Es schreibt: Ladislav Futtera

(18. 5. 2022)

„Anstatt des Begriffs ‚Biedermeier‘ als Bezeichnung der literarischen Epoche zwischen Romantik und Realismus werden nach wie vor hie und da die Begriffe ‚Literatur der Restaurationszeit‘ oder ‚Vormärz‘ verwendet.“ Auf diese Weise präsentierte Milan Tvrdík – offenbar von der damals aktuellen Auseinandersetzung um den Biedermeier-Begriff in der tschechisch geschriebenen Literatur beeinflusst – 2015 die terminologische Diskussion innerhalb der literaturwissenschaftlichen Germanistik (K problematice literatury německého a rakouského biedermeieru [Zur Problematik des deutschen und österreichischen Biedermeier], Svět literatury 52, 2015, S. 95–115). In den Prolegomena der mehr als 1000 Seiten langen Publikation Vormärz-Handbuch (Bielefeld: Aisthesis, 2020), die Beiträge von mehr als hundert Autoren und Autorinnen umfasst und von Norbert Otto Eke herausgegeben wurde, wird der Biedermeier-Begriff umgekehrt als eine enge Bezeichnung für einen bestimmten Lebensstil aufgefasst, eine Bezeichnung, die darüber hinaus infolge der früheren Forschung mit negativen Konnotationen behaftet ist. Als zentraler Begriff, der die ganze Epoche und ihr kulturelles, v. a. aber ihr literarisches Leben überdacht, wird der von Tvrdík abgelehnte „Vormärz“ (S. 13–16) gewählt. Es sei hier daran erinnert, dass diese Verwendung des Begriffs sich der extensiven Auffassung des Begriffs nähert, wie Friedrich Sengle ihn in seiner dreibändigen Publikation Biedermeierzeit (Stuttgart: J. B. Metzler, 1971–1980) geprägt hat. Ekes Zusammenfassung der terminologischen Diskussion mag allerdings auch für die Bohemistik von Interesse sein: Abgesehen von dem bereits erwähnten und reichlich diskutierten Biedermeier-Begriff ließe sich hier auf den extrem heiklen Begriff der „nationalen Wiedergeburt“ (národní obrození) hinweisen, der als traditionell dominierende Bezeichnung derselben Epoche in der tschechischen Historiographie und Literaturgeschichte bis dato firmiert.

 

Im Einklang mit dem Charakter der Gattung (Handbuch) bietet die Publikation in der Funktion als Nachschlagwerk elementare Einsicht in die Epoche sowie einen Überblick zum aktuellen Forschungsstand und ist in kurze Kapitel gegliedert, die fünf kompakte Abteilungen bilden. Ein verhältnismäßig knapper historischer Abriss mit dem aussagekräftig formulierten Titel Das Zeitalter der Revolution(en) thematisiert die wichtigsten geschichtlichen Umwälzungen sowie politische Bewegungen zwischen 1815–1848 im deutschsprachigen Raum. Im Fokus der Aufmerksamkeit liegt die Revolution von 1848/49, der sich drei Teilkapitel widmen (jeweils ein Kapitel zur Revolution selbst, über die Achtundvierziger sowie über die Frankfurter Nationalversammlung).

 

