Es schreibt Mirek Němec

(E*forum, 13. 4. 2022)

Das 2020 von Martin Hájek publizierte Buch Olomoučtí Němci 1918–1938 [Olmützer Deutsche 1918–1938] lässt sich in jeder Hinsicht als bescheiden bezeichnen. Der Autor und Bibliothekar der Olmützer Wissenschaftlichen Bibliothek (Vědecká knihovna v Olomouci) präsentiert sein Projekt allerdings sehr ambitioniert: „[…] bisher fehlte eine Arbeit, die sich mit dem Leben der deutschen Minderheit in Olmütz zwischen 1918–1938 auf eine komplexe [!] Weise beschäftigt hätte“ (S. 13). Auf ungefähr 180 Seiten des eigenen Textes versucht der Autor, sich mit politischen, sozialen und kulturellen Aspekten des Lebens der deutschsprachigen Kommunität in der nordmährischen Metropole an der March von dem Zeitpunkt der Übernahme des Rathauses durch tschechische Vertreter (1918/19) bis zum Münchner Abkommen (Oktober 1938) auseinanderzusetzen. Es ist fraglich, ob der zweite zeitliche Eckpunkt geeignet ist. Olmütz wurde nicht zum Teil des neugegründeten Reichsgaus Sudetenland, es wurde zu einer Stadt im Grenzgebiet. Für die bereits anwesenden sowie neu ankommenden Juden, Deutsche sowie Tschechen brach somit eine gespannte Zeit an, in der Loyalitäten auf den Prüfstand gestellt und Identitäten umdefiniert wurden. Dies wären also die zentralen Perspektiven für die Erforschung der kollektiven Biografie einer Minderheit im urbanen Umfeld.

 

Die oben erwähnte Breite und die sich aus ihr immanent ergebende Vagheit im Hinblick auf die Absteckung des Forschungsgegenstandes hätte allerdings konkretisiert werden müssen. Dazu hätte eine kritische Zusammenfassung des bisherigen Wissenstandes und der Teilergebnisse zum Thema der deutschsprachigen Olmützer beigetragen, die – wie der Autor selbst erwähnt – in vielen nicht publizierten akademischen Qualifikationsarbeiten, Fallstudien sowie etwa in den Passagen zum Zwischenkriegs-Olmütz der 2009 erschienenen synthetischen Arbeit Dějiny Olomouce [Geschichte der Stadt Olmütz] zu finden sind. Durch den Hinweis auf die Lücken der bisherigen Forschung wäre zugleich das Potenzial der aktuellen Forschung sichtbar gemacht worden. Zu einer plausiblen Zielsetzung hätte freilich auch eine vom Autor kommentierte Überlegung zum Thema der potentiellen Forschungsperspektiven beigetragen. Der Autor der Publikation reflektiert die Forschungsmethoden jedoch nicht, woraus sich die Unklarheit seines Konzepts ergibt.

 

Sie zeigt sich bereits in der bloßen Asymmetrie der sechs Kapitel, die den eigentlichen Inhalt der Arbeit bilden und die die konkreten Aspekte des politischen und kulturellen Lebens der deutschsprachigen Minderheit thematisieren. Das erste Kapitel wurde den Nationale[n] Verhältnisse[n] der Olmützer Region, [der] Demografie und [der] demografische[n] Entwicklung (S. 19–31) gewidmet. Wie der Titel bereits andeutet, präsentiert der Autor aufgrund von Amtsstatistiken von 1880 bis 1930, d. h. aus der Zeit der Monarchie sowie der Ersten Republik, die Veränderungen in der nationalen Zusammensetzung der Stadtpopulation und deren Umgebung. Im Einklang mit modernen Perspektiven problematisiert Hájek beide Systeme der Volkszählung und er ist sich der Gefahr möglicher statistischer Fehler bewusst, die sich aus dem Bestreben beider Staatsgebilde ergeben, die sprachliche oder nationale Stratifizierung dadurch zu erfassen, dass die Einwohner sich nur zu einer sozialen Gruppe als zugehörig bekennen. Obwohl der Autor also zu reflektieren scheint, dass die Kategorien „Nationalität“ oder „Verkehrssprache“ von vielen gesellschaftlichen sowie privaten Variablen abhängig und daher auch sehr labil ist, überrascht er die Leser in den folgenden Kapiteln damit, dass er die Nationalidentität für eine essentielle, nicht für eine diskursive Kategorie hält. Seiner Schlussfolgerung, die Mehrsprachigkeit oder die nationale Unklarheit seien „im Hinblick auf den Mangel an Quellen nur schwerlich zu erforschen“ (S. 179), kann man in Anbetracht der bereits publizierten Doktorarbeiten (etwa von Jeremy King zum Thema der Nationalisierung der „Budweiser“ oder von Ines Koeltzsch, die die transkulturellen Verhältnisse im Prag der Zwischenkriegszeit unter die Lupe nimmt) nicht ohne Weiteres zustimmen. Der große Beitrag beider oben erwähnten Arbeiten besteht gerade in der Betrachtung des Vorgangs der alltäglichen „Kreierung“ oder umgekehrt des „Umgehens“ der Nationalidentitäten von der Bevölkerung. Man muss sich jedoch nicht unbedingt an der neuesten kulturhistorischen Forschung Beispiel nehmen. Auch eine traditionellere Auffassung der „totalen Sozialgeschichte“, wie Monika Glettler sie in ihrer ein halbes Jahrhundert alten und noch nicht überholten Dissertation am Beispiel der Wiener Tschechen zur Zeit des Wiener Bürgermeisters Karl Lueger präsentiert, bietet die Möglichkeit, wie die Prozesse der Migration, der nachfolgenden Assimilierung, Akkulturation und Integration, jedoch auch der Isolierung und des nationalen Egoismus zu erfassen wären. Die Kombination vieler diverser Statistiken vermag die Variabilität des tagtäglichen Stellungbeziehens im nationalen Diskurs vor Augen zu führen. Hájek führt in den nachfolgenden Kapiteln zwar auch andere Statistiken an, und er hätte gewiss noch viele andere erwähnen können, es mangelt bei ihm jedoch am Vergleich und an der Kontextualisierung mit den offiziellen Ergebnissen der Volkszählungen.

