Es schreibt: Kamil Činátl

(4. 5. 2022)

Im Rahmen der umfangreichen historiographischen Produktion findet man nur selten einen Text, der sich auf die Geschichtsbildung konzentriert. Die Mehrheit der HistorikerInnen widmet sich der akademischen Forschung und für die Popularisierung bzw. die Anwendung ihrer Ergebnisse im Bildungsbereich bleibt ihnen keine Zeit übrig. Es mag einerseits mit dem undefinierten Wert solcher Outputs auf der Ebene des symbolischen Prestiges innerhalb der Fachkommunität und andererseits mit der Qualitätsmetrik wissenschaftlicher Leistungen zusammenhängen. Deshalb hat mich die Publikation Deutsche, Tschechen und Slowaken im 20. Jahrhundert des tschechisch-deutsch-slowakischen Teams von Historikern positiv angesprochen, die sich an Geschichtslehrerinnen und -lehrer wendet und ihnen Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stellt.

 

Die Publikation ist das Ergebnis der Aktivitäten der tschechisch-deutschen und slowakisch-deutschen Historikerkommissionen. Die deutschen Historiker wurden von Martin Schulze Wessel, Dieter Segert und Volker Zimmermann, die tschechische Seite von Miloš Řezník und Vladimír Handl und die slowakische von Dušan Kováč vertreten. Es handelt sich um eine relativ umfangreiche Anthologie von überwiegend Textquellen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, die in sechs chronologische Abteilungen gegliedert ist. Jedes Kapitel besteht aus einem historiographischen Deutungstext, einer kurzen Zusammenfassung didaktischer Vorgehensweisen und aus Quellen, die von einem knappen informativen Text eingeleitet werden. Was für ein Bild vom 20. Jahrhundert präsentiert die Publikation nun? In dieser Hinsicht ist bereits das Anfangskapitel von Miloš Řezník kennzeichnend, das Quellen v. a. aus dem 19. Jahrhundert bringt. Die Anthologie akzentuiert hauptsächlich die gesellschaftlichen sowie kulturellen Umwälzungen, die von der Modernisierung ausgelöst wurden. Sie ermöglicht es den Schülern, dass sie anhand von der Analyse der Quellen aus dem 19. Jahrhundert die Voraussetzungen für die dramatischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts besser verstehen. Das Bild der Geschichte des 20. Jahrhunderts wird hier nicht mehr von nur einem der nationalen Narrative dominiert, sondern es besteht aus drei unterschiedlichen und oft auch widersprüchlichen mitteleuropäischen Perspektiven. V. a. in der tschechischen und slowakischen Schulgeschichte nimmt die nationale Perspektive und der chronologisch geordnete Strom von überwiegend politischen Ereignissen nach wie vor eine feste Position ein. Deswegen schätze ich das Anliegen der Autoren, die Schlüsselthemen und -problematiken zu exponieren, die dem Lehrer als alternative Mittel zur Organisation der Masse des potenziellen Lehrstoffs dienen können. In einer Vergleichsperspektive legen die Autoren v. a. an die Entwicklung und die Wandlungen der Nationalidentitäten, an gemeinsame Vorstellungen über die Rolle des Staates, an Modernisierungsprozesse und die Rolle der Kultur in diesen Kontexten Wert. Sieht der Pädagoge das 20. Jahrhundert durch das Prisma der problematischen Fragen, hat er eine Chance, das historische Denken über das 20. Jahrhundert bei den Schülern zu vertiefen (das Nachdenken über die Ursachen und Folgen, über Bestehendes und dessen Wandlung, über die zeitgenössischen sowie aktuellen Perspektiven) und somit das bloße deskriptive Memorieren oder eine Reproduktion von stereotypischen Geschichtsbildern zu verlassen. In dieser Hinsicht verdient die Publikation eine positive Bewertung. Die multiperspektivische Quellenkomposition, die mehrere Problemfelder verbindet, macht es dem Lehrer möglich, den Verlauf historischer Ereignisse im breiteren mitteleuropäischen Zusammenhang zu vergleichen, und sie ist in der Tat innovativ. Sie könnte den tschechischen, deutschen und slowakischen Geschichtslehrern helfen, die klassische Akzentuierung von großen nationalen Narrativen mit Hilfe von einer Vergleichsperspektive zu korrigieren. Die Anthologie konzentriert sich hierbei nicht nur auf die Dokumente aus dem Bereich der politischen Geschichte, sie berücksichtigt auch die Alltagsgeschichte sowie Kultur- und Sozialgeschichte.