Die zweite Abteilung fasst die jeweiligen Problemfelder zusammen. Analysiert werden hier die deutlich heterogenen Begriffe für Kunst- und Kulturströmungen wie Klassik, Romantik oder Aufklärung und anschließend auch deren Rezeption im Vormärz, ferner die Wandlung des öffentlichen Raums und der Bürgergesellschaft mit Akzent auf der Entstehung der Kultur der politischen Parteien, Vereine und Arbeitervereine sowie die Entwicklung des Rechtsstaates. In speziellen Kapiteln werden auch die Phänomene des Nationalismus und Antisemitismus diskutiert. Erwähnung findet ferner der „Nachmärz“: Es wird also dargelegt, inwiefern die Revolution von 1848 einen geschichtlichen Umbruch darstellte und inwiefern sie umgekehrt zur Aufbewahrung der Kontinuität beitrug. Aus tschechischer Perspektive dürfte man wohl anmerken, dass die allgemeine Interpretation der Geschichte, wie sie hier vorliegt, sich in den Hauptpunkten mit der zweibändigen synthetischen Arbeit České země v 19. století [Böhmische Länder im 19. Jahrhundert] (Praha: Historický ústav AV ČR, 2014) deckt, in der das 19. Jahrhundert aus dem Blickwinkel der Entstehung der modernen tschechischen Bürgergesellschaft beleuchtet wurde. Die Revolution von 1848 lässt sich dabei nicht eindeutig als geschlagen interpretieren, denn sie hatte im kurzfristigen (Aufhebung der Robot) sowie mittelfristigen zeitlichen Horizont (Politisierung der Gesellschaft nach der Erneuerung der Verfassungsmäßigkeit im Kaisertum Österreich) manche Errungenschaften hervorgebracht.

 

Die dritte Abteilung thematisiert die kulturhistorische Situation im behandelten Zeitraum aus einer interdisziplinären Perspektive. Nach der Anfangsanalyse des medialen Raums werden die einzelnen Kunstarten samt den Übergängen zwischen ihnen (Oper oder Karikatur) und den ökomischen Zusammenhängen der Kulturproduktion vorgestellt. Nach den Kapiteln zum Thema des Hegelianismus und der philosophischen Sprachkritik wird der interkulturelle Austausch und der Kulturtransfer zwischen dem deutschsprachigen Raum und den Nachbarkulturen fokussiert (siehe unten).

 

Die letzten zwei Abteilungen, die jedoch insgesamt mehr als die Hälfte des Umfangs ausmachen, widmen sich der Literaturwissenschaft, im Einzelnen dann den soziohistorischen Kontexten der literarischen Produktion, etwa der Entwicklung des Buchmarkts, des Journalismus, ferner der Zensur und der Literaturkritik. Nach dem Überblick der zeitgenössisch relevanten ästhetischen Konzepte kommt man dann zur Behandlung der Gattungslandschaft und zu den Typen der literarischen Produktion. Den letzten Teil bildet dann das Lexikon von „Autoren, Autorinnen und Gruppen“ – was Gruppen angeht, handelt es sich konkret nur um eine einzige, nämlich das Junge Deutschland. Insgesamt werden 50 AutorInnen vorgestellt. Der Autor-Begriff wird allerdings sehr breit aufgefasst, es handelt sich somit nicht nur um Schriftsteller im Bereich der Belletristik, wie die Aufnahme von Karl Marx und Friedrich Engels illustriert. So gesehen fehlt – wenn man berücksichtigt, dass Hegels Philosophie an einer anderen Stelle behandelt wurde – in dieser Aufzählung jedoch wenigstens noch der Name Arthur Schopenhauer… Im Vorwort lehnt Eke es allerdings ab, einen verpflichtenden Autorenkanon aufstellen zu wollen (S. 16). Trotzdem hat es den Anschein, als würde die Auswahl allzu sehr den revolutionären Charakter der Vormärz-Zeit betonen und die Biedermeier-Evolution dieser Epoche ein wenig in den Hintergrund rücken (auch Detlev Mares vermisste in seiner Rezension [in: Online-Rezensionen des Jahrbuchs zur Liberalismus-Forschung 1/2021] die führenden Vertreter des Liberalismus auf dieser Liste).

 

In der abschließenden Abteilung tritt wohl die größte Schwäche der Publikation zum Vorschein: Infolge deren Umfangs und der großen Anzahl von AutorInnen gelang es leider nicht, die einzelnen Einträge formal einheitlich zu halten. Ihr Aufbau sowie ihre Methodologie schwanken somit von einer Einordnung des Autors in eine Stelle im literarischen Feld à la Bourdieu und der Andeutung einzelner Interaktionen, innerhalb derer der Schriftsteller aktiv war (so wie es etwa im Falle von Anastasius Grün Primus-Heinz Kucher [S. 770–775] tut) bis zu einer schlichten Gliederung des Beitrags in Leben und Werk (wie etwa im Falle von Adalbert Stifter bei Marta Famula [S. 931–937]). Ebenso unausgeglichen ist die jeweilige Aufmerksamkeit gegenüber dem „zweiten Leben“ der Schriftsteller. Man muss allerdings zugeben, dass die Tendenz, auch die Rezeptionsseite der Vormärz-Literatur in einer breiteren historischen Perspektive zu verfolgen, in der ganzen Publikation eindeutig vorhanden ist.

