Es schreibt: Daniela Lunger-Štěrbová

(13. 10. 2022)

Zum ewigen Gedächtnis“ lautet der Titel eines Kapitels in der gesammelten Geschichte des Klosters in Sedlec vom Ende des 17. oder Anfang des 18. Jahrhunderts, dessen barocker Gestalt die tschechisch-schweizerische Historikerin Madleine Skarda-Riedenklau ihr Buch widmete. Diese Devise ist zugleich das Leitmotiv des ganzen Buches, mit dem die Doktorandin von Hubert Günther und Tristan Weddigen – dem ehemaligen und dem gegenwärtigen Leiter des Lehrstuhls für Kunstgeschichte der Neuzeit an der Universität Zürich – uns durch die Geschichte, Architektur und hauptsächlich durch die sozialen Konnotationen dieses Kleinods der tschechischen barocken Gotik führt. Die Autorin bietet uns (dank ihres Studiums der Geschichte als Hauptfach) v. a. einen tiefen Einblick in die Problematik des Patriotismus in der frühen Neuzeit. Die jesuitischen Texte und die Schriften der Ordenshistoriographen aus dem 17. Jahrhundert mit den neuentdeckten Predigten von Sedlec zum Anlass des 600-jährigen Jubiläums der Klostergründung (1743) vergleichend, registrierte sie nämlich eine bestimmte Verschiebung: „Der Ausbruch des österreichischen Erbfolgekriegs (1740–1748) ließ den hussitischen fidelis Bohemus erneut aufwachen, der sich im katholischen Wlastenec neu konsolidierte.“ Diese und andere Bemerkungen der Autorin zum Thema der tschechischen Identität zu beurteilen, wird bestimmt eine spannende Herausforderung für die Historikerkollegen darstellen. Die folgenden Zeilen wollen sich im Gegenteil ihrer Deutung von Santinis Architektur des Klosters in Sedlec widmen. Auch diese Interpretation geht nämlich von einer präzisen Recherchearbeit aus und mündet in eine wohl bedachte Präsentation neuentdeckter Quellen. Mit dem Buch von Madleine Riedenklau haben wir darüber hinaus eine nicht übliche Publikation über Architektur in Tschechien vor Augen – weder geht sie von einer formalen Analyse aus, noch mündet sie im Grunde logisch in eine Debatte über Autorschaft, Datierung bzw. Stilbeurteilung. Der Autorin geht es vordergründig um die Interpretation der Bedeutung dieses architektonischen Werkes und insbesondere um die Absicht des Baumeisters – des Abtes von Sedlec Jindřich Snopek. Somit schließt die Publikation sich den relativ raren Texten an, die monographisch ein einziges barockes Bauwerk in Böhmen unter der Perspektive der Architekturikonologie behandeln. Diese wurde aufgrund von Teilanalysen mittelalterlicher Architektur von R. Krautheimer und G. Bandmann bereits in den 1940er und 1950er Jahren etabliert. Der Ansatz – nach ihren bahnbrechenden Arbeiten wird er „Ikonologie der Architektur“ genannt – rechnete mit der Fähigkeit der Architektur, neben der konkreten Form auch eine bestimmte ideelle Bedeutung zu übermitteln. Völlig automatisch überdauerte diese Bedeutung bis in die frühe Neuzeit hinein – zur Interpretation von gotisierenden Formen in der Barockarchitektur eignet sich diese Methode also sozusagen „per se“.

 

