Es schreibt: Tomáš Svoboda

(E*forum, 2. 2. 2022)

Im Jahr 2020 erschien im Verlag Karolinum der Prager Karlsuniversität die umfangreiche Publikation Česko-německá literární křižovatka [Tschechisch-Deutsche Kreuzungen] von Gabriela Veselá mit dem Untertitel Kapitel zur Geschichte der Literatur und Übersetzung. Es ist ein überwältigendes Werk, sowohl im Umfang als auch in der Tragweite. Der Umfang von 650 Druckseiten ist ebenso respektabel wie der thematische Ansatz: Wir halten hier eine Untersuchung in den Händen, die Erkenntnisse aus der Bohemistik, der Germanistik und der Translatologie (konkret der Übersetzungsgeschichte) bündelt, und das alles in Form eines übersichtlichen Lehrbuchs inklusive methodischer Abhandlungen. Die Publikation befasst sich mit der Geschichte der auf Deutsch geschriebenen Literatur in den Böhmischen Ländern, von der Zeit der Přemysliden bis zum Jahr 1939.

 

Die Arbeiten von Gabriela Veselá, der ehemaligen Leiterin des Instituts für Germanistik und später des Seminars für deutsche Sprache am Institut für Translatologie der Karlsuniversität in Prag, zeichnen sich durch Sorgfalt und Zuverlässigkeit aus. Ihre Beziehung zur Übersetzungsthematik rührt nicht nur von ihrer wissenschaftlichen Arbeit her, sondern auch von ihrer herausragenden Arbeit als Übersetzerin. Hier legt sie nun das Ergebnis einer langjährigen Arbeit vor, ein komplexes Werk von hoher Qualität – gerade auch, da es in Anspruch und Aufbau als eine Gesamtdarstellung konzipiert ist.

 

Das Buch, dessen Manuskript inhaltlich zum großen Teil schon 2008 abgeschlossen war, setzt sich zum Ziel „zu einer besseren Kenntnis und Analyse […] der kulturellen und vor allem literarischen Beziehungen beizutragen“, wobei die Beziehung dieser beiden Kulturen „seit jeher sehr eng war, wahrscheinlich die intensivste der interkulturellen Beziehungen in Europa“ (S. 9). Es ist in dreizehn chronologisch angeordnete Kapitel unterteilt. Aus dem unterschiedlichen Umfang der Kapitel ergeben sich gewisse Schwerpunkte der Arbeit. Der mit Abstand umfangreichste Abschnitt (172 Seiten) ist das Kapitel Die zwanzig Jahre der demokratischen Republik und die tschechoslowakische deutschsprachige Literatur. Das kürzeste Kapitel ist Die Zeit der Hussiten. Relativ viel Raum bekommen die Epoche der Romantik (mit 92 Seiten der drittlängste Teil des Buches) und die Zeit der tschechisch-deutschen nationalen Kämpfe (mit 105 Seiten das zweitlängste Kapitel).

 

Außerdem umfasst das Buch ein Vorwort, eine Literaturliste, die Abschnitte Archivmaterialien und Artikel und Rezensionen in der zeitgenössischen Presse, zudem ein Namensregister und ein Verlagsregister. Dieser Apparat ergibt 80 Druckseiten, was ein Beleg dafür ist, welche Sorgfalt denjenigen Aspekten gewidmet wurde, die die Orientierung innerhalb des Buches und der Themenfelder erleichtern und die nützlich sind für ein daran anknüpfendes Studium.

 

Auch die folgenden quantitativen/statistischen Angaben illustrieren eindrucksvoll, wie breit diese Publikation aufgestellt ist: Das Buch kommt auf mehr als eintausend Normseiten Text, und es enthält Verweise auf mindestens 473 Persönlichkeiten. Der Abschnitt Artikel und Rezensionen in der zeitgenössischen Presse führt mehr als eintausend Quellen an (ich zähle 1.065), und das Namensregister umfasst 2.273 Stichwörter.