 

Bewertet man die Publikation zunächst aus der germanistischen Perspektive, muss man Dieter Langewieschs Lob zustimmen, der den „detaillierten Epochenüberblick“ hervorhebt, den das Buch dem Leser anbietet, gemeinsam mit „einer Vielzahl von speziellen Forschungsbereichen und auch Hinweise[n] auf offene Fragen“ (in: H-Soz-Kult, 26. 8. 2020). Wählt man jedoch die spezifisch bohemistische, bzw. germanobohemistische Perspektive, lässt sich Folgendes konstatieren:

 

Für die literaturwissenschaftliche Bohemistik kann erstens die Verschränkung von soziohistorischen und ästhetischen Kriterien in der vierten Abteilung der Publikation sehr inspirativ sein. Während die bohemistische Literaturgeschichtsschreibung sich – sei es zustimmend oder ablehnend – bei der Deutung der Literatur des Vormärz mit dem teleologisch-immanentistischen Konzept der Entwicklungsreihen von Felix Vodička auseinandersetzt, werden die Anregungen der soziologischen Perspektive auf Literatur in den letzten Jahren im Rahmen von Projekten realisiert, die sich auf die Erforschung des Leserverhaltens, des Buchmarkts und der Zensur konzentrieren und die in der Abteilung für die Erforschung der Literaturkultur des Instituts für tschechische Literatur AV ČR realisiert werden (Oddělení pro výzkum literární kultury Ústavu pro českou literaturu AV ČR). Es wurde allerdings bis dato kein Versuch unternommen (außer ein paar isolierter Projekte), beide konträren Konzepte organisch nebeneinander zu stellen; in dieser Hinsicht ist der Charakter des Handbuchs als eine Art Lexikon, das die gewählte Methode und das Gesamtnarrativ der Darlegung nicht in Zusammenhänge stellen muss, von Vorteil.

 

Zweitens – jedoch im negativen Sinne – muss die marginale Anwesenheit von Bohemikalien hervorgehoben werden. Es ist vorauszuschicken, dass man eine beträchtliche Diskrepanz feststellt, wenn es bereits um die Habsburgermonarchie geht. Die Darlegung wird – obwohl die geographische Identifikation mit dem Deutschen Bund vorliegt – der traditionellen Periodisierung und Terminologie der (nord)deutschen Kulturgeschichte gerecht, wobei das Kaisertum Österreich sowie die politischen und kulturellen Verhältnisse in der Monarchie hier als ein spezieller Fall integriert werden. – So macht etwa Johanna Canaris in ihrem Text über Franz Grillparzer auf die defensive Stellung deutscher Nationaler im Revolutionsjahr 1848 aufmerksam, mit Hinblick auf die konkurrierenden Nationalbewegungen der nicht-deutschen Völker in der Habsburgermonarchie und Grillparzers loyale Stellungnahme der Herrscherdynastie gegenüber (S. 757). In der Perspektive der Autoren der Publikation geraten die böhmischen Länder und ihre kulturhistorischen Aspekte somit an die Peripherie der Peripherie.

