Es schreibt: Tamás Visi

(E*forum, 5. 1. 2022)

Seit der ersten Ausgabe der Publikation Historie Židů v Čechách a na Moravě (1993) [Geschichte der Juden in Böhmen und Mähren] von Tomáš Pěkný sind beinahe drei Jahrzehnte vergangen. Es muss daher nur begrüßt werden, dass eine neue Synthese, eine neue Monographie, über die jüdische Geschichte der böhmischen Länder kürzlich vorgelegt wurde. Der Band Zwischen Prag und Nikolsburg ist das Verdienst des Autorkollektivs, das aus elf HistorikerInnen besteht, von denen jeder ein ausgewiesener Experte ist. (In alphabetischer Reihenfolge handelt es sich um folgende Persönlichkeiten: Kateřina Čapková, Michal Frankl, Benjamin Frommer, Verena Kasper-Marienberg, Hillel J. Kieval, Helena Klímová, Ines Koeltzsch, Lenka Matušíková, Michael L. Miller, Martina Niedhammer und Joshua Teplitsky). Die Geschichte der Juden in Böhmen und Mähren ist in der Tat kein leicht zu überblickendes Forschungsgebiet. Die Beschäftigung mit ihr setzt die Kombination mehrerer Fachausrichtungen und -spezialisierungen voraus, deshalb ist die Zusammenarbeit der oben genannten ForscherInnen sehr lobenswert und sie stellt eine adäquate Antwort auf diese wissenschaftliche Herausforderung dar.

 

Die Herausgeber Kateřina Čapková und Hillel J. Kieval erwähnen im Vorwort, dass es das Ziel der Publikation sei, den Lesern eine umfangreiche wissenschaftliche Monographie über die Geschichte der Juden „in den böhmischen Ländern“, d. h. in Böhmen und Mähren sowie im tschechischen Schlesien, zu bieten (S. 11–12). Zum weiteren Ziel ihrer Arbeit haben sie sich die Ausweitung der Fachdiskussion auf die Regionen und Gemeinden außerhalb von Prag gemacht. Dies ist übrigens sogar dem Titel der Publikation zu entnehmen, der auf die Stadt Nikolsburg hinweist, in der sich die mitgliederreichste und bedeutendste jüdische Gemeinde im frühneuzeitlichen Mähren (S. 1–2) befand. Das dritte deklarierte Vorhaben war es dann, das Quellenmaterial zu erschließen, das von den Historikern oft übersehen wurde, wie etwa halachische Texte, die Rechtsetzung jüdischer Gemeinden (takanot), Memoiren, polemische Schriften oder Gebetsbücher für Frauen (S. 2). Wie noch weiter unten erwähnt wird, hat das 4.–6. Kapitel diese Ziele größtenteils erfüllt, während die Kapitel 1.–3. eher weniger bringen, als im Vorwort versprochen wurde.

 

In vielerlei Hinsichten übertrifft das rezensierte Buch bestimmt die ältere Monographie von Tomáš Pěkný. Pěkný besaß einen breiten Überblick, war fundiert und der Erforschung der jüdischen Geschichte hingegeben, er war jedoch kein professioneller Historiker. Seine Arbeit konzentrierte sich somit auf hervorragende jüdische Persönlichkeiten vom Mittelalter bis zum Ausgang des 20. Jahrhunderts, und obwohl sein Buch viele nützliche Informationen beinhaltet, bringt es weder eine tiefere Analyse historischer Prozesse noch eine detaillierte Beschreibung gesellschaftlicher, institutioneller, kultureller und religiöser Aspekte der jüdischen Geschichte. In der Publikation Zwischen Prag und Nikolsburg wird im Gegenteil die eingehende Beschreibung von vielen historischen Erscheinungen mit durchdachten historischen Analysen verbunden, die von den gegenwärtigen wissenschaftlichen Methoden Gebrauch machen. Anstelle von einer bloßen Kompilation biographischer und anderer historischer Daten hat der Leser mit wohl konstruierten und ausgewogenen Analysen zu tun, die sich einer breiten Palette von Themen widmen, vom Buchdruck im Prag des 16. Jahrhunderts bis hin zu den Ferienlageraktivitäten der jüdischen Kinder in der Tschechoslowakei der Nachkriegszeit. Die AutorInnen sind auf der Spur diverser Schemata, sie bemühen sich das reiche und vielfältige Material in plausible Narrative zu bündeln, die diverse Aspekte jüdischer Geschichte in den böhmischen Ländern akzentuieren, den finstersten Zeitraum von 1939–1945 miteingeschlossen.