 

Die Hauptkapitel werden jeweils durch einen kurzen Überblick über das literarische und übersetzerische Geschehen historisch und kulturell eingeführt und dadurch im europäischen Kontext verortet. Dieser breite Zusammenhang unterstreicht den themenübergreifenden, interdisziplinären Aspekt der Publikation, der so wichtig ist für ein Begreifen des literarischen und übersetzerischen Geschehens in seiner ganzen Breite.

 

Besonders spannend sind die häufigen Verweise auf die Topografie (vor allem Prags). Hierbei richtet sich der Blick durchgehend auf die drei Ethnien, die tschechische, deutsche und jüdische. So stehen die historischen Abhandlungen auf dem stabilen Dreibein der relevanten historischen Interpretationen. Es tauchen Autoren auf, die einer breiten Leserschaft bereits bekannt (F. Kafka, R. M. Rilke, F. Werfel) und solche, die weniger bekannt sind (P. Leppin, J. Mühlberger, L. Perutz und viele weitere). In den Porträts der konkreten Autoren und Dichter werden „die Teile ihres Werks“ hervorgehoben, „die einen Bezug zu den Böhmischen Ländern und zur tschechischen Kultur aufwiesen“, und sie „zeichnen [auch] die Übersetzungstätigkeiten“ dieser Persönlichkeiten nach (S. 9). Sowohl Übersetzungen aus dem Deutschen ins Tschechische, als auch die aus dem Tschechischen ins Deutsche werden berücksichtigt, und dabei sind die Übersetzungen ins Deutsche keinesfalls nur am Rande vertreten, sondern stellen eines der sich durch alle Kapitel ziehenden Themen der Publikation dar.

 

Zentrales Merkmal des Buches ist seine Betonung des Rezeptionsaspekts, insofern nicht nur die Übersetzungen, sondern auch kritische Reaktionen in der tschechischen Presse betrachtet werden (vgl. den Abschnitt Artikel und Rezensionen in der zeitgenössischen Presse). Passagen, die sich auf die Rezeptionen konzentrieren, enthalten Basisinformationen über die entsprechenden Übersetzer, stellenweise auch über die Verlage, in welchen die Übersetzungen erschienen (vgl. Verlagsregister). Das Buch umfasst außerdem einen Überblick über die Archivmaterialien (aus dem Státní ústřední archiv/Zentralen Staatsarchiv in Prag und dem Památník národní písemnictví/Museum der Tschechischen Literatur), wobei es sich vor allem um die Daten bislang unveröffentlichter Quellen handelt.

 

Der Schwerpunkt der Arbeit liegt natürlich auf Publikationen, die nicht periodisch erschienen, doch darüber hinaus werden auch Zeitschriften und die bereits erwähnten Verlagstätigkeiten durchaus beachtet. So berücksichtigt das Buch auch soziolinguistische Aspekte und hat eine seiner Stärken in der pragmatischen Verankerung. Außerordentlich informativ sind die zahlreichen Exkurse, die sich mit dem Theater, seiner Entwicklung, konkreten Bühnen und Autoren auseinandersetzen, und zwar sowohl mit der deutschen, als auch mit der österreichischen Dramatik.

 

Das Buch ist ein Panoptikum aus Hunderten von Figuren, Persönlichkeiten, die im kulturellen und zeitlichen Kontext geschildert werden. Oft nimmt uns die Autorin auf eine Zeitreise mit, wenn sie aus der Tiefe einer synchronen Abhandlung über ein bestimmtes Epos heraus auf die Übersetzungen oder die Rezeption in späteren Zeiten verweist. Als Beispiel sei der Teil über das literarische und kulturelle Geschehen vor dem Jahr 1848 angeführt (hierzu gehören sieben Kapitel des Buches bis einschließlich der Zeit des Romantismus). Hier findet man rund 250 Jahreszahlen, die sich auf das 20. und 21. Jahrhundert beziehen. Diese diachronen Exkurse machen die Interpretationen besonders lebendig und fügen dem literaturwissenschaftlichen Überblick rezeptionsgeschichtliche und übersetzungsgeschichtliche Aspekte bei.

