Es schreibt: Filip Charvát

(27. 10. 2022)

Herta Schmid ist eine heute emeritierte Professorin für Slawistik mit den Forschungsschwerpunkten Theaterwissenschaft und Literaturtheorie. Durch zahlreiche Aufsätze und Vorlesungen zu Themen des tschechischen Strukturalismus sowie durch die Organisation wichtiger Konferenzen hat sie sich ein bedeutendes Renommee im Umfeld dieses literaturwissenschaftlichen Ansatzes erworben, insbesondere auch im Herkunftsland der Theorie. Nun hat Birgit Krehl von der Universität Potsdam es dankenswerterweise unternommen, elf ausgesuchte Aufsätze der Autorin in einem Sammelband herauszugeben, der die über vierzigjährige Auseinandersetzung von Schmid insbesondere mit Jan Mukařovský, dem zentralen Vertreter des tschechischen Strukturalismus, dokumentiert.

 

Betrachten wir die elf Beiträge des Bandes insgesamt, dann fällt auf, dass zwei Typen von Abhandlungen dominieren: Einerseits diejenigen, die das Werk Mukařovskýs unter der Perspektive eines Leitbegriffs erklären wollen, und andererseits solche, die sich mehr auf die Entwicklung und Widersprüche im Theoriegebilde konzentrieren. So werden im Einzelnen die Termini der ästhetischen Konkretisation und Funktion, der semantischen Geste und des Individuums sowie des ästhetischen Werts und der Dichtersprache zum Ausgangs- und Zielpunkt von Untersuchungen, dann wieder die Frage nach den Phasen und Disziplinen im Theoriegebäude, wenn Schmid einmal (in ihrem Aufsatz zum Drei-Phasen-Modell) die Theorieentwicklung in einer dialektischen Synthese aufhebt, in einem anderen Aufsatz aber dieselbe Widersprüchlichkeit in Mukařovskýs Werk (zwischen einer am Begriff der Gestalt orientierten Ästhetik und einer am Begriff des Zeichens orientierten Poetik) als spannungsvollen dynamischen Bruch zwischen den verschiedenen Disziplinen innerhalb desselben Theoriegebäudes stehen lässt. Hier deutet sich an (und bestätigt sich bei der Lektüre), dass das das Buch insgesamt einen eher „theorieimmanenten“ Charakter besitzt, während echte Außenperspektiven nur in Ansätzen entworfen werden. Schmid beeindruckt durch die Fülle von Hinweisen und Referaten über formalistische, gestaltästhetische oder semiotische Konzepte, die Einfluss auf das zentrale Werk Mukařovskýs genommen haben, und sie zeigt, wie dieses Werk sich aus einer eigenen Dynamik und unter diesen Einflüssen von den späten 1920er bis in die 1940er Jahre ändert oder entwickelt, der gemeinsame Nenner dieses Diskurses ist aber durchweg ein formalistischer. Einen besonderen Akzent legt sie hierbei, neben der funktional-strukturalistischen Theoriebasis, die durch de Saussure und Bühler geliefert wurde, und den russischen Formalisten, deren Ansätze panoramatisch in einem eigenen Kapitel vorgestellt werden, besonders auf die Gestaltästhetik und Mukařovskýs Lehrer Otakar Zich sowie (für die tschechischen Leser vielleicht eine weniger gewohnte Perspektive) auf genetische und typologische Beziehungen zu deutschen ästhetischen und anderen Traditionen (Kant und Herbart, Husserl und R. Hamann, und besonders, zumal in den späteren Aufsätzen, Wilhelm von Humboldt). Die oben angesprochene echte Außenperspektive sehe ich nur im letzten der elf Beiträge eröffnet, wenn Schmid Mukařovský mit Michail Bachtin vergleicht und dessen Lesart mittels der Begriffe der Moral, Dialogizität, Polyphonie und des Weltgerichts im Haupttext gut veranschaulicht, wobei Bachtin sich eben nicht auf einer formalistischen Basis erklären lässt. Ein weiteres Problem, auf das sich der Leser bei der Lektüre einstellen muss, ist der hohe Abstraktionsgrad der Theoriereferate, die von Schmid leider kaum durch eigene Beispiele veranschaulicht werden, so dass man die Ergänzung des Bandes durch eine oder zwei analytische Arbeiten der Autorin bei einer zukünftigen Neuauflage vielleicht in Erwägung ziehen könnte. Eine gewisse Ausnahme stellt in dieser Hinsicht der Aufsatz über den von Mukařovský 1938 edierten Sammelband Torso a tajemství Máchova díla [Torso und Geheimnis von Máchas Werk] dar, in dem am Beispiel Máchas alternative Herangehensweisen (u. a. von Šalda, Wellek oder Jakobson) beschrieben werden, und der darüber hinaus, nach detaillierter Besprechung von Mukařovskýs eigenem Beitrag, eine Idee davon gibt, wie sich nach formalistischer (strukturalistischer) Vorstellung diese alternativen psychologischen, geistes- oder sozialgeschichtlichen Lesarten integrieren ließen. – Soweit betrachtet, würde ich Schmids Buch weniger als Einführung in den tschechischen Strukturalismus und das Werk von Jan Mukařovský im Besonderen empfehlen, sondern eher als außerordentlich kompetenten „Kommentar“, der eine gewisse Erfahrung mit Mukařovský und ein gewisses Maß an vorgängiger Selbstverständigung über den Wert (und Unwert) des Formalismus in der Literaturwissenschaft schon voraussetzt.