 

Die Publikation Zwischen Prag und Nikolsburg bleibt allerdings in anderer Hinsicht hinter Pěknýs Synthese zurück und vermag sie daher nicht vollkommen zu ersetzen. Zu einem der Grundmerkmale wissenschaftlicher Monographien gehört etwa das Literaturverzeichnis. Pěknýs Buch – trotz allen Amateurismus‘ – erfüllt diese Bedingung, während der von Čapková und Kieval herausgegebene Band dies nicht leistet. Lediglich der letzte, von Klímová und Matušíková verfasster Teil (S. 377–410) beinhaltet auch eine entsprechende Bibliographie. Es handelt sich keineswegs um eine Nebensächlichkeit: Es liegt auf der Hand, warum die Autoren dem Leben und Werk Franz Kafkas nicht mehr als einen Absatz widmen (S. 250–251), es wäre jedoch trotzdem angebracht gewesen, an dieser Stelle auf die Literatur zu diesem Autor und auf diejenigen Studien hinzuweisen, die sich mit seiner Beziehung zur jüdischen Kultur und Identität beschäftigen.

 

Ein weiterer Mangel ist die Tatsache, dass unter den Kapiteln von Zwischen Prag und Nikolsburg kein einziges zu finden ist, das sich mit dem Mittelalter befasst, hiermit werden ganze fünf Jahrhunderte einer reichen und spannenden Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern übergangen. Die Herausgeber äußern sich zu dieser seltsamen Lücke nicht. Eine Monographie, die den Ehrgeiz besitzt, den Gesamtüberblick der jüdischen Vergangenheit in Böhmen und Mähren vorzulegen, darf es sich nicht leisten, das Mittelalter nicht zu reflektieren. Infolge dieser Entscheidung der Herausgeber werden einige historische Erscheinungen der Frühen Neuzeit sowie der Moderne nicht ausreichend kontextualisiert. Auf Seite 297 wird beispielsweise erwähnt, die Nationalsozialisten hätten sich das Protektorat Böhmen und Mähren „judenrein“ gewünscht, man findet jedoch im ganzen Buch die Anmerkung nicht, dass dieser Gedanke eine lange, bis ins Mittelalter zurückgreifende Tradition aufweist. Das Aufenthaltsverbot für Juden in bestimmten Lokalitäten war ein spezielles Privileg, das der Herrscher einigen Städten in der Habsburgermonarchie und in Polen erteilte (privilegium de non tolerandis Judaeis). Das nationalsozialistische Ideal des „judenreinen Reichs“, dem auch die böhmischen Länder hätten angehören sollen, wurde nicht aus dem Nichts geboren. Man kann weder die Niederlassung der Juden noch die Entwicklung ihrer regionalen Institutionen in der Frühen Neuzeit richtig beschreiben und analysieren, ohne die Spezifika der vorausgegangenen Entwicklung im Mittelalter in Betracht zu ziehen. In den vergangenen Jahren erschien eine ganze Reihe von bemerkenswerten Studien und Monographien, genauso wie Quellensammlungen zur Geschichte der böhmischen/mährischen Juden im Mittelalter (z. B. von Lenka Blechová, Eva Doležalová, Pavel Kocman, Martin Musílek, Daniel Soukup, Lenka Uličná u. v. a.), und es ist besonders zu bedauern, dass das rezensierte Buch die Möglichkeit nicht nutzte, eine Synthese der aktuellen Forschung vorzulegen. Im Vergleich zur rezensierten Publikation bringt Pěknýs Buch eher ein geschlossenes Bild der jüdischen Geschichte in den böhmischen Ländern, schon aus dem einen Grund, da es auch das Mittelalter miteinbeschließt.

 

Die Kapitel 4–6 beziehen sich auf die Zeitspanne zwischen 1861 und 1945 (S. 159–318, die Autoren sind Frankl, Niedhammer, Koeltszch und Frommer), sie sind gut strukturiert, informativ und thematisieren die Grundaspekte der jüdischen Geschichte, vom Wirtschaftsleben, über Literatur und Kunst, bis zu Themen wie etwa Kinder oder jüdische Kochbücher. Eine richtige Entscheidung war es, die Ausführungen zu allgemein bekannten Persönlichkeiten wie etwa Franz Kafka möglichst kurz zu halten, und umgekehrt den weniger bekannten jüdischen Dichtern und Künstlern mehr Raum zu gewähren. Historische Darstellungen werden ferner von kurzen Auszügen aus Memoiren ergänzt, die den Lesern das menschliche Ausmaß historischer Ereignisse vor Augen führen.

