Es schreibt: Jan Musil

(9. 11. 2022)

Das Buch Strašidelné Čechy [Das gespenstische Böhmen] ist insofern ungewöhnlich, dass es zwei quasi gleichwertige Autoren hat, die aus verschiedenen Epochen stammen. Diese sonderbare Nachbarschaft zeigt sich bereits auf dem Umschlag und zieht sich durch die ganze Publikation hindurch. Es handelt sich selbstverständlich nicht um eine Autorschaft – der Verfasser-Erzähler erklärt ja zu Ende seines Vorworts, er glaube nicht an Gespenster –, sondern eher um eines der vielen Dialoge, die man im Buch findet.

 

Das Buch über das Böhmen der Gespenster setzt sich aus zwei Teilen zusammen. Den ersten Teil bildet ein eigenartiges Vorwort von Marek Vajchr mit dem Titel Astrální komedie [Astrale Komödie], den zweiten dann ein Auszug aus dem umfangreichen spiritistischen Kompendium Unterredungen von dem Reiche der Geister des deutschen Dichters, Mönchs, Feldkurats, Witzboldes und Mystifikators Otto von Graben zum Stein, der etwa zwischen 1690 und 1756 lebte. Die Hefte, aus denen die Auswahl und die Übersetzungen von Marek Vajchr stammen, erschienen zwischen 1731–41. Wie bereits der Titel verrät, wählt Vajchr diejenigen Geschichten, die mit Böhmen oder – wie von Graben selbst Böhmen in seiner Trilogie nennt – der Geisterrepublik zu tun haben.

 

Die zentrale Form des Buchs besteht aus einem Dialog. Durch die Epochen und Zeiten hindurch – wie bereits angedeutet wurde – führt Vajchr mit von Graben ein Gespräch, in den Unterredungen wird es v. a. von Andrenio und Pneumatophil und in der Astralen Komödie dann von dem Erzähler, der sich mit dem Buchautor identifizieren lässt, und der Michael-Figur geführt. Von Grabens Teil ist natürlich grundlegend. Vor den Augen des Lesers defilieren so böhmische Gespenster, die der Apologet des Gespenstischen Pneumatophilus (der griechische Name bedeutet Geisterliebhaber) dem misstrauischen Andrenio vorstellt. Die Geschichten der jeweiligen Gespenster erweisen sich nicht als Selbstzweck, sie dienen Pneumatophilus als Exempla, die Andrenio viel mehr dazu bewegen können, an Geister und Gespenster zu glauben, als die Beweise der Naturlehre und Theologie. Eine ähnliche Frage bleibt auch im Hintergrund des zweiten, jüngeren Gesprächs, das dem ersten vorangestellt wurde. Dieses soll zwar die Rolle eines fundierten Vorworts erfüllen, infolge von Michaels vorwitzigen Fragen wird es jedoch zur spannenden Geschichte einer Suche nach der unfassbaren Identität von Grabens und dessen Werks. Dennoch zeigt sich hier und da der echte Charakter von Vajchrs Text, der hauptsächlich als eine Art Darlegung gedacht wurde. Der Gesprächscharakter wird stellenweise schwächer, der Exeget gerät ins Erzählen und Michaels Fragen werden seltener oder er äußert sich nur kurz und bejahend, worauf der Erzähler dann keine Rücksicht nehmen muss. Er gibt sich allerdings viel Mühe, dem Beispiel von Pneumatophil folgend, immer anschaulich und verständlich zu bleiben, er nimmt seinen Gesprächspartner wahr, und so bleibt der Text durchlaufend dynamisch.

 