 

Schmids Buch besitzt aber über diese (wichtige) Kommentarfunktion hinaus einen noch anderen Anspruch, der eine angestrengte Auseinandersetzung verdient: Die Theoretikerin zielt letztlich – mit Mukařovský gegen Mukařovský – auf eine eigene Lesart von Literatur als Kunst, die mit besonderem Nachdruck an die – beim heutigen Umgang mit Literatur an den Hochschulen geradezu in Vergessenheit geratene – „sinnliche Dimension“ der ästhetischen Erfahrung erinnert, und verlangt sogar, genau diese als Fundament anzuerkennen, wenn der Anspruch besteht, das literarische Kunstwerk in seiner „Eigenart“ wahrzunehmen. In dieser Hinsicht ist der Beitrag Das ,Drei-Phasen-Modell‘ des tschechischen literaturwissenschaftlichen Strukturalismus (1989), der von ihr mit sechs „Richtlinien des neuen Strukturalismus“ abgeschlossen wird, von besonderer Bedeutung.

 

Herta Schmid steht mit Mukařovský in der Tradition der Bewusstseinsphilosophie: Das menschliche Subjekt sieht sich in der Welt einer Gegenständlichkeit gegenüber, die es in Strukturen objektiviert. – In Mukařovskýs zweiter semiotischer Phase sieht diese Objektivierung etwa so aus: Die Strukturen ordnen sich nach Funktionen, wobei vier Grundfunktionen als natürlich gegeben und nicht auseinander ableitbar, angenommen werden. Der Mensch könne sich der Welt gegenüber (1) total-betrachtend ohne Zuhilfenahme von Zeichen, d. h. entsprechend der „theoretischen“ Funktion, geltend machen, (2) partikular-engagiert mit Zuhilfenahme von Zeichen, entsprechend der „magisch-religiösen“ Funktion, (3) partikular-engagiert und ohne Zeichen entsprechend der „praktischen“ Funktion oder schließlich (4) total-betrachtend mittels Zeichen entsprechend der „ästhetischen“ Funktion. – Die totale Betrachtung mittels Zeichen in der ästhetischen Funktion wird dadurch erreicht, dass bei der ästhetischen Funktion alle Betrachtungs- und Verhaltensweisen der anderen Funktionen, mit ihren Normen und Werten, von Kunstwerk zu Kunstwerk stets neu und einmalig zum Objekt einer Komposition oder Gestaltung gemacht werden. Nur die besondere Form dieser Gestaltung, durch alle Bedeutungsschichten des (literarischen) Kunstwerks (d. h. etwa Klang, Rhythmus, Intonation, Motivik, Topik, Thematik) hindurch, die sogenannte „semantische Geste“ des Werks (und nicht etwa seine inhaltliche oder bildliche, wie