Es schreibt: Marc Niubo

(E*forum, 2. 3. 2022)

Die Geschichte der Oper am Kaiserhof in Wien bildet ein bedeutendes Kapitel der europäischen Musik- und Theatergeschichte. Dies betrifft ihre hervorragenden, jedoch auch weniger glänzenden Phasen, die von dieser ausgesprochen sozial ausgerichteten Kunstgattung nicht wegzudenken sind. Den symbolischen Anfang der wissenschaftlichen Reflexion dieses Themas kann man in der kritischen Edition der Partitur der Hochzeitsoper für Leopold I. und Margarita Theresa von Spanien Il pomo d’oro (1668) von Antonio Cesti und in einer Begleitstudie sehen, die einer der Begründer der Musikwissenschaft, der Wiener Professor Guido Adler, 1896 publizierte. In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich v. a. der Professor Herbert Seifert um die Erforschung der Wiener Hofoper verdient gemacht, der sich insbesondere der Zeit von Kaiser Leopold I. widmete und bis heute noch widmet. An seine Arbeit knüpft in mancher Hinsicht auch das rezensierte Buch an, dessen Autorin Claudia Michels, Absolventin der Wiener Universität und der Universität für Musik und darstellende Kunst, ist und zu dem Professor Seifert das Vorwort geschrieben hat.

 

Michels konzentrierte sich auf die Zeit von Karl VI., d. h. auf die Zeitspanne von dreißig Jahren, die – was das musikalische Leben am Kaiserhof anbelangt – sehr reich war und über die bereits viele Studien vorliegen, allerdings keine eingehende monographische Untersuchung. Es handelt sich hierbei um eine nach innen komplizierte Periode, denn Karl VI. bestieg bekanntlich nach dem vorzeitigen Tod seines Bruders Joseph I. den Thron, was sich nicht nur innen- sowie außenpolitisch auswirkte, sondern auch für die personelle Zusammensetzung der Hofkapelle, für die Organisation des Hofzeremoniells und der Hoffeierlichkeiten Folgen hatte, ferner auch für die Wandlung des Musikstils verantwortlich war, der nun vom Geschmack des neuen (und eher konservativen) Kaisers beeinflusst wurde. Dies alles betraf begreiflicherweise auch die Oper und ihren Stellenwert für den Hof, an dem – woran der Buchtitel mit Recht erinnert – die Oper nicht nur Repräsentations- sondern auch Rekreationsfunktionen innehatte. Da solch ein umfangreicher Komplex an Problematiken und an Repertoire (das mehr als 150 Operntitel u. Ä. beinhaltet) nur schwerlich zu bewältigen ist, beschränkte die Autorin sich „lediglich“ auf die Karnevalsopern. Die Wahl leuchtet ein, denn diese Operngattung weist eine relativ eigenständige Tradition in Wien auf und mit anderen Opernarten verglichen besitzt sie ferner ein größeres Potenzial, die verbindlichen Repräsentationsfunktionen wenigstens ein Stück weit zu lockern. Der Analyse des derart abgesteckten Repertoires gehen einige Einleitungskapitel voran, in denen Michels zunächst die Situation in Wien zu Beginn des spanischen Erbfolgekriegs skizziert, sich der Rolle der Musik im Dienste der dynastischen und politischen Repräsentanz widmet, ferner die reiche Operntradition in Wien thematisiert, bei der sie sich nicht nur mit dem literarisch-musikalischen Ausmaß der Werke, sondern auch mit deren visuellen Ebene auseinandersetzt. Eines der Unterkapitel wurde deshalb der Bildner- und Theaterarchitektenfamilie Galli da Bibbiena sowie den Kostümentwürfen und der Persönlichkeit von Daniel Anton Bertoli gewidmet. Mehrere Seiten sind wiederum dem Tanz und der Ballettmusik gewidmet, die zu der Zeit einen untrennbaren Bestandteil großer Opernaufführungen bildeten. Auf weiteren etwa fünfzig Seiten versucht die Autorin darzulegen, inwiefern die Wiener Karnevalsoper eine autonome (Unter-)Gattung sei. Auch wird das Faschingsphänomen näher beleuchtet, in dessen Rahmen die Karnevalsopern aufgeführt wurden, sowie dessen Einfluss auf die Gestaltung der Opernaufführungen, ein Unterkapitel wird ferner den Sängern gewidmet, die in solchen Werken auftraten. Das Zentrum der Publikation bildet das vierte Kapitel, das auf ungefähr 300 Seiten Analysen aller erhalten gebliebenen Karnevalsopern bringt. Selbstverständlich fehlen das Quellen- und Literaturverzeichnis, sowie das gemischte (Autoren-, Titel- und teilweise auch Sach-)Register nicht.

