Es schreibt: Peter Becher

(10. 11. 2021)

Während Otokar Fischer in Tschechien zu den großen Intellektuellen zählt, dessen tragischer Tod im Jahr 1938 neben dem des im gleichen Jahr verstorbenen Schriftstellers Karel Čapek das Ende der Ersten Republik einläutete, ist er in deutschen Germanistenkreisen beschämend wenig bekannt, ganz zu schweigen von der deutschen Öffentlichkeit. Ein Schicksal, das er mit vielen Intellektuellen jenseits der mental nachwirkenden Grenzlinie des Eisernen Vorhangs teilt.

 

Der von Václav Petrbok, Alice Stašková und Štěpán Zbytovský im renommierten Böhlau-Verlag 2020 herausgegebene Sammelband stellt Fischers Wirken nun erstmals in seiner ganzen Vielfalt für eine deutschsprachige Leserschaft dar. Bereits familiär wurde Fischer, wie Petrbok in seiner biografischen Einführung zeigt, durch ein zweisprachiges Milieu sozialisiert, zu dem sich als dritte Komponente seine jüdische Abstammung gesellte. Wie sehr sich Fischer in seinem weiteren Leben nicht nur zwischen den Sprachmilieus bewegte, sondern auch zwischen den Bereichen der Wissenschaft und der Kunst, an denen er als Germanist und Kritiker ebenso Anteil hatte wie als Lyriker und Dramatiker, zieht sich wie ein roter Faden durch die 23 Beiträge des Bandes und die beiden Geleitworte von Jiří Brabec und Jiří Stromšík, die auf eine Tagung zurückgehen, die im Frühjahr 2013 an der Prager Karlsuniversität und im Österreichischen Kulturforum in Prag stattfand.

 

Unterteilt in fünf Blöcke behandeln die Beiträge neben Aspekten von Fischers Biografie Fragen der Nationalität, der Literaturtheorie, der Literaturgeschichte und der Kulturpolitik. Der erste, Fischers Leben gewidmete Abschnitt enthält neben Petrboks biografischem Überblick Michal Topors Schilderung von Fischers Studienjahren in Berlin 1903/1904 und Michala Frank Barnovás Darstellung von Fischers Beziehung mit der Künstlerin Vlasta Vostřebalová, mit der er kurze Zeit verheiratet war.

 

Im zweiten Abschnitt untersucht Kateřina Čapková die Thematisierung des Judentums und des Nationalismus in Fischers Korrespondenz, Marie-Odile Thirouin analysiert Fischers Verhältnis zu Frankreich und Belgien, Barbora Šrámková seine Beziehung zur Prager deutschen Literatur, Lenka Vodrážková sein Verhältnis zu dem tschechischen Germanisten Arnošt Kraus und Ralf Klausnitzer seine Freundschaft