Es schreibt: Veronika Jičínská

(E*forum, 10. 8. 2022)

Marek Vajchr ist Literaturkritiker, Übersetzer, Redakteur und Schrifsteller, außerdem lehrt er an der FAMU. Er hat an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität Bohemistik und Germanistik studiert. Sein Erstlingswerk Proml...čitelnost [Schweig…lesbarkeit] (Český spisovatel) über die Suche nach Handlungssträngen und mit dem Haupthelden verbundenen verbundenen Figuren, die in der Zeit verschwinden, erschien bereits 1996. Seit 2005 gehört er der Redaktion der Revolver Revue an und ist einer ihrer Stammautoren. Er hat zahlreiche Literaturkritiken, Essays und Übersetzungen aus dem Deutschen veröffentlicht, die zunächst in der Kritická Příloha Revolver Revue und nach deren Einstellung in Couleur Revolver Revue erschienen sind oblag ihm beispielsweise die Redaktion der tschechischen Übersetzungen von H.-G. Gadamers Aktualität des Schönen (als Aktualita krásného 2003 im Verlag Triáda 2003) und von Claudio Magris Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur (Habsburský mýtus v moderní rakouské literatuře, Triáda 2001) sowie der 2008 unter dem Titel Poetika, interpretace, styl erschienenen Auswahl aus dem Werk Emil Staigers (Triáda). Seine die breite Fächerung und große Spannweite seines intellektuellen Interesses, seine Bildung und seine Produktivität als Autor sind bewundernswert. So hat er unter anderem hat er eine Gedichtsammlung Jáchym Topols herausgegeben (Děsivý spřežení /Grausiges Gespann/, 2016), in der diejenigen Gedichte abgedruckt wurden, die zuvor nur im Samizdat erschienen waren. Für die Revolver Revue, die sich 2015 der damals aktuellen Debatte über eine mögliche Zusammenarbeit Milan Kunderas mit dem Inlandsgeheimdienst (StB, Státní bezpečnost) widmete, verfasste er einen Essay über die tschechische akademische Reflexion der aus den 1950er Jahren stammenden Poesie Milan Kunderas nach November 1989. Im selben Jahrgang der Revolver Revue publizierte er einen Auszug aus dem noch in Vorbereitung befindlichen Buch Jména příběhu [Die Namen der Ereignisse] über „einige unbefriedigend interpretierte oder übersehene Äußerungen der tschechischen Barockkultur“. Von seinen längeren Artikeln sollte eine vergleichende Studie zu den Übersetzungen der Werke Franz Kafkas Erwähnung finden, in der der Öffentlichkeit erstmals Jan Hančs kurz zuvor gefundene Übersetzungen dieses Prager Autors vorgestellt wurden. Zuvor hatte er aber bereits unter dem Titel Vyložené knihy [Ausgelegte Bücher] seine Kritiken und Essays in Buchform (2007) publiziert und 2018 erschien eine weiterer Band mit Studien unter dem Titel Honba za smyslem [Die Jagd nach dem Sinn], beide in der Edition Revolver Revue. Ebendort erschienen seit 2016 kurz nach einander zwei weitere Bücher: 2016 die bereits erwähnten Jména příběhu und 2019 schließlich Neviditelný rytíř aneb Rozbřesk imaginace [Der unsichtbare Ritter oder die Morgenröte der Imagination], eine Monographie über Josef Schiffner, einen heute vergessenen Prager deutschen Schriftsteller der Aufklärungszeit. Im vergangenen Jahr folgten dann die soeben mit dem Otokar-Fischer-Preis ausgezeichnete Strašidelné Čechy [Geisterhaftes Böhmen]. Den beiden letztgenannten Büchern ist eine Herangehensweise an den Stoff gemeinsam, die eines gelehrten Dichters würdig ist. Man kann sie als geistreiche kulturhistorische Abhandlungen und als spannende Geschichten lesen, die – im Falle von Strašidelné Čechy – den Charakter einer gelehrten Unterredung haben.

