Es schreibt: Markus Grill

(22. 12. 2021)

Karl Kraus lebt! Zumindest im Andenken seiner bis heute treuen Anhängerschaft. „Für mich“, schreibt der Philosoph und Essayist Franz Schuh in seinem neuen Buch Lachen und Sterben (2021), „ist Karl Kraus der größte Österreicher“. „Und weiß Gott für viele nicht“ (S. 61), fügt er hinzu. Als 2018 erstmals eine Biographie zum Publizisten Anton Kuh erscheint, einem Zeitgenossen und regelrechten Erzfeind von Kraus, bringen sich dessen Gegner und Anhänger (die sogenannten Krausianer) zum feuilletonistischen Schlagabtausch in Stellung. Ein Autor, der noch über achtzig Jahre nach seinem Tod polarisiert, verdient den Beinamen „Der Widersprecher“. Der Kulturwissenschaftler Jens Malte Fischer hat ihn zum Untertitel seiner im Vorjahr bei Paul Zsolnay erschienenen Karl-Kraus-Biographie gewählt.

 

Auf nicht weniger als 1100 Seiten beschwört er den faszinierenden – und fraglos hochaktuellen – Widerspruchsgeist von Kraus. Rein quantitativ überflügelt er damit Friedrich Rothes kompakte Biographie (2003) um mehr als das Doppelte. Er bewegt sich vielmehr im Bereich von Edward Timms monumentaler zweibändiger Kraus-Studie aus 1986 und 2005 (deutsche Übersetzung des englischsprachigen Originals: 1995 und 2016). Wohl aufgrund der stattlichen Seitenzahl hat Fischer auf eine Einleitung verzichtet. Dafür funktioniert das erste Kapitel als Prolog. Karl Kraus wohnt (S. 17–23) ist eine intime Annäherung an den weitgehend unbekannten Privatmenschen. Das ist klug gemacht, weil gleich eingangs ein Lesebedürfnis bedient und zusätzliche Motivation für das ambitionierte Lektürevorhaben geweckt wird. Der imaginäre Rundgang in Kraus’ Wiener Wohnung ließe sich auch als autopoetologisches Sinnbild interpretieren. In dem Sinn, dass einer Biographie immer etwas – mehr oder weniger – Indezentes, vielleicht sogar Voyeuristisches, anhaftet.

 

Das zweite Kapitel Kindheit, Familie, Jugend (S. 24–53) beleuchtet die böhmische Herkunft von Kraus (geboren wurde er in Jičín) sowie sein familiäres Umfeld; das Verhältnis zum Vater Jacob Kraus steht im Mittelpunkt. Dieser war ein erfolgreicher Papierfabrikant – darum später das Schmähwort „Sackel-Kraus“ für den Sohn. In 35 weiteren Kapiteln wird mit viel Sachkenntnis in das Leben und Werk von Kraus eingeführt, werden große Fragen der Kraus-Forschung einer kritischen Diskussion unterzogen: seine politischen Positionen, sein Verhältnis zum Judentum, seine Einstellung zu Geschlechterthemen, sein Kunstverständnis und anderes mehr. Fischer variiert das titelgebende Leitmotiv des Widersprechers zu Kraus als einem selbst Widersprüchlichen, der Konservatismus und radikale Progressivität wesenhaft vereinte. Wenig bekannte Beispiele für den ambivalenten Charakter sind seine auf tiefe Naturverbundenheit zurückgehende Fortschrittsskepsis, der eine Vorliebe für Automobile gegenüberstand, und die Tatsache, dass Kraus, der Meister der deutschen Sprache, alles andere war als ein Bibliophiler. Wie Fischer festhält, war seine Bibliothek „erstaunlich bescheiden“ (S. 602), und er las keine Romane.