auch immer positionell, symbolisch oder symptomatisch interpretierte „Aussage“), soll die künstlerische Eigenart einer Dichtung ausmachen (und in diesem Sinne ist Mukařovský immer „Formalist“). – Nun zeigt Schmid gegen Ende des oben genannten Aufsatzes, in Bezug auf Mukařovskýs späten, etwas erratischen Aufsatz Záměrnost a nezáměrnost v umění [Absichtlichkeit und Unabsichtlichkeit in der Kunst] (1943), wie der Theoretiker in Erinnerung an seine gestaltästhetische Vergangenheit Skrupel zu empfinden scheint, gegenüber einer Auffassung, die das Kunstwerk einseitig nur als Zeichen und nicht auch als Ding begreift. Hierin sieht sie den Anfang einer dritten Phase im Werk Mukařovskýs, die aber in dieser Anfangsphase auch stecken geblieben sein soll. Mukařovský, so Schmid, erinnere sich zwar jener anderen dinglichen Wirkung des Kunstwerks, „[d]och dabei werden die sachhaften Eigenschaften nur in Termini eines formlosen materiellen Substrats denkbar. Das schließt die Rückkehr zum Gestaltkonzept der ersten Phase aus. Die ,Fülleʻ der sachlichen Eigenschaften des Kunstwerks als Nicht-Zeichen, die Mukařovský so betont und hervorhebt gegenüber den ,bloßʻ zeichenhaften semantischen Merkmalen, degeneriert ihm so unter der Hand zu einem sinnlichen Schatten mit schwankenden Konturen, welcher hinter der Zeichenhaftigkeit sichtbar wird.“ (S. 202) Hierauf folgen dann jene „Richtlinien des neuen Strukturalismus“, in denen Schmid – nun „gegen“ Mukařovský – einen literaturwissenschaftlichen Ansatz skizziert, der eine objektive autonome Struktur des Kunstwerks als Ding vorauszusetzt, die, in ihren Eigenschaften (nicht: Bedeutungen) zu erforschen, primäres Ziel der strukturalen Literaturwissenschaft sein sollte, während durch historische Dominantenverschiebungen zu erklärende wechselnde Werkrezeptionen, ja, Literaturgeschichte überhaupt, „nur Gegenstand der Literatursoziologie“ sein sollten, wie schon bei den russischen Formalisten. (S. 203f.) Das Kunstwerk ist aus dieser Perspektive in primärer Hinsicht nun gerade „kein“ fiktionales Gebilde, sondern Gegenstand einer ursprünglichen Ästhetik „eben dieses individuellen Dings, das das Kunstwerk ist“ (S. 205) und dessen „Tiefenwirkung [...] im menschlichen Subjekt als eine kausale Wirkung der vielschichtigen Materialformen des Objekts begreiflich“ wird. (S. 204)

 

