Es schreibt: Pavel Novotný

(E*forum, 15. 6. 2022)

Es ist lange her, dass ich das Werk Sekunde durch Hirn des in Teplitz-Schönau geborenen Schriftstellers Melchior Vischer (1895–1975) zum ersten Mal gelesen habe. Ich stieß auf den Text in einer ostdeutschen Anthologie, die den gleichen Namen trug wie Vischers „Roman“ und die Texte von einundzwanzig Autoren des deutschen Expressionismus beinhaltete. Der Text von Melchior Vischer schloss die Textsammlung bezeichnenderweise ab – er führt nämlich all das in konzentrierter Weise zusammen, was man üblicherweise unter den Begriffen Expressionismus und Dada versteht: das dunkle Groteske, Entfremdung, fragmentierte Weltwahrnehmung und zugleich ein entfesseltes Sprachspiel.

 

Von Anfang an fesselte mich an diesem Text die potenzierte Spannung zwischen dem erzählten Zeitraum des Augenblicks, während dem die Hauptfigur erdwärts fällt, und der auseinanderstrebenden Horizontale der Geschichten, die in diese Vertikale hineingezwungen wird. In jener Sekunde des Fallens vom Baugerüst konzentriert sich das ganze Kaleidoskop der Handlungsbruchstücke, ein Sinnes- und Gedankenkonzentrat des unbändig erlebenden und fantasierenden Subjekts. Im Text entspinnt sich nun ein komplizierter Weg von einem Ort zum anderen, von Lissabon bis zu Hammerfest, ein ganzes – reales sowie imaginiertes – Leben, bevor der Kopf auf dem Pflaster zertrümmert wird und das Gehirn „strahlenförmig aus der Hirnschale spritzt“. Die Gedankentektonik der erlebenden Figur, das ganze Handlungschaos, korrespondiert zugleich mit dem hektischen Rahmen der modernen Wirklichkeit. Im Wirbel der pulsierenden Stadt stellt dieser Fall vom Baugerüst nur noch eines der vielen Ereignisse dar, das die Zuschauenden und Zufallszeugen kurz grimassierend begaffen („bitte, lachen Sie nicht, meine Damen und Herren!“), dann wird alles vergessen und das Mosaik rotiert weiter vor sich hin.

 

Der Autor bezeichnet seinen Text selbst als einen bedrohlich rotierenden Roman und damit weist er auf das beschleunigte Tempo der Zeit, auf die polternde Dynamik des 20. Jahrhunderts, hin, die das menschliche Denken und die Kunstwerke dieser Zeit prägte. Angesichts der Wirklichkeitsdarstellung erinnert der Text etwa an die von Menschen wimmelnden Gemälde von George Grosz, an die Collagen von Kurt Schwitters, oder aber an die späteren Filmcollagen von Walter Ruttmann oder Hans Richter. Dieser Mikro-Roman oszilliert zwischen einer finsteren expressionistischen Groteske und einem munteren dadaistischen Herumtollen. Expressionistische Züge kann man v. a. im maximalisierten Kontrast zwischen dem Lebensdurst und der Öde des Todes erblicken: so verwandelt sich die sprechende Hauptfigur, der unermessliche Kosmos von Lebensgeschichten, beim Aufprall in einen bloßen Fetzen toten Fleisches – in eines der Benn’schen Objekte auf dem Seziertisch. Was diesen Text dem Dada zuordnen lässt, ist insbesondere dessen formale und sprachliche, die grammatischen Regeln konsequent unterwandernde Ausgelassenheit. Gezielt destruiert Vischer die traditionellen Erzählstrukturen, zertrümmert die Syntax, bildet viele Neologismen, er gerät oft an die Grenze der visuellen und phonetischen Poesie, wie sie etwa Hugo Ball, Raoul Hausmann oder Kurt Schwitters schrieben – es mag kein Zufall sein, dass gerade Schwitters Autor des ursprünglichen Buchumschlags war, ein Dichter, der mithilfe seiner Anti-Kunst die traditionellen Vorgehensweisen zerschmetterte und für ein offenes Text- und Bildmosaik plädierte.

 

Während Sekunde durch Hirn ein Werk von ausgesprochen hoher Sprachkomplexität und Vielschichtigkeit ist, wirkt der zweite Text Der Hase – dies erwähnt auch die Übersetzerin Viktorie Hanišová im Kommentar des Übersetzers – wesentlich sparsamer. Auch diesem Text liegt das Bild einer Welt zugrunde, die auseinanderstrebt und nicht zusammenhängend ist. Der fragmentierte Text ist ein Ausdruck des enormen Lebenstempos, zuweilen einer neurotischen Unruhe und Angst vor etwas: „Meine Unruhe wurde zu meinem ewigen Gesellschafter. Ich bin verwunschen, denn ich bin ein Gejagter. Ich werde gejagt, da ich das Warum nicht kenne,“ erklärt die Hauptfigur. Der Text wurde u. a. von Vischers Kriegserlebnissen beeinflusst, es lässt sich ihm der Schreck vor dem allgegenwärtigen Tod und der Zwang zum ununterbrochenen Vorwärtsstreben entnehmen. Genauso wie z. B. in Ernst Jüngers Werk Der Kampf als inneres Erlebnis oder später in einem der „Träume“ von Günter Eich wird hier ein Bild des Soldaten präsentiert, der im Augenblick des Schlachtgetümmels plötzlich die Zeit- und Raumwahrnehmung verliert und als denkendes Wesen völlig paralysiert wird: „Ich rannte quer über das Feld wie ein Hase. Auf einmal spürte ich einen Schmerz. Mir wurde schwarz vor Augen. Ich fiel um und blieb liegen. Als ich aufwachte, war alles um mich fremd. Die Sprache, die Menschen, der Raum,“ schreibt Vischer. Während Jünger den Menschen auf eine bloße, nicht-denkende Maschine reduziert, während Eich den Soldaten geistig völlig „ausradieren“ und ihn auf die Trommel hören lässt, reduziert Vischer ihn auf ein herumirrendes, überaus belebtes Nervenbündel, das nicht nur vom Krieg, sondern auch von der ihm vorausgehenden, zusammenbrechenden Welt, genauso wie von der anstehenden, abgründigen Ungewissheit paralysiert wird. Der Hase ist ein Ausdruck des Schreckens angesichts der Kriegsmaschinerie, sowie der allgemeinen Weltbefindlichkeit, die jedwede Harmonie vermisst, einer Welt, die ihr „Wohin“ und „Warum“ verlor – und die dem menschlichen Hasen-Gejagten in ihrer Unergründlichkeit eine Falle nach der anderen in den Weg stellt. Das Subjekt und dessen Leben werden auf einen bloßen Ausdruck der permanenten Wachsamkeit, auf den Trieb zum Überleben reduziert.