 

Die Feststellung, dass immer mehr Einwohner in Olmütz nach 1918 sich prozentuell zur tschechischen Nationalität bekannten, und dass zugleich die 80%-Grenze nicht überschritten wurde, ist für den öffentlichen sowie privaten Alltag in der Stadt allerdings ausschlaggebend. Der tschechoslowakische Staat musste die Rechte der sprachlichen oder nationalen Minderheiten garantieren. Die Zweisprachigkeit des öffentlichen Stadtraumes musste toleriert werden, sie wurde sogar zum Ziel der Aktivitäten des Stadtrates. Der Bilinguismus der Einwohner wurde unterstützt. Es liegt daher auf der Hand, dass Hájek sich im nächsten, dem längsten Kapitel (S. 33–120) der Kommunalpolitik widmet, die nach 1918 große Veränderungen erfuhr. Auch hier kam es zum Rollenwechsel. In diesem Zeitraum wurde die Stadt vom tschechischen Bürgermeister verwaltet und tschechische Parteien besaßen eine Zweidrittel-Mehrheit im Stadtrat. Im Rathaus dominierten von nun an tschechische Beamte und Tschechisch wurde zum internen Kommunikationsmedium. Die chronologisch verfolgte Entwicklung der Kommunalpolitik, die Schwierigkeiten bei der Bildung von Koalitionen und personelle Fragen bezüglich der Stadtvertretung – all das nach den jeweiligen Wahlperioden systematisiert (1919–1923, 1923–1928, 1928–1932 und 1932 bis September 1938) – präsentieren die Entwicklung des tschechisch-deutschen politischen Miteinanders vom anfänglichen Negativismus bis zum Aktivismus deutscher Parteien und der anschließenden Kooperation zwischen den tschechischen und deutschen Bürgerparteien, die bis zum Ende des verfolgten Zeitraums bestehen konnte. Eine derart skizzierte Entwicklung in der Kommunalpolitik sowie in der Mentalität deutscher Beamter deckt sich im Großen und Ganzen mit der politischen Entwicklung in der ganzen Republik. Hätte sie aber dennoch mithilfe von Analysen konkreter kritischer Ereignisse und Fälle nicht problematisiert und untermauert werden müssen, so dass man die Entwicklung der Strategien politischer Subjekte im ganzen Zeitraum verfolgen kann?

 

Die bereits 1981 erschienene Dissertation von Gary B. Cohen über die Deutschen in Prag hätte in dieser Hinsicht inspirativ sein dürfen. Cohen beschäftigt sich mit dem Machtverlust der Deutschen am Prager Rathaus 1861 und verfolgt deren „politisches und ethnisches Überleben“ – wie es der englische Titel formuliert – in der letzten Phase der Habsburgermonarchie. Gerade die Dynamik der Ausbildung eines „deutschen Diskurses“ in der Stadt, d. h. nicht nur das Verhältnis zum tschechisch sprachigen Umfeld, sondern auch die inneren Konflikte auf der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ebene, kann Cohen dank des ungeheuerlichen Umfangs an Quellen unterschiedlicher Provenienz erfassen. Und darin besteht der grundsätzliche Unterschied. Hájek stützt seine Argumentation ausschließlich auf die Protokolle des Stadtrates und einige wenige, aus dem Mährischen Tagblatt exzerpierte Beiträge. Die konsensuelle Perspektive beider Quellen sollte etwa um die subjektiven Zeugnisse der politischen Akteure ergänzt werden. Hier stünde ihm z. B. die umfangreiche, 264 Seiten lange, 1938 herausgegebene Gedächtnisschrift des langjährigen Bürgermeisters Richard Fischer Šest let práce na olomoucké radnici 1932–1938 [Sech Jahre Arbeit am Olmützer Stadtrathaus 1932–1938] zur Verfügung. Es hätte sich auch ausgezahlt, sich ferner die Berichterstattung über die Rathauspolitik in der – entweder tschechisch- oder deutschsprachigen sozialdemokratischen – Konkurrenzpresse anzuschauen.