 

Das heißt keineswegs, dass die bohemikalen Aspekte im Handbuch völlig ausbleiben. Am Anfang analysiert Dieter Hein im Kapitel zur Revolution von 1848 die Spannung zwischen den Zielen der deutschen Liberalen einerseits und denen der politischen Repräsentation der nicht-deutschen Ethnien (S. 123–124). Der knappe Seitenumfang des Kapitels sowie das mutmaßlich erwartete Vorwissen beim Modellleser machen jedoch simplifizierenden Behauptungen den Weg frei, wie z. B. der statischen Trennung der Akteure in ein fortschrittliches und konservatives Lager, wobei die Vertreter der nicht-deutschen Ethnien en bloc mit den antirevolutionären Kräften gleichgesetzt werden. Von den Schriftstellern, die wenigstens aufgrund ihrer Herkunft traditionell zur deutschen Literatur aus den Böhmischen Ländern gezählt werden, wurden Charles Sealsfield (Karl Postl) und Adalbert Stifter in selbstständigen Darstellungen behandelt. Überraschenderweise wurden weder Stifters Rückkehr zu Böhmen und seine Position in der regionalen interkulturellen Realität (mit dem Roman Witiko deklariert) noch die problematische böhmische/tschechische Rezeption von Grillparzers Tragödie König Ottokars Glück und Ende zum Gegenstand der Darlegungen.

 

Das oben Gesagte sollte allerdings nicht als Ausdruck der Kleinlichkeit vonseiten der lokalen germanobohemistischen Forschung verstanden werden, der nichts Anderes übrigbleibt, als Listen zusammenzustellen, wo und wann ihr eigener marginaler Forschungsgegenstand in breit angelegten synthetischen Werken erwähnt wurde. Vielmehr wird wiederholt auf die Unausgewogenheit der Darstellung in einzelnen Texten hingewiesen (der oben bereits erwähnte und methodologisch inspirative Text zu Anastasius Grün erinnert in einer speziellen Passage an die Bezüge des Schriftstellers zur slowenischen Literatur [S. 774]), dasselbe beträfe auch die Abteilung, die die transnationalen und transkulturellen Aspekte im deutschsprachigen Raum im Vormärz dezidiert verfolgt. Die fünf Analysen zum Thema Kulturtransfer widmen sich nämlich dem Kulturaustausch mit dem französischen, englischen, dänischen (bzw. nordischen), schweizerischen und italienischen Kulturraum (S. 392–442). Abgesehen von dem Kapitel, das die – durch antirussische und antitürkische Aufstände motivierte (S. 281–288) – deutsche Polenfreundschaft und den Philhellenismus behandelt, wird im ganzen Buch die slawische Kultur ausgespart. Wird das Interesse an polnischer Problematik aus der politischen Perspektive behandelt, bedeutet dies in erster Linie die Recherche der zeitgenössischen Publizistik, völlig ausgespart bleibt dabei u. a. die Faszination der deutschen Romantik durch die polnische, tschechische und südslawische Folklore und die mythischen heldenhaften Urzeiten. Angesichts der Tendenz, die österreichische Kultur in den Darstellungsrahmen der (nord)deutschen Kulturentwicklung zu integrieren, wie sie im Handbuch zu verfolgen ist, kann man sich die leicht ironische Frage nicht verkneifen, ob neben dem deutsch-schweizerischen doch auch der deutsch-österreichische Kulturtransfer nicht ein besonderes Kapitel innerhalb der breit aufgefassten deutschsprachigen Region verdienen würde…

 

Abschließend sei jedoch nochmals betont: als Ganzes bietet das Handbuch eine wertvolle, faktographisch kompakte und inspirierende Einsicht in die Vormärz-Zeit im deutschsprachigen Kulturkontext! Es muss jedoch hinzugefügt werden, dass es für die Germanobohemisten zugleich auch dank ihrer Latenz, dank des leeren Raums, anregend ist, den es auf der Karte der Böhmischen Länder hinterließ. Mit Eindringlichkeit zeigt sich hier die wichtige Rolle von lokal orientierten Publikationen (z. B. Sousedé. Česko-rakouské dějiny [Nachbarn. Die tschechisch-österreichische Geschichte], Praha: Nakladatelství Lidové noviny, 2019), von einer primär historischen, nicht literaturwissenschaftlichen Perspektive mit dem Fokus der Auslegung erst nach 1848.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Norbert Otto Eke (Hg.): Vormärz-Handbuch. Bielefeld: Aisthesis, 2020, 1051 S.


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