 

Auch in diesem bemerkenswerten Text bleibt Vischer ein Dichter scharfer Kontraste; im schrillen Kontrast zu der Hasenflucht steht etwa das Bild eines Mannes, der sich mitten im Gräuel des Krieges nicht vom Fleck rührt und ruhigen Mutes seine Kuh füttert: „Und sollte der Krieg ewig dauern“, schreibt der Autor, „die Beiden werden hier sitzen und still auf die Hoffnung warten. Sie werden den Krieg überleben. Der Mann und die Kuh. Der Mensch und das Tier“. Eine Parallele zu dieser Szene bildet schließlich auch der Rahmen der ganzen Erzählung. Die ganze Geschichte von dem permanenten Gejagt-Werden schildert nämlich ein Straßenkehrer, der letzten Endes nur „die Straße fegt und nichts fragt“, der seine „Ruhe“ genießt und sich „mit allen Menschen und Hasen versöhnt hat“. Inwiefern diese Ruhe das Ergebnis einer abgründigen Resignation und des Lebensüberdrusses ist, oder aber als Zeichen einer harmonischen Versöhnung mit der Welt zu verstehen wäre, lässt der Autor offen.

 

Viktorie Hanišová nahm sich der Übersetzung mit größter Sorgfalt an und bewies viel Sprachwitz. Der tschechische Text fließt natürlich, wirkt lebendig, die Übersetzerin trifft sowohl das Groteske des Erzählstils in Sekunde durch Hirn, als auch den sachlichen, oder sogar schroffen Ton in Der Hase. Die Übersetzerin stand im Laufe des Übersetzungsprozesses zweifellos oft vor der zweischneidigen Entscheidung, ob sie bei ihrer Arbeit eher nüchtern und auf der rein formalen Ebene bleiben sollte oder ob sie umgekehrt frei und kreativ vorgehen sollte. Insbesondere der erstgenannte Text fordert den Übersetzer zur Kreativität förmlich auf, denn der Autor ließ sich – wie Viktorie Hanišová anmerkte – „von den grammatischen Regeln nicht allzu sehr einschränken: er ließ Artikel, Interpunktion, Präpositionen und manchmal auch Verben willkürlich aus (...), bildete viele Neologismen und benutzte eine vereinfachte Rechtschreibung“. Für die Übersetzerin musste etwa Vischers eigenartige, in der Tat dadaistische Wortbildung eine Herausforderung gewesen sein – sehr oft bildete sie grammatische Lehnübersetzungen, was sehr mutig war, im Endeffekt allerdings enorm wirkungsvoll ist: so findet man hier Bildungen wie etwa „nízkočelný“ („kurzstirnig“), „kinoduše“ („Kinoseelen“), „sudobřicha“ („Faßbäuche“), „zalednil“ („übereiste“) oder ein schönes Wort „rozbřinkot“ („Zerlärm“). In der Übersetzung wurde auch Vischers Hang zur Alliteration sowie zum Wohlklang mitberücksichtigt, und es sei hier angemerkt, dass das Resultat sehr gelungen wirkt: so konnte z. B. „trestat se treskami“ („kastaien mit Kastanien“) entstehen oder aber „po falu lačnící poukázala na svoje prahnoucí pasivum“, was die originale Version „und phallushungrig auf ihr lechzendes Passiivum wies“ sogar noch übertrifft. V. a. die Übersetzung von Sekunde durch Hirn würde m. E. eine eingehende übersetzungskritische Analyse verdienen, denn der Leser hat hier ein äußerst komplexes Übersetzungslabyrinth vor Augen.

 

Jede Seite der Übersetzung legt Zeugnis ab über eine sorgfältig geleistete Arbeit, dies ergänzt auch das fundierte, biographisch- und interpretationsorientierte Vorwort von Radim Kopáč und Viktorie Hanišová. Und die stilvolle Buchausstattung sollte auch nicht unerwähnt bleiben. Summa summarum: es ist eine Freude, die tschechischen Übersetzungen ausgewählter Texte von Melchior Vischer zu lesen, wobei es sich zugleich um eine sehr anspruchsvolle Lektüre handelt, die man mehr als einmal wagen sollte.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Melchior Vischer: Výbor z díla: Vteřina mozkem, Zajíc. Přeložila Viktorie Hanišová. Praha: Academia, 2021, 176 S.


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