 

Ein Spezifikum ist die zusätzliche Verwendung der deutschsprachigen Toponyme (jeweils in Klammern hinter den tschechischen Namen), was dem Leser auf eine selbstverständliche und in diesem Fall sehr passende Weise das damalige Zusammenleben der deutschen und tschechischen Bevölkerungsteile in den betreffenden Orten in Erinnerung ruft. Überraschen mag dagegen, dass die Zitate aus deutschsprachigen Quellen oft unübersetzt bleiben. Bedenkt man jedoch, dass das Buch „sowohl für Studenten der Translatologie (Übersetzung – Dolmetschen), als auch für Studenten der Germanistik, […] Gymnasiallehrer für Deutsch“ usw. (S. 9) bestimmt ist, so wird klar, dass die Zielgruppe mit den fremdsprachigen Passagen höchstwahrscheinlich zurecht kommen wird.

 

Hervorzuheben ist die sprachliche Bearbeitung der Monografie. Trotz des großen Umfangs lassen sich fast gar keine sprachlichen oder typografischen Fehler finden, was von der Sorgfalt der Autorin und des Verlags zeugt.

 

Über das bisher gesagte hinaus ist dieses Buch für mich persönlich eine Erinnerung an Professor Jiří Veselý (1932–2009), den großherzigen Germanisten, der ebenfalls am Translatologischen Institut der Prager Karlsuniversität tätig war. Ich bin sicher, er würde diese Veröffentlichung als grundlegenden Beitrag zur wissenschaftlichen Erforschung desjenigen Themenfeldes begrüßen, dem er den Großteil seines professionellen Lebens widmete. Ich bewerte das Buch als in seinem Umfang einzigartigen Forschungsbeitrag zu den deutsch-tschechischen literarischen Beziehungen und zur Übersetzungsgeschichte (für kein anderes Sprachenpaar bzw. den Kontakt einer der sog. Weltsprachen mit dem Tschechischen – ohne Ansehen des regionalen Ursprungs des Werks – steht eine derart umfassende Gesamtdarstellung zur Verfügung), zugleich aber ist es ein bedeutender Beitrag zu den deutsch-tschechischen Beziehungen überhaupt. Im wissenschaftlichen Sinne finden sich hier zahlreiche Impulse für weitere Forschungen, sowohl explizit (z. B. die Erwähnung von Materialkorpora, die einer näheren Untersuchung harren) als auch natürlich implizit: Die Publikation ist ein wahrer Springbrunnen von Impulsen, ein offenes Tor für weitere Forschungen. Allein schon auf dem Feld der Übersetzungsgeschichte warten Abhandlungen zur Übersetzungsrezeption auf ihre Auswertung, die oft auch eine Zusammenfassung der Methoden des betreffenden Übersetzers umfassen.

 

Die Tschechisch-Deutschen Kreuzungen von Gabriela Veselá werden so zu einer unabdingbaren Referenzquelle für die Lehre an Gymnasien und Hochschulen, für die Materialforschung im Bereich der Geschichte der deutschsprachigen Literatur der Böhmischen Länder, für komparatistische Studien und für die Erforschung der Übersetzungsgeschichte im tschechisch-deutschen Kontakt. Die Metapher der Kreuzung, die im Buchtitel auftaucht, illustriert somit nicht nur den Inhalt, sondern auch die Methode (die Multidisziplinarität) und die Ausblicke/Potentiale für die Zukunft. Ein solches Werk kann die Fachleute der oben erwähnten Disziplinen zusammenbringen, aber auch eine an der tschechischen und deutschen Literatur und der Verflechtung dieser Literaturen und Kulturen interessierte breitere Öffentlichkeit adressieren.

 

Übersetzung: Lena Dorn

 

Gabriela Veselá: Česko-německá literární křižovatka: kapitoly k dějinám literatury a překladu. Praha: Univerzita Karlova, Nakladatelství Karolinum, 2020, 647 s.


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