 

Der Zeitraum von 1945 bis zur Gegenwart (Kapitel 7, S. 319–375) stellt wahrscheinlich die größte Herausforderung dar, da die Autorin (Čapková) sich mit jüngsten Ereignissen (wie etwa mit der Auseinandersetzung um den Rabbiner Karol Sidon 2004–2005) beschäftigen musste. Dieses Kapitel bringt ferner ein schockierendes, leider sehr überzeugendes Zeugnis davon, wie tief die Tschechoslowakei der Nachkriegszeit vom Antisemitismus infiziert war: man erfährt etwa, dass viele Juden, die den Holocaust überlebt hatten, zu Deutschen erklärt wurden und die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft infolge der Beneš-Dekrete verloren. Ferner wird hier auch die sog. antizionistische Politik des kommunistischen Regimes besprochen, und die Tatsache, dass es sich unter dem Feigenblatt des „Antizionismus“ der Antisemitismus verbarg.

 

Die ersten drei Kapitel (S. 27–158, Autoren sind Kasper-Marienberg, Teplitský, Miller und Kieval) wirken vielmehr als eine Zusammenstellung von Essays, die diverse Bereiche und Momente der frühneuzeitlichen und modernen Geschichte der Juden thematisieren. Man findet einerseits bereichernde und interessante Analysen verschiedener Quellen und Themen vor (z. B. Millers Analyse eines halachischen Responsums auf S. 85–86), andererseits unbegründete Wiederholungen (so werden etwa der Sabbatianismus und die einschlägige Auseinandersetzung von Kasper-Marienberg und Teplitský auf S. 64–65 beschrieben und von Miller noch einmal auf S. 99–100, wobei jedes Mal auf überwiegend identisches Material zurückgegriffen wird). Einige wichtige Themen werden von den Autoren dieser Kapitel kurzweg ausgelassen. Völlig unerwähnt bleibt die Frage der antijüdischen Gewalt der Frühen Neuzeit, es wird etwa das Massaker in Uherský Brod im Jahre 1683 nicht erwähnt, obwohl die Komposition in Jiddisch, die an seine Opfer erinnert, unlängst von Magdalena Soukupová ins Tschechische übersetzt wurde (und im Band Vybrané hebrejské a jidiš prameny k dějinám Židů na Moravě [Ausgewählte hebräische und jiddische Quellen zur Geschichte der Juden in Mähren], Olomouc, 2013 erschien). Die führenden Rabbiner, wie etwa Mordechaj Jaffe (1535–1612) oder Samson Rafael Hirsch (1808–1888, der mährische Oberrabbiner zwischen 1847–1849), werden in der Publikation mit keinem Wort erwähnt. Wie wohl der Buchtitel sich auf Nikolsburg bezieht, wurde dieser mährischen jüdischen Gemeinde nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet: die Rechtssetzung dieser Gemeinde (takanot; von Ernst Roth 1961/62 herausgegeben) wird kein einziges Mal zitiert und die wichtigen Studien von Marie Buňatová und Pavel Kocman bleiben ebenso unerwähnt.

 

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass das rezensierte Buch einen wichtigen Beitrag von hoher akademischer Qualität darstellt, es erfüllt allerdings die abgesteckten Ziele nicht – es handelt sich nicht um eine zusammenfassende und autoritative Monographie über die Geschichte der Juden in den böhmischen Ländern. Es mangelt völlig an Kapiteln zum Mittelalter und die Kapitel über die Frühe Neuzeit sind weder systematisch noch erschöpfend. Für Studenten, Wissenschaftler sowie die breite Öffentlichkeit mögen die Kapitel 4–6 sehr nützlich sein. Da es sich um sehr gut strukturierte und geschriebene Texte handelt, können sie als elementare Studienliteratur für die Studierenden an Universitäten empfohlen werden. Das wenig systematische siebte Kapitel ist ein kühner Versuch, einen bündigen und trotzdem kompletten Überblick der jüngsten Geschichte zu bieten. Die ersten drei Kapitel bieten jedoch ein lückenhaftes und (trotz der Ziele, die die Herausgeber sich gesetzt haben) auch ein wenig pragozentrisches Bild der Geschichte der Juden. In ihren Seminaren über die frühneuzeitliche Geschichte der Juden in Böhmen und Mähren werden die Lehrenden somit ihre Studenten höchstwahrscheinlich auf ergänzende Texte hinweisen müssen, die ihnen eine kompaktere Vorstellung über dieses Thema gewähren werden.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Kateřina Čapková / Hillel J. Kieval (eds.): Zwischen Prag und Nikolsburg: Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern. Aus dem Englischen von Peter Groth. [Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, Band 140] Vandenhoeck & Ruprecht, 2020, 425 S.


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