zwei Kriterien. Erstens ist es das Sprachkriterium, d. h. es geht immer um einen deutsch schreibenden Autor. Das zweite Kriterium ist dann die in den Texten formulierte Beziehung zu der Böhmerwald-Region. In den Blickpunkt geraten so auch tschechische Dichter, nicht nur der aus dem Böhmerwald stammende zweisprachige Kar(e)l Klostermann, sondern auch etwa Božena Němcová, die das Gedicht Am See bewunderte, oder z. B. Adolf Heyduk wegen seines sonderbaren Eintrags ins Gästebuch eines Hotels in Markt Eisenstein, in dem er auf ein burschenschaftliches Saufgelage vom Vortag negativ reagierte. Gerade im Falle dieses Dichters thematisiert der Autor der Webseite das oben erwähnte Sprachkriterium expressis verbis: „Aus dem tschechischen Original drucken wir die Reisecauserie Heyduks ohne Änderungen (…) eigentlich nur wegen den ein paar deutschen Versen dieser ,Wottawer Nachtigall‘.“ Geht man die Namen durch, wird es einem klar, dass die Dichter nicht einmal mit der Böhmerwald-Region verbunden werden müssen – es überrascht dann nicht, dass man auf der Webseite Kohoutí kříž /´s Hohnakreiz etwa auch Gedichte von Marie von Ebner-Eschenbach findet (geb. Dubský von Třebomyslice – die Verbindung zum Böhmerwald ist hier bloß die Herkunft ihres Adelsgeschlechts von Dub bei Prachatitz und Třebomyslice in der Region Klattau in der Nähe Böhmerwalds), eine Erinnerung an die flüchtige Begegnung mit der Dichterin verfasste bereits der Böhmerwälder Schriftsteller Hans Leo Mally. Auf den ersten Blick überrascht uns auch die Erwähnung der österreichischen, aus Auspitz in Mähren stammenden Autorin Ilse Tielsch, für die Aufnahme der Autorin spricht jedoch nicht nur ihr Gedicht Blick vom Mandelstein, im Kommentar wird auch ihre Studie über Zephyrin Zettl, den im Böhmerwälder Dialekt dichtenden Autor, erwähnt.

 

Unter den Namen, die auf der Webseite vorkommen, gibt es jedoch nicht nur Autoren literarischer Texte. Man findet auch Autoren von Fachtexten, etwa Rudolf Pannwitz mit dessen Stifter-Studie aus dem Jahr 1956 oder den vorzeitig verstorbenen Germanisten Johann Knieschek, der sich mit Johannes von Schüttwa und dessen Ackermann aus Böhmen beschäftigte. Ferner findet man auch Texte von Zeitgenossen, die in Deutschland geboren wurden, familiär (über die Eltern) allerdings mit Böhmen verbunden sind, wie etwa Anna Knechtel oder Raimund Paleczek (der jetzige Vorsitzende des Sudetendeutschen Instituts e. V.).

 

Wie man sieht, bietet die Webseite Kohoutí kříž /´s Hohnakreiz eine bunte Palette von Persönlichkeiten und somit auch vielfältige Texte an. Biographisch gesehen wird die Herkunft der Persönlichkeiten viele Generationen zurückverfolgt, es wird ihre Verknüpfung mit der Landschaft und der Kultur dieser Region anschaulich dokumentiert. Die Kulturlandschaft wird somit rekonstruiert, und das tschechische Publikum wird um die Erkenntnis bereichert, die ihm sonst wahrscheinlich vorenthalten geblieben oder die nur bruchstückhaft angekommen wäre.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Kohoutí Kříž : šumavské ozvěny [on-line]. Jihočeská vědecká knihovna v Českých Budějovicích, c2001-2022, poslední aktualizace [letzte Aktualisierung] 25.10.2022, 10:06. [aufgerufen 10.11.2022]. Překlady a české texty [Übersetzungen und tschechische Texte] Jan Mareš, elektronická verze [elektronische Version] Ivo Kareš. Abrufbar: https://www.kohoutikriz.org/


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