 

Strašidelné Čechy ist eine Auswahl aus der monumentalen Trilogie Unterredungen von dem Reiche der Geister aus der Feder des  Tiroler Graf Otto von Graben zum Stein, eines gebildeten Aufklärers und satirischen Geistes. Dieser Graf war im Laufe seines bewegten Lebens Mönch im Serviten-Orden (was allerdings nicht verlässlich belegt ist), wirkte als Feldprediger, und auch – nun bereits belegbar – unter dem Namen Astralicus als königlicher Unterhalter – halb Gelehrter, halb Narr – am Hof des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. Zu seinem Leben sind nur äußerst wenige primäre Quellen erhalten, auch war er allem Anschein nach ein höchst geschickter Mystifikator. Dies regt Marek Vajchr, der von Grabens Text ein umfangreiches Vorwort mit dem Titel „Astrální komedie [Astralkomödie]“ vorangestellt hat, zu Ausflügen in die Literaturgeschichte an, mittels derer er unerwartete intertextuelle oder intermediale Zusammenhänge, Anspielungen und verwickelte Beziehungen aufzeigt und vor allem aber Geister und Spiritismus als grundlegende Themen des aufgeklärten 18. Jahrhunderts enthüllt. Otto von Graben zum Stein veröffentlichte die erwähnte Trilogie, aus der Vajchr Geschichten ausgewählt und übersetzt hat, die im Böhmischen Königreich spielen, in den Jahren 1731 bis 1741. Zwei Freunde, der skeptische Andrenio und der an den Phänomenen der Anderswelt und höherer Sphären interessierte Pneumatophilus – also ein Geisterleugner und ein Verteidiger der Geisterwelt – debattieren einzelne Geistererscheinungen. Pneumatophilos Name ist sprechend und bedeutet Liebhaber der Geister; und wie wir erfahren, ist diese Gestalt eine der vielen literarischen Gestalten des gelehrten Grafen selbst. Und wie Marek Vajchr in seinem Vorwort zeigt, hat von Grabens Werk auch die allergrößten Geister inspiriert. „In Nichts Vorbild, in allem Anreger und Erwecker“ zitiert der Erzähler der „Astralkomödie“ seinem Gegenüber Michael einen Ausspruch des Weimarer Olympiers, der sich Vajchrs Erzähler zufolge auf eben jenen Otto von Graben zum Stein bezieht. Der dialogisierten Form der Unterredung kommt hier eine tiefere Bedeutung zu: Sie nimmt die bevorstehende Unterredung des Pneumatophil und des Andreni vorweg, die zugleich das von Goethe dramatisierte Ringen Fausts mit Mephistopheles als Dialog zweier gegenläufiger Prinzipien widerspiegelt. Dem sehnlichen Wunsch des Faust, zum Wesen der Dinge vorzudringen (was auch Erfahrungen aus dem Geisterreich einschließt), opponiert Mephistopheles als Geist, der stets verneint. Marek Vajchrs satirischer, aber dennoch ernst gemeinter Auffassung zufolge ist also Grabens Werk für die europäische Literaturgeschichte von einer geradezu epochalen Bedeutung: Es reagiert auf die aufklärerischen Debatten über die Existenz und das Wesen der Geister, begründet ganze Genres (ein spiritistisches und ein diskursives), und verkörpert die Dualität zwischen den schöpferischen Kräften der Phantasie und des Verstandes. Im zeitgenössischen Jargon gesprochen: Es formuliert Diskurse und Narrative, die für die europäische literarische Tradition wegweisend sind. Aber kommen wir noch für ein Weilchen zu Goethes Faust zurück: Das Drama beginnt mit einer „Zueignung“, in der das lyrische Ich mit Geistern spricht, die wir als Wesenheiten begreifen können, die das von Goethe geschaffene Universum bevölkern, und auch als die Phantome seiner entflohenen Jugendzeit:

 

Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten!

Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.

Versuch’ ich wohl euch diesmal fest zu halten?

[in Otokar Fischers Übersetzung: „Zas, chvějné postavy mě oblétáte / jež mlád jsem zřel kdys kalným zrakem svým / Zda zachytím vás aspoň tentokráte]

 

Als rationalistischen Gegenpol zum Dichter, der sich solchen Visionen hingibt, darf man Christoph Friedrich Nicolai ansehen, einen Autor satirischer Romane und Reiseberichte und führenden Vertreter der Berliner Aufklärung. Er ist es, dem Goethe im Faust ein – wenn auch nicht allzu schmeichelhaftes – Denkmal gesetzt hat. Da nimmt so ein humorloser Widerling von Aufklärer an einer Tanzvergnüngung zur Walpurgisnacht teil und weiß nichts Besseres mit sich anzufangen, als die tanzenden Geister, Hexen und übrigen verdammungswürdigen Existenzen zu tadeln und zu belehren:

 

Osvícenec

Vy čeládko! Což trpět se to smí?

Což nebylo vám dávno dokázáno,

na nohou stát že duchu není dáno?

A teď tu ještě tancovat — jak my?

Brocktophantasmist.