 

Aus der Sicht eines Didaktikers des Geschichtsunterrichts erscheint die Quellenauswahl als ausschlaggebend, auch das methodische Konzept deren praktischer Anwendung im Unterricht verdient jedoch Aufmerksamkeit. Die Qualität der methodischen Unterstützung ist allerdings nicht so perfekt. In der mehr als 400 Seiten langen Anthologie nehmen didaktische Überlegungen lediglich 14 Seiten ein, was illustrativ nahelegt, welchen Stellenwert das Autorenteam der Frage der methodischen Anwendung der Quellen im Unterricht zuschreibt. In der allgemeinen Produktion der Lehrmaterialien pflegt man das potenzielle Bildungsziel zu erörtern, die Verbindung zum Curriculum zu erwähnen, einen konkreten methodischen Arbeitsverlauf sowie mögliche Fragenstellungen vorzuschlagen, bzw. einen eventuell idealen Output eines Schülers anzudeuten, damit der Lehrer die Leistungen adäquat bewerten kann. Die didaktischen Texte in der vorliegenden Anthologie beschäftigen sich mit den angedeuteten Fragen nicht. Sie konzentrieren sich auf die thematischen Zusammenhänge zwischen den jeweiligen Quellen und machen die Lehrer auf relevante historiographische Themen aufmerksam, die sie bei der Quellenarbeit mitberücksichtigen können. Mehr als um Didaktik geht es also erneut „bloß“ um Geschichtsschreibung.

 

Bei den Kollegen Historikern begegne ich oft dem Argument, dass der Lehrer die didaktische Applikation zu leisten habe. Diese Einstellung ist teils auf die spezifisch tschechischen Erfahrungen mit der Handhabung des Geschichtsunterrichts in den 1990er Jahren zurückzuführen, als der Lehrende, was das 20. Jahrhundert anging, oft auf sich selbst angewiesen war. Für Manche war die Methode zum Synonym der Ideologisierung oder einer verpflichtenden marxistisch-leninistischen Auslegung geworden. Andererseits ist an einer solchen Auffassung auch die implizite Vorstellung der Didaktik schuld, die sie als Disziplin versteht, die jeder Historiker nur so beiläufig beherrschen müsse. Es genügt dabei, sich die deutschen Geschichtslehrbücher anzuschauen, damit man diese Vorstellung korrigiert. Im Konzept der deutschen Lehrbücher widerspiegelt sich die Diskussion über Ziele und Methoden der Geschichtsschulbildung, die im (west)deutschen Kontext bereits seit den 1970er Jahren geführt wird. Vereinfacht gesagt äußert es sich in der Reduktion der Deutungstexte idealerweise unterhalb von 50% des Gesamtumfangs, ferner in der Auffassung des Lehrbuchs als Werkstatt für die Quellenarbeit sowie in einem durchdachten und praxisbewährten didaktischen Apparat. Die von tschechischen Historikern geschriebenen Lehrbücher illustrieren in überwiegender Mehrheit im Gegenteil den Konsensus ihrer Autoren dahingehend, dass anhand von Auslegung gebildet wird. Konkretisieren wir noch ein wenig die Vorstellung hinsichtlich des didaktischen Apparats. Aus meiner langjährigen Erfahrung als Lehrer und Autor von Bildungsmaterialien weiß ich, wie sehr der Pädagoge die richtige, passende Frage an die Quelle schätzt. Wiederum kann man einen Blick in die deutschen Lehrbücher werfen, damit man eine wohl überlegte und praxisbezogene Didaktisierung der Quellen vor Augen hat. Ich bin an der präsentierten Quelle zwar interessiert, ich will sie verwenden, weiß allerdings nicht, wie ihr analytisches Potenzial für die Schüler zu erschließen wäre. Welche Frage wäre hier richtig am Platz? Und gerade das ist die Schlüsselaufgabe für die Zusammenarbeit des Historikers und Didaktikers (gerne auch in einer Person), und gerade in diesem Aspekt versagt die vorliegende Anthologie.

 