Als am späten Wittgenstein und Gadamer geschulter Sprachphilosoph stehe ich praktisch zu allem oben Gesagten in einer „echten Außenposition“ und müsste für mich beinahe hinter jede der oben genannten Thesen ein Fragezeichen setzen. Persönlich glaube ich nicht, dass die Verengung des analytischen Blicks auf die bloße Gestaltung oder Komposition (mit oder ohne „noetischer Reichweite“) die Individualität eines Kunstwerks zeitigen kann, denn wie schon die Romantiker betont haben: „Individuum est ineffabile.“ – Noch skeptischer bin ich, dass eine pauschale Privilegierung der vielschichtigen Materialformen, und generell der Gedanke einer Objektivierung des allerdings vielschichtigen Phänomens des literarischen Kunstwerks, diesem gerecht wird. Richard Hamann, ein deutscher Kunsthistoriker und Ästhetiker der Moderne, den Schmid gelegentlich einmal zitiert, zählt die „Isolation“ zu den ästhetisch privilegierten Kategorien, und tatsächlich zielt jede formalistische Frageweise zuletzt immer auf die Feststellung einer objektiven Struktur, die das Sein und die Identität des Kunstwerks definitiv bestimmen soll. Direkt dagegen würde ich einwenden, dass die Eigenart des (literarischen) Kunstwerks gerade darin besteht, dass potentiell „alle“ an ihm wahrnehmbaren sprachlichen Aspekte, eine Dominanz gewinnen können – nach Maßgabe des Kunstwerks selbst, je nachdem, wie es uns anspricht – und dass der Leser sich gerade hierfür offen halten muss: überrascht zu werden, von einem unerwarteten Aspekt (vielleicht dem eines besonderen sinnlichen Eindrucks), um diesem dann strukturell oder anders nachzuforschen.

 

Von daher sehe ich – in meiner Außenperspektive – die ideale Zukunft von Mukářovský und Schmid nicht darin, den Isolationismus der Frageweisen zu ideologisieren, das literarische Kunstwerk auf eine bestimmte Ontologie hin festzuschreiben, sondern stattdessen sie in einer neuen hermeneutisch und stilistisch reflektierten Grundhaltung zu integrieren. – „Mit welcher Art von Text – äußert wer – zu Wem – Was – zu welchem Zweck – Wie?“ Mit dieser Ausgangsfrage (die allerdings weder als abgeschlossen noch als mechanisch abzuhandeln betrachtet werden sollte) indiziert die moderne Stilistik eine Offenheit, die auch für die Vielschichtigkeit des Kunstphänomens anzustreben ist. Ein gutes Beispiel für eine entsprechende Umgangsweise liefert der nicht zuletzt „formalistisch“ geschulte Autor Milan Kundera, wenn er in wiederholten essayistischen Anläufen im Werk Franz Kafkas immer wieder neue Aspekte entfaltet. – Andererseits, damit eine solche „offene“ Stilistik nicht selbst der Beschränkung einer eben gerade modischen Kommunikationstheorie o. ä. verfällt, und das Niveau der einmal erreichten theoretischen Forschung bewahrt, bedarf sie der „lebendigen Tradition“, der stetigen Erinnerung an die radikalen Vertreter paradigmatischer Lesarten. Ich kenne keinen anderen Theoretiker, der in der literarischen Ästhetik die Kategorie der Form so radikal entwickelt und universell reflektiert hätte, wie Jan Mukařovský, und es gibt wohl nur wenige Literaturwissenschaftler, die mit solcher Ausdauer und Hartnäckigkeit auf der Berücksichtigung eines eben gerade unpopulären, aber wichtigen Aspekts der Literaturwissenschaft insistiert hätten, wie Herta Schmid dies in Hinsicht auf das sinnliche Sein und Wirken des literarischen Kunstwerks getan hat.

 

Es heißt, Homer sei blind gewesen und habe viele Stunden damit verbracht, am Meer zu stehen, um der Brandung zu lauschen. Dann habe er die Illias geschrieben, mit ihrem endlosen Strom von Hexametern: Dieses Vorstellungsbild weckt in mir den Gedanken, dass an der „Tiefenwirkung der vielschichtigen Materialformen“ doch etwas dran sein könnte.

 

 

Herta Schmid: Literatur als Kunst: Studien zum tschechischen Strukturalismus. Hrsg. v. Birgit Krehl. Berlin: Peter Lang, 2019, 396 S.


zurück | PDF