 

Der größte Vorteil ist das systematische Vorgehen, mit dem das Thema dargelegt wird. Der Leser hat relativ bald begriffen, was und wo er es im Buch finden kann, auf welcher Grundlage und in welchem Umfang das Thema behandelt wird. In den Anfangskapiteln gibt es eine Reihe von Listen (Libretti, Szenographien, Ballettszenen u. dergl.), die dem Leser andeuten, worauf die eventuelle Argumentation gründet, und zugleich den Charakter des Buchs als Nachschlagwerk stärken. Weniger zufriedenstellend (v. a. für das eigentliche Fachpublikum) allerdings ist der Umfang und manchmal auch die Vorgehensweise, wie die konkreten Themen erschlossen werden. So wird etwa im zentralen Unterkapitel zum Thema „Libretto“ sehr breit ausgeholt, es gibt überflüssige Passagen über Monteverdi und die Anfänge der Gattung sowie eine Reihe von interessanten, für das Thema der Karnevalsoper jedoch irrelevanten Zitaten aus den zeitgenössischen Quellen. Im folgenden Kapitel widmet die Autorin sich dem Karneval-Thema durch das Prisma der Theorien von Michail Bachtin und weist darauf hin, welche Komponenten man auch in den Wiener Opern verfolgen kann. Vor allem erwähnt sie das Prinzip der umgekehrten Hierarchie und der Parodie (insbesondere in den Opern mit dem Don-Quijote-Thema). Sehr viele andere Elemente und dramatische Momente (Verkleidung, Doppelgänger, unbekannte Identität) kommen jedoch auch in der „üblichen“ Opernproduktion vor. Eine große Enttäuschung ist das Unterkapitel zum Komischen in der Musik, das lediglich drei Seiten umfasst, von denen Zitate aus der zeitgenössischen Literatur und aus den Quellen nahezu die Hälfte ausmachen. Generell kann man sagen, dass häufiges Zitieren und eher eine oberflächliche Durchdringung der Problematik das Buch charakterisieren. Auch das vierte analytische Kapitel wird sehr systematisch, ja beinahe schematisch gehalten. Der Leser könnte begrüßen, dass jede Oper ihr eigenes Unterkapitel hat, in dem praktisch die gleiche Darlegungsstruktur eingehalten wird. Angefangen wird mit der Transkription des Titelblatts der musikalischen Hauptquelle, dann werden die eventuellen Archivquellen, ferner die Personen und Besetzung erwähnt (falls bekannt), es folgt eine kurze Nacherzählung der Handlung, tabellarische Übersicht von Arien und von Ensembles jeder Figur in einzelnen Akten. Nach diesem „systematischen“ Teil folgt ein Kommentar zu ausgewählten Arien, in der Regel bei denjenigen Figuren, die die meisten Arien im Stück bestreiten und also aus der Sicht der Hierarchie am wichtigsten sind; den komischen Figuren wird meistens auch Aufmerksamkeit gewidmet. In ihren analytischen Kommentaren konzentriert die Autorin sich auf die Art und Weise, wie der Text des Librettos zum Ausdruck kommt, wozu ihr viele Notenbeispiele dienen. In jeweils anderem Ausmaß widmet sie sich der Instrumentation, Ornamentik und den onomatopoetischen Mitteln, den charakteristischen melodischen Topoi (z. B. Lamento), manchmal auch der Harmonie und dem Rhythmus. Insgesamt fallen die Ausführungen zu den jeweiligen Arien jedoch sehr kurz aus – in der Regel wird nur ein einziger musikalischer Aspekt erwähnt, der die vertonte Bedeutung des Textes „beweisen“ solle, man kann also keineswegs von einer komplexen Betrachtung aller Parameter sprechen; an einigen Stellen muss der Leser sich auf die eigene Interpretation des Notenbeispiels verlassen (siehe etwa die Textstellen zu komischen Figuren in der Oper Alba Cornelia von Francesco Conti, S. 126). Erst nach diesen Ausführungen kommen meistens ein paar schwache Absätze, die knapp den Zeitkontext der Uraufführung bei jeder Oper einführen und v. a. die nachfolgende Rezeption oder Verarbeitung des Themas kommentieren. Während man diese Reihenfolge der Ausführungen im Falle der Rezeption nachvollziehen kann, ist sie im Falle der Fragen zur Entstehung der Oper nicht mehr so geeignet; es handelt sich hierbei offensichtlich um die Folge einer generell ungenügenden Kontextualisierung. Obwohl die Autorin dies mit Sicherheit nicht beabsichtigte (was die einleitenden Kapitel andeuten), werden hier die Opern größtenteils als „unabhängige“ Werke ausgelegt, als ob für deren endgültige Form die Entstehungsumstände (d. h. der Auftrag, die Sänger, gesellschaftliche Situation u. v. m.) nicht relevant gewesen seien. Insgesamt wird mehr beschrieben als interpretiert, was sich dann auch als Mangel an der dramaturgischen Analyse der jeweiligen Opern oder als eine sehr sporadische Bewertung der Leistung der Komponisten offenbart. Der Leser möchte sicher gerne erfahren, inwiefern dieses Repertoire die aktuelle Perspektive auf das Schaffen der jeweiligen Komponisten bereichert/verändert (v. a. bei A. Caldara und F. B. Conti), oder eine Interpretation dieser Werke im Kontext der italienischen Oper des Hochbarocks lesen, zu der bereits umfangreiche Fachliteratur vorliegt. Dies alles muss der Leser eher aus eigenen Kräften beantworten. Abgesehen von all den erwähnten Mängeln steht aber fest, dass Claudia Michels mit ihrem Buch eine abgerundete und relativ reiche faktographische Sammlung liefert und denjenigen, die sich für dieses Repertoire interessieren, somit (direkt oder implizit) viel Belehrung und Inspiration zur weiteren Forschung sowie künstlerischen Realisierungen bietet.

 

 

Claudia Michels: Karnevalsoper am Hofe Kaiser Karls VI. 1711–1740. Kunst zwischen Repräsentation und Amusement. Wien: Hollitzer, 2019, 436 S.


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