Das Buch führt uns ein wichtiges Prinzip vor Augen, das man zusammenfassend als Literarisierung der Gespenster beschreiben könnte. Vajchr selbst macht darauf aufmerksam, dass von Graben die Geister der Welt der Moral und konfessioneller Streitigkeiten entrissen habe, in der es fatale Folgen hätte haben dürfen, wenn man sich für oder gegen die Existenz von Geistern/Gespenstern ausgesprochen hätte (S. 42). Ihre Existenz wurde nämlich mit der Existenz des Fegefeuers verbunden. Obwohl der (Un-)Glaube an das Purgatorium eine komplizierte Geschichte hat, lässt sich behaupten, dass er mit der Zeit zu einem Definitionsmerkmal für die Trennung zwischen dem Katholizismus und Reformismus wurde, denn der erstere hat diese Vorstellung bewusst, unauffällig und allmählich aufgebaut und der andere hat sie abgelehnt. Gerade aus dem Fegefeuer sollten die Seelen der Leidenden und Gereinigten zu den Hinterbliebenen zurückkehren, um sie bei ihren Fürbitten zu ermutigen. Da jedoch solche Vorstellungen häufig ins Anekdotische und Triviale verfielen und die allmöglichen Volksvorstellungen sich mit dem katholischen Glauben dabei vermengten, fingen auch die Katholiken an, bei solchen Hirngespinsten mehr aufzuhorchen. (Es sei jedoch erwähnt, dass Pneumatophilus allerdings auch katholische Exorzisten für Scharlatane hielt.) So kam es dazu, dass die Gespenster nicht nur von den in den Anfängen begriffenen Naturwissenschaften, sondern auch von der Theologie abgelehnt wurden. Und gerade in diesem Moment nahm von Graben sich ihrer an und entschied sich, andere Fragen zu stellen. Es interessierte ihn weniger, ob es Gespenster tatsächlich gibt, seinen Dialogen lässt sich vielmehr entnehmen, dass er herausfinden wollte, was die Geistergeschichten, die von Menschen erfunden wurden, über diese Menschen aussagen. Nicht zuletzt musste er sich dabei auch gut amüsiert haben – wie Vajchr detailliert in seinem Kommentar belegt, bearbeitete von Graben in vielen Fällen den Stoff und ergänzte ihn um neue, oft sehr groteske Motive.

 

Dennoch muss man erwähnen, dass von Grabens Literarisierung der Gespenster beileibe nicht Neues ist. Die von Vajchr erwähnten Autoren wie etwa Ludwig Lavater (von dieser Autorität der Dämonologie schöpfte auch z. B. Josef Váchal reichlich in seinem bunt illustriertem Buch Ďáblova zahrádka [Des Teufels Garten]), Johannes Praetorius, Erasmus Francisci, Balthasar Bekker oder Johann Georg Schmidt beschäftigten sich mit der Gespenstertheorie eingehend und lange vor ihm, bis der Letztgenannte sie auslachte und als „Rockenphilosophie“ bezeichnete, die mit der Wirklichkeit nicht Gemeinsames hätte (S. 20). Im Zusammenhang mit Schmidt weist Vajchr auf die visuelle Grundlage der spiritistischen Illusion hin. Nachdem die Gespenster der physischen Grundlage und der jenseitigen Herkunft beraubt wurden (die Fleischwerdung des Teufels), hat man angefangen, sie mit physikalischen Eigenschaften zu erklären, etwa als Spiel von Licht und Schatten und v. a. durch überhitzte Volkseinbildung. Diese entzauberten Gespenster konnten dann neue Bedeutungen gewinnen und es entstand somit der Raum für deren weitere Ästhetisierung. Auch wenn von Grabens Zugang in dieser Hinsicht einen der wichtigsten Entwicklungsschübe innerhalb der „Gespensterologie“ darstellte, ging es sicher nicht um einen epochalen Umbruch. Bereits Shakespeares Hamlet behandelte den angeblichen Geist seines Vaters mit Misstrauen, und bevor er sich zur Tat überreden ließ, versuchte er, dessen Behauptungen und Existenz zu überprüfen – lange vor Poe öffnete er somit einigen Prinzipien der Kriminalgeschichte Tür und Tor.

 

Als Pneumatophilus jedoch anfängt, breitere Zusammenhänge zu erklären, wird es klar, dass es sich um keine Gespenster handelt, sondern dass wir in der Wirklichkeit Zeugen einer wohl durchdachten, wenn auch etwas heimtückischen folkloristischen oder politischen Analyse sind, die darüber hinaus stellenweise satirisch ist. Das Königreich Böhmen ist eine Geisterrepublik und es wird hier – genauso wie bei den alten Ägyptern, Griechen und Römern – keine einzige folgenschwere Entscheidung gefällt, ohne dass man sich beraten lässt – nicht von Göttern, sondern von toten Heiligen in Gestalt geschnittener oder gemeißelter Götzen (S. 109).