Verfluchtes Volk! was untersteht ihr euch?

Hat man euch lange nicht bewiesen?

Ein Geist steht nie auf ordentlichen Füßen;

Nun tanzt ihr gar, uns andern Menschen gleich!

 

Den aufklärerisch empörten Ausfällen an die Adresse der tanzenden Geister setzt Mephistopheles mit einer boshaften Bemerkung ein Ende:

 

Teď do kaluže půjde posadit se,

neb v tuhle kúru věří jen;

jak pijavky ho kousnou do zadnice,

hned z duchů je i z ducha vyhojen.

Er wird sich gleich in eine Pfütze setzen,

Das ist die Art wie er sich soulagirt,

Und wenn Blutegel sich an seinem Steiß ergötzen,

Ist er von Geistern und von Geist kurirt.

 

In Goethes Original (und in älteren Übersetzungen des Faust ins Tschechische) tritt der Aufklärer allerdings unter dem Namen Brocktophantasmist, ggf. auch Proktophantasmist auf. Dabei handelt es sich um einen Neologismus, dessen satirischer Stachel unmittelbar gegen Nicolai gerichtet ist: der Spottname setzt sich aus dem griechischen Wort proktor, also dem Ausdruck für Enddarm, und phantasma, also Gespenst, zusammen. Und wie hängen die von Mephistopheles erwähnten Blutegel mit der Kritik des aufgeklärten Vernunftdenkens zusammen? Das erklärt Marek Vajchr im Kontext der Tatsache, dass Nicolai von Grabens Unterredungen als Ansammlung geschmacklosen Unsinns abgeurteilt habe: „Der Grund für Nicolais geradezu allergische Reaktion war eher persönlich; 1791 machte dieser aufklärerische Rationalist einen nervösen Anfall durch, während dessen er Geistererscheinungen hatte. Diese vertrieb er durch das Ansetzen von Blutegeln am eigenen Allerwertesten, und weil er über diese Heilmethoden nicht nur eine gelehrte Abhandlung schrieb, sondern sie auch noch der Preussischen Akademie der Wissenschaften schickte, wurde er seinerzeit allgemein bekannt, wenn auch vielleicht aus einigermaßen anderen Gründen, als er sich selbst gewünscht hätte“ (S. 17). Auch eingefleischte Aufklärer werden also von Geistern heimgesucht, es hat also keinen rechten Sinn ihnen zu trotzen, zumal sie für uns ja schon von Goethe ins Reich der Kunst erhoben worden sind.

 

Marek Vajchr führt uns in seinen Strašidelné Čechy in den intertextuellen Reigen literarischer und wissenschaftlicher Werke der Spiritisten bzw. Pneumatophilen ein, die mit ihrem Wirbeln den Begriff des Geistigen mit vor-aufklärerischen, spielerischen Bedeutungen färben, die dem Geistersehen der Spiritisten näherstehen als den Geisteswissenschaften. So ist es auch sicher kein Zufall, dass die Bezeichnung „Geisteswissenschaft“ unmittelbar mit den Debatten der Aufklärungszeit verbunden ist: Sie trat erstmals im Jahre 1787 in einer anonymen Schrift mit dem Titel Wer sind die Aufklärer? auf. Deren Autor beruft sich mit dieser Begriffsprägung auf eine Theorie der „Pneumatologie des Geistes“, womit eine Wissenschaft gemeint ist, welche Phänomene aus „geistigen“ Ursachen heraus erklärt. Auch die heutigen Geisteswissenschaften kommen nicht ohne eine Erhebung ins Reich des Geistes aus, in dem Sinn gefunden werden kann. Mit leichter Ironie zwar, aber dennoch ernst gemeint, erklingt aus dem Munde des Pneumatophilen: „Graben musste wirklich sehr lange warten, bis jemand sich mit Adlersschwingen die Seele des Sinns in jene himmlische Höhen hinaufträgt, die seine im Staub der Bibliotheken bucklig gewordenen Buchstaben verdient haben. Vielleicht findet Grabens Geist nun endlich seinen Frieden“ (S. 54).

 

Lieber Autor, wir wünschen Ihnen viel Inspiration durch den deutschen Geist, den französischen ésprit und all die Geister, die das tschechische Territorium bevölkern, und gratulieren Ihnen aufs Herzlichste zum Otokar-Fischer-Preis!

 

Übersetzung: Kathrin Janka

 

Marek Vajchr: Strašidelné Čechy [Gespenstisches Böhmen] Praha: Revolver Revue 2021. 216 S.


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