Gleich am Anfang muss man allerdings erwähnen, dass auch diese Methode – wie alle anderen Methoden übrigens auch – ihre Schwachstellen hat. Da bei ihrer Anwendung die reale Gefahr droht, dass das Bauwerk überinterpretiert wird, haben viele tschechische Architekturhistoriker sie mit Absicht vermeidet und viele meiden sie zweifellos zu Recht bis heute. Zugleich gibt es hier eine völlig einzigartige Tradition von bauhistorischen Untersuchungen, die ein Team von außergewöhnlichen Archivaren und Architekturhistorikern im Falle der bedeutendsten Bauwerke des tschechischen Barocks im Rahmen der damaligen staatlichen Organisation SÚRPMO erstellte. Die Autoren waren allerdings angesichts der offiziellen Vorgabe gegenüber jedweder Interpretation extrem zurückhaltend – ihr Hauptziel war und ist bis heute das Sammeln von „Erkenntnissen zur Entwicklung und zur Verwandlung des Äußeren im Falle des behandelten Bauwerks“. Auf der anderen Seite gibt es sogar mehrere sehr gute Arbeiten aus der letzten Zeit konkret über die tschechische Barockarchitektur, die das Maximum (und mit Erfolg) von dieser Methode gewannen. Es handelt sich etwa um einen kürzeren Beitrag von Rostislav Švácha über die Michael-Kirche in Olmütz, die mit ihrer Drei-Kuppel-Silhouette sowie mit den dreifachen blinden Arkaden an den Seitenfassaden – im Sinne der lokaltradierten Caesar-Symbolik –eine eloquente Allusion an einen sich über der Stadt wölbenden Triumphbogen darstellt (Švácha, 2013). Von den deutschsprachigen Beiträgen sollte v. a. Ulrich Fürst erwähnt werden, der sich bereits seit seiner Dissertation über die Wallfahrtskirche des Hl. Laurentius in Deutsch Gabel (Jablonné v Podještědí) der tschechischen Barockarchitektur widmet, deren zentralen Raum er als eine moderne (d. i. guarineske) Variante von Bramantes Kreuzung des Petersdoms einschließlich der römischen „gravitas romana“ (Fürst, 1991) interpretierte. Für die Etablierung dieser Methode war jedoch erst seine essenzielle und auch in Tschechien bereits populäre Publikation Die lebendige und sichtbahre Histori mit dem klaren Untertitel: Programmatische Themen in der Sakralarchitektur des Barock (Fürst, 2002) entscheidend. Den eigentlichen Kapiteln über ausgewählte Bauwerke (u. a. etwa über die Benediktinerklosterkirche in Kladrau [Kladruby] und über die Wahlfahrtkirche des hl. Johannes von Nepomuk auf Zelená Hora, beides von J. B. Santini) stellte Fürst eine methodologische Einführung voran, die viele Rezipienten als Anweisung lesen – eine Art Leitlinie, welche Perspektiven man im Rahmen der Ikonologie der Architektur der Neuzeit zu Gunsten der Deutung von konkreten Bauwerken fruchtbar machen kann.

 