 

Im Unterschied zu den Dämonologien seiner Vorgänger, in denen die Geister eine Sache der Gegenwart sind, auf die sich die Schriften der Autoritäten auch beziehen, historisiert von Graben seine Gespenster deutlich. Pneumatophilus oder auch Andrenio führen konkrete Zeit- sowie Raumangaben an, wo sich die jeweilige Erscheinung hätte zeigen sollen, und erwähnen den historischen Kontext einschließlich der betreffenden Herrscher. Dadurch geraten sie in die Nähe des gotischen Romans, der die spiritistischen Geschichten in eine ferne Vergangenheit versetzt, typischerweise ins Mittelalter – dadurch wurde man auch die Frage los, ob die Geister, ggf. ob auch andere moralisch sowie theologisch problematische Motive für die konkrete Zeitepoche akzeptabel waren.

 

Wem kann man also bei von Graben begegnen? Neben den Geschichten über Gespensterfeste und herumfliegende Knochen oder Häupter stoßen die LeserInnen auf eine große Menge traditioneller Figuren aus der tschechischen Folklore, die man schon vor den Unterredungen belegen kann. Viele wurden mit der Zeit zu einem internationalen Stoff oder man bezog sich auf sie erfolgreich. Balbíns Bílá paní [Weiße Frau] erschien z. B. später im Höllischem Proteus von Erasmus Francisci. Der Rýbrcoul (dt. Rübezahl) aus dem Riesengebirge lässt sich in die Tradition des Trickster-Archetyps einordnen, darüber hinaus hat er magische Fähigkeiten. Wie Vajchr im Kommentar erwähnt, dank seiner Ulke steht er dem Eulenspiegel nahe und angesichts seiner wunderbaren Fähigkeiten könnte man ihn etwa mit der tschechischen Figur des Zauberers Žito vergleichen. Die schwarze Legende über Žižkas Wunsch, dass man die Kriegstrommel nach seinem Tod mit seiner Haut bezöge, erwähnt Richard Burton in seiner Anatomie der Melancholie und dieselbe Trommel findet sich in der versifizierten Korrespondenz zwischen dem französischen Philosophen Voltaire und dem preußischen König Friedrich II.

 

Kommen wir aber zu dem wichtigsten Gespräch am Anfang zurück, in dem sich zwei zeitlich ferne Unterredungen widerspiegeln. Vajchr entschied sich nicht für die Gattung des akademischen Vorworts, in dem er von Grabens Text mit Hilfe von literaturwissenschaftlichen Begriffen sowie einer gängig aufgebauten Analyse erklärt und kontextualisiert hätte. Anstatt dessen dachte er sich eine andere Ebene für Figuren aus, die diese historiographische Arbeit selbst leisten. Vajchr ließ das Fachschreiben zu Belletristik werden, seine Literaturwerke gründen jedoch zugleich auf einer redlichen Forschungsarbeit. Es handelt sich jedoch nicht lediglich um eine Recherche, auf deren Grundlage er dann seine Geschichte fabuliert – der eigentliche Prozess des Suchens und Entdeckens der historischen Tatsachen wird zur Geschichte. Dies ist übrigens Vajchrs modus operandi, von dem er in beiden seinen Autortexten – Proml…čitelnost [Verjähr…barkeit] (1996) und Jména příběhu [Die Namen der Geschichte] (2016) – Gebrauch macht. Die Protagonisten werden zu Dokumentensuchern, indem sie sich in der physischen Welt bewegen, verbinden sie die Dokumente miteinander und hüllen sie so mit einer Handlung ein.

 

Durch die Mischung von Belletristik und Fachtext schafft Marek Vajchr Texte, die in der tschechischen Literaturszene einzigartig sind. Es geht nicht um die in der letzten Zeit so populäre „Belletrisierung“ der letzten Tage des Weltkrieges u. Ä. – Vajchrs Texte fordern viel mehr Aufmerksamkeit. Die mit einem Kommentar und mit einem Fußnotenapparat ergänzte Astrale Komödie zeigt jedoch, dass so ein relativ schwieriges und scheinbar überlebtes Thema wie das der Genealogie der dämonologischen Studien, trotzdem spannend und sogar einem breiten Publikum präsentiert werden kann. Dies und die phantastischen Holzschnitte von Chrudoš Valoušek sowie der Stoffumschlag machen aus der Publikation ein wirklich schönes und unterhaltsames Büchlein, das die Leser nur so nebenbei bildet.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Otto von Graben zum Stein / Marek Vajchr: Strašidelné Čechy. Praha: Revolver Revue, 2021, 207 S.


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