 

Als Biograph tritt Fischer seinem Gegenstand unverkennbar wohlwollend entgegen, doch keinesfalls verblendet. Das Problematische an Kraus wird nicht übergangen. Um seine Haltungen sowie sein Schreiben verstehbar zu machen, kontextualisiert Fischer sie mit sehr viel Aufwand. Verständlich führt er etwa in die verworrenen politischen Verhältnisse im Österreich der Zwanziger und frühen Dreißiger ein, bevor er Kraus’ Eintreten für den Autokraten Engelbert Dollfuß erörtert. Derart versteht sich das Buch nicht nur als Lebensbild, sondern auch als Porträt einer Epoche. Die Breite in der Darstellung ist begrüßenswert, wo sie dem besseren Verständnis dient. Das ist aber nicht immer der Fall. Mitunter scheint es, als ob Fischer sämtlichen Personen und Ereignissen in Kraus’ Vita nachgehen will. Der Biographie mangelt es daher an Geradlinigkeit und Tempo. Durch die zahlreichen Exkurse gerät die Lektüre bisweilen langwierig. Die Notwendigkeit, im Unterkapitel Tiere und Pflanzen eine Nietzsche-Anekdote auszurollen (vgl. S. 609–610), erschließt sich ebenso wenig wie spät im Buch, auf Seite 927, die Etymologie des Begriffs „zitieren“ herzuleiten. Der ausladende Stil zeitigt Redundanzen. Ein Abschnitt von über fünf Zeilen über die österreichische Außenpolitik unter Dollfuß tritt sogar vier Seiten später nahezu identisch wieder auf (S. 793/797).

 

Alles in allem erzählt Fischer ansprechend. Umso mehr überrascht er an vereinzelten Stellen mit schlechten stilistischen Entscheidungen. Beispielhaft dafür steht eine Erwähnung des Dichters „Ottokar Kernstock (von dem ihre Nationalhymne dichten zu lassen die spätere Republik den Geschmack hatte)“ (S. 297). Vor allem im Kapitel über die Beziehung von Kraus zu Sidonie Nádherný häufen sich ungelenke Satzkonstruktionen, und es befremdet hier ein romantisch-dramatisierender Tonfall: „Nur weist aber das Leben Sidonies und vor allen Dingen das Nichtzusammenleben, aber nie für immer trotz aller Unterbrechungen Loskommen von Kraus darauf hin, dass sie die nötige Leichtigkeit des Nehmens und Gebens, des Schenkens und Lösens in eroticis nicht besaß“ (S. 336). An den Ausführungen zum Liebesleben von Kraus verdeutlicht sich die Schwierigkeit jeder AutorInnenbiographie, aus der (zeitlichen) Distanz und mit beschränktem Wissen insbesondere über das Private eine stringente Lebensbeschreibung zu konstruieren. Bei Fischer zeitigt sie einen tendenziell mutmaßenden Argumentationsstil. Davon zeugen Aussagen über die Beziehung zu Werfel, die sich „ganz anders entwickeln hätte können“ (S. 425) oder eben über die Liebe zu Sidonie Nádherný, die nicht wurde, „was sie hätte werden können“ (S. 338) sowie laienhafte medizinische Spekulationen über mögliche Ursachen für Kraus’ Tod (vgl. S. 962963).

 

Die Mehrzahl der LeserInnen dürfte sich an den kleinen sprachlichen Ungereimtheiten nicht stören. Die Überlängen könnten sogar positiv bewertet werden: als sympathische Aufmerksamkeit des Autors für Nebensächliches, als Detailliebe. Für die auszugsweise Lektüre bzw. für die wissenschaftliche Verwendung als Nachschlagewerk fallen sie ohnehin nicht ins Gewicht. Hierbei nimmt sich der Apparat nützlich aus. Er enthält unter anderem eine Zeittafel, eine Bibliographie und ein Personenregister. Sowohl den Kraus-Bewunderern als auch den LeserInnen, die ihm in Ablehnung verbunden sind, wird er gute Dienste leisten.

 

 

Jens Malte Fischer: Karl Kraus. Der Widersprecher. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2020, 1008 S.


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