 

Am Schluss des Kapitels werden die wichtigsten Vertreter der deutschen Kommunalpolitik enzyklopädisch vorgestellt. Anekdotisch mutet ein kleiner Fehler an, der in der Kurzdarstellung zu Rudolf Sallinger vorkommt. Nach einer wiederholt angeführten Angabe müsste er mit 40 Jahren gestorben sein. Das würde allerdings heißen, dass er 1910 mit 17 Jahren geheiratet hätte, und dass er ferner am 4. 4. 1933 seinen fünfzigsten Geburtstag nicht hätte feiern können (S. 114f.). Problematischer finde ich allerdings die Tatsache, dass just in seinem Fall die Angabe zur politischen Zugehörigkeit fehlt. In der Koalition der deutschen Bürgerparteien gab es bis 1933/34 auch die Vertreter deutscher negativistischer Parteien, was eine Frage bzgl. des inneren Zusammenhalts der deutschen Stadträte aufwirft. Die von Hájek zitierte Charakteristik Sallingers scheint mir dabei diskutabel. Aufgrund von Lobreden in deutschen Zeitungen vom April 1933 wird er als „Führer“ der Olmützer Deutschen präsentiert, der sich für den Bau des sog. Deutschen Hauses engagierte. Zugleich habe er in den inneren Konflikten zwischen den deutschen Parteien sowie im Rahmen der tschechisch-deutschen Konkurrenz diplomatisch vermitteln können. Es geht nicht nur um die Kontextualisierung des verwendeten Wortes „Führer“ unmittelbar nach der Machtergreifung eines anderen „Führers“, sondern v. a. um die Tatsache, dass es in der Koalition deutscher Bürgerparteien gekriselt hat. Warum wurde dies nicht analysiert?

 

In den folgenden Kapiteln versucht Hájek, das kulturelle Umfeld zu thematisieren, indem er sich auf diverse Vereine, die Presse, das Schulsystem und die deutsche öffentliche Bibliothek konzentriert. Aber auch hier gilt, was schon gesagt wurde. Anstatt von einer Analyse und der kritischen Quellenarbeit, anstatt einer Hinterfragung gesammelter Informationen und deren Kontextualisierung haben wir mit einer enzyklopädischen Deskription zu tun. Die Auflistung von allen möglichen Vereinen oder publizistischen Titeln, die Beschreibung der Struktur des Schulsystems, und das Anliegen, statistisch und personell die Geschichte der öffentlichen deutschen Bibliothek zu erfassen – all das ist lediglich ein erster Schritt. Es zeigt sich hierbei zwar wenigstens, dass auch in Olmütz die deutschsprachige Bevölkerung in der Ersten Republik nicht diskriminiert wurde, da es ihr ein relativ breites Angebot an Kultur- sowie Schuleinrichtungen zur Verfügung stand, das mit dem prozentuellen Anteil in der Stadt korrespondierte. Nach dieser Feststellung hätte allerdings eine Analyse, Auswertung und Erschließung der beschriebenen Kommunikationsräume und Aktivitätsstrategien der besprochenen deutschen Subjekte folgen müssen, z. B. in produktiver Konkurrenz zu tschechischen Pendants, wie dies Moritz Csáky 2010 am Beispiel von Zentren der Habsburgermonarchie machte. Die zentrale Frage bleibt somit unbeantwortet: Gelang es, nach einer Zeitspanne erhitzter nationaler Leidenschaften die lokale Stadtidentität – ungeachtet der Ethnizität, Sprache, Konfession und vielleicht auch der politischen Zugehörigkeit der Einwohner – neu aufzubauen?

 

Ich schätze das Vorhaben des Autors, sich ausgewogen und ohne nationale Vorurteile mit der Stadtgeschichte zu beschäftigen, ich schätze auch sein Bemühen, die ganze Breite an potenziellen Themenbereichen zu präsentieren. Zugleich kann ich nicht umhin zu erwähnen, dass Hájek den kognitiven Teil seiner wissenschaftlichen Arbeit, der die Möglichkeiten und Sorgen im Alltag der deutschsprachigen Olmützer in der Zwischenkriegszeit wirklich komplex darstellen würde, seinen Nachfolgern überlässt. Diese dürften dann mit der Frage anfangen, ob Olmütz im Vergleich zu anderen Städten der multikulturellen Tschechoslowakei oder sogar Mittel- oder Osteuropas irgendwelche Spezifika aufwies und welche dies wären.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Martin Hájek: Olomoučtí Němci 1918–1938. Olomouc: Univerzita Palackého, 2020, 203 S.


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