Dem Konzept der Anthologie ist zu entnehmen, dass das Autorenteam die Kooperation mit den Didaktikern und den praktizierenden Lehrkräften unterschätzte, auch wenn sie im Vorwort der Herausgeber deklariert wurde. Das Literaturverzeichnis weist keine didaktische Arbeit auf. Im Buch lässt sich kein einziger Hinweis auf einen relevanten einschlägigen Text finden. Es werden weder der Klassiker der modernen deutschen Geschichtsdidaktik, Hans-Jürgen Pandel, noch jüngere Theoretiker der Geschichtsbildung erwähnt, die auf die Förderung des geschichtlichen Denkens oder Aufhebung des Geschichtsanalphabetismus Wert legen. Dabei herrscht nicht nur im deutschsprachigen Kontext der Didaktik eine belebte Debatte zu diesem Thema, was viele Tagungen, Publikationen und breitangelegte Projekte unter Beweis stellen. Die Breite und Dynamik dieser Diskussion zum Thema der Didaktik illustriert etwa die Konferenz Core Concepts of History Didactics and Historical Education in Intercultural Perspectives Reflections on Achievements – Challenges for the New Generation, die 2020 in Graz stattfand und an der viele berühmte internationale Wissenschaftler teilnahmen (Näheres zum Programm der Konferenz vgl.: https://grazconference2020.uni-graz.at/de/). Es geht mir hier weniger um die erwähnte Konferenz, die die im gleichen Jahr herausgegebene Anthologie übrigens nicht hätte beeinflussen können, sondern um ein Beispiel für den Trend, das sich u. a. in anwachsender Anzahl von Publikationen äußert, die sich der Problematik der Geschichtsbildung widmen. Als Beispiel sei noch eine konkrete Publikation, diesmal aus dem slowakischen Kontext, angeführt, nämlich die 2019 erschienene synthetische Arbeit des Didaktikers Viliam Kratochvíl Metafora stromu ako model didaktiky dejepisu: k predpokladom výučby [Die Baummetapher als Modell der Geschichtsdidaktik: Voraussetzungen des Unterrichts], die von den Erkenntnissen des schweizerischen Didaktikers Peter Gautschi inspiriert wurde. Die Autoren der vorliegenden Anthologie hätten sich von dem repräsentativen Projekt mehrerer deutscher, österreichischer und schweizerischer Universitäten und Forschungsstellen Historical Thinking: Competencies in History (HiTCH) inspirieren lassen können, das zwischen 2012–2022 stattfand und eine große Reihe von interessanten Impulsen und Ergebnissen brachte (z. B. Ulrich TRAUTWEIN u.a.: Kompetenzen historischen Denkens erfassen: Konzeption, Operationalisierung und Befunde des Projekts „Historical Thinking – Competencies in History, Münster: Waxmann, 2017). Die Anthologie berücksichtigt diese dynamische Entwicklung der Gegenwartsdidaktik, die u. a. eben die methodische Arbeit mit den Quellen betrifft, leider nicht, was im Endeffekt ihre Anwendbarkeit in der pädagogischen Praxis vermindert.

 

In Anbetracht der praktischen Anwendung macht auch die materielle Gestalt der Publikation den Leser stutzen. Wie sollen die Lehrenden mit den Quellen arbeiten? Sollen sie eine größere Menge der Exemplare zur Anwendung in der Klasse kaufen, oder heimlich die jeweiligen Quellen kopieren? Die robuste Buchausführung macht auch die letztgenannte Vorgehensweise schwierig. Der Verlag bietet zwar eine PDF-Version an, ihre Zugänglichkeit – wenigstens für die tschechischen Lehrer – vermindert allerdings ihr hoher Preis (40 Euro). Warum gibt es keine Online-Unterstützung für die Publikation, so dass die Lehrer die konkreten Quellen herunterladen und drucken können? Und nicht zuletzt: Warum gibt es keine tschechisch- und slowakisch sprachige Sprachmutation der Anthologie? Haben die Herausgeber vorausgesetzt, dass die tschechischen und slowakischen Geschichtslehrer mit der deutschsprachigen Version der Quellen arbeiten werden?

 

Das auf den ersten Blick sympathische Ergebnis der Tätigkeit der tschechisch-deutschen und slowakisch-deutschen Kommissionen der Historiker weckt bei näherem Hinsehen Zweifel. Gelingt es der Anthologie, das Zielpublikum anzusprechen? Bewegt sie die Lehrer zur Veränderung des Stils und der Ausrichtung des Geschichtsunterrichts, wenn eine Reihe von praktischen Problemen sie an ihrer Anwendung im Geschichtsunterricht hindert? Das Buch sagt den Lehrern klar, dass der Geschichtsunterricht multiperspektivisch und an der Analyse und Interpretation der Quellen konstruktivistisch orientiert werden sollte. Das ist zweifellos lobenswert. Im Buch mangelt es leider an methodischer Unterstützung für ein derart ausgerichtetes Unterrichtskonzept. Den Lehrern wird nicht beigebracht, wie sie mit den Quellen konkret zu arbeiten haben, es wird auch auf keine externe Methodik hingewiesen (in der Produktion des Wochenschau-Verlags würde man gewiss viele Publikationen finden, die sich diesem Thema widmen). Das lobenswerte Vorhaben der Historiker blieb somit sozusagen auf halbem Wege stecken.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Martin Schulze Wessel / Miloš Řezník / Dušan Kováč (Hg.): Deutsche, Tschechen und Slowaken im 20. Jahrhundert: Materialien für den Geschichtsunterricht. Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag, 2020, 424 S.


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