Angesichts der Tatsache, dass Fürst sich in zwei Fällen mit Santinis Architektur beschäftigte, fordert der Text von Riedenklau ein wenig automatisch zu einem bestimmten Vergleich auf. Die Autorin konnte jedoch auch auf die Arbeiten von Štěpán Vácha zurückgreifen, der sich mit der Ikonographie der Kirche in Sedlec sowie mit der Geschichtsauffassung (nicht nur) im Zisterzienserorden eingehend befasste. Auch wenn Riedenklau primär der „programmatische[n] Inszenierung der böhmischen Identität“ im Falle der Kirche in Sedlec nachgeht, arbeitet sie nebenbei auch mit mehreren oben erwähnten Strängen der Architekturikonologie. Davon zeugt v. a. das erste Kapitel, in dem sie sich über die zeitbedingte Bedeutung des Begriffs „Ader“ Gedanken macht, den der Baumeister selbst im Briefwechsel sowohl mit dem Architekten als auch mit dem Maler Willman verwendete, immer, wenn er über die Stuckgerippe des Gewölbes sprach. Dieses auf den ersten Blick zunächst marginale Detail erweist sich im Rahmen von Santinis Architektur jedoch als grundlegend – die ideenreichen Gerippe-Formen sind für seine Bauwerke im historisierenden Stil vielleicht das charakteristischste Merkmal, zumal man das komplette Ausbleiben eines anderen Merkmals der gotischen Architektur (nämlich des Maßwerks in sonst gotisierenden Fenstern mit spitzen Bögen) in Betracht zieht. Die Recherche von zeitgenössischen Traktaten (von Lorenzo Lechler bis Viollet-le-Duce) hätte zwar um mehrere authentische Beispiele aus Mitteleuropa ergänzt werden können (im Rahmen des gotisierenden Umbaus der Kirche in Dettelbach Anfang des 17. Jahrhunderts werden in den Quellen etwa „Schenkel auf den Reihungen“ erwähnt, Schock-Werner, 2005) – das Verzeichnis historischer Begriffe ist trotzdem ein netter Bonus für den Leser. Riedenklau geht noch weiter, sie versucht, diesem bunten begrifflichen Gemenge eine bestimmte Entwicklung abzugewinnen. Der Termin „Ader“ kommt angesichts des Hinweises auf die pulsierende Energie im Körper Félibiens (1676) und ein wenig auch d’Avilers (1691) Auffassung von „Nerven“ (nerf d’ogives) am nächsten. Und gerade d’Avilers Cours d’architecture wurde 1699 von Leonhard Christoph Sturm ins Deutsche übertragen, der den französischen Begriff als „Geädere“ übersetzt. (Nur am Rande sei angemerkt, dass Sturm die anthropomorphe Begrifflichkeit sehr oft verwendet und sehr häufig sogar im Falle einer groben visuellen Ähnlichkeit, was der Ausdruck „Gewölbe mit Ohren“ für das Tonnengewölbe mit Kappen deutlich illustriert.) Durch diese terminologische Sondage belegte die Autorin allerdings (ein wenig ohne Absicht) auch eine sehr interessante Sache – Sturms Texte wurden in Böhmen mit großer Wahrscheinlichkeit sehr bald rezipiert. Es wäre sonst nur schwer erklärlich, warum Snopek im Gespräch mit seinem Architekten, der Sohn eines Steinmetzes war, einen durchaus üblichen Begriff mit einem neuen Ausdruck ersetzt hätte. Andererseits muss erwähnt werden, dass es sich in Sedlec nicht um ein Gerippe im Sinne der Steinmetzerei handelte, die Gerippe vor Ort waren nämlich eine Domäne der Stuckateure. Dies muss laut Riedenklau jedoch auch nicht immer einen entscheidenden Einfluss auf die Wahl der Begriffe gehabt haben. Für die tschechischen Leser wird ihre Schlussfolgerung wahrscheinlich am attraktivsten, zu der sie dank dieser Recherche kam: „Félibien und Snopek argumentierten aus der Perspektive der Körperanalogie, wodurch der Raum mit den an der Oberfläche liegenden, den Lebenssaft transportierenden Nerven/Adern zusätzliche Leibhaftigkeit und Lebendigkeit gewinnt.“ Bei der Deutung dieser Tatsache stellt sie eine sehr waghalsige Frage – es geht um den letzten und grundlegenden Schritt bei dieser Methode, zu dem viele den Mut nicht hätten finden können. Die Absicht, die Oberfläche des Gewölbes mit einem System von Schlagadern durchsetzen zu lassen – die darüber hinaus grün sind und unwillkürlich an die Farbe des Mooses erinnern, der die Ruine der Kirche jahrelang bedeckt hatte – verfolgte nur ein einziges Ziel: vor den Augen der damaligen sowie heutigen Zuschauer die Geschichte dieses alten Klosters wortwörtlich aufleben zu lassen. Wenn ich von der Frage absehe, ob es sich in Wirklichkeit nicht um einen Effekt handelt, mit Hilfe des geäderten Stuckgerippes einen edlen Stein vorzutäuschen (so wie man es im Falle von vielen nachgotischen Bauwerken kennt), scheint mir die Beschreibung Santinis und Snopeks Absicht durchaus plausibel. Ulrich Fürst belegte dies übrigens auch bei der Kirche in Kladrau. Genauso wie er bezeugt auch Riedenklau dies mit einer langen Reihe von Zitaten aus Quellen, die ihre These untermauern. An dieser Stelle würde ich persönlich – wenigstens aus der Perspektive einer Historikerin der Architektur – dafür plädieren, dass man sich etwas mehr auf ähnliche Beispiele der anthropomorphen Auffassung der Architektur konzentriert. Im Zusammenhang mit Santinis Adern ist es doch schade, das Album Opus Architectonicum von 1725 nicht zu erwähnen, das sowohl die Gravuren, die die Gesamtgestalt sowie konkrete Einzelheiten des römischen Oratoriums von Francesco Borromini dokumentieren, als auch den Begleittext beinhaltet, der eine Abschrift des italienischen Manuskripts von 1647 ist (d. h. ein authentisches Zeugnis aus der Zeit des Baus). Borromini und sein Arbeitgeber Probst Virgilio Spada erwähnen hier nämlich neben der Dispositionsbeschreibung des Oratoriums auch andere interessante Informationen über die Materialwahl, Statik, Optik und v. a. über die Sinngebung einiger Baupartien: „Da aber das Oratorium ein Kind der Kirche ist, […] wurde es für gut befunden, daß auch die Fassade des Oratoriums wie ein Kind der Kirchenfassade sein sollte, das heißt, kleiner, weniger verziert und aus weniger wertvollem Material gefertigt. Wo jene also aus Travertin ist, wurde beschlossen, diese aus Terakotta zu machen, und wo jene korinthische Säulen besitzt, sollte diese nur das Gerippe einer guten Säulenordnung erhalten, und die Bauglieder und Architekturteile sollten eher nur angedeutet werden als verziert und ausgefeilt: Daher haben die Kapitelle nur einen Kelch ohne Blätter und die Basen sind nur schwach gegliedert.“ Wenn also das „Gerippe einer guten Säulenordnung“ (l’ossatura solo di buon’ordine) eine klare Anspielung an die Bedeutung der Fassade sein dürfte, warum sollten nun die „Adern im grünlichen Ton“ zu damaliger Zeit einen lebendigen Organismus einer Gemeinschaft nicht evoziert haben, der darüber hinaus, wie die Autorin anhand von der Analyse vieler damaligen Predigten bewies, von den Zeitgenossen noch intensiv erlebt wurde.

Abgesehen von diesem kleinen Vorwand muss man Madleine Riedenklau dafür danken, dass sie Santinis und Snopeks Absicht, die Kirche in Sedlec als einen Erinnerungsort neu aufleben zu lassen, wieder ins Gespräch brachte.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Madleine Riedenklau: Pro Memoria Æterna – Entstehung eines böhmischen Erinnerungsortes: Das symbolische Bezugssystem in Jan Blažej Santini-Aichels „Renovatio“ der Klosterkirche in Sedlec. University of Zurich: Faculty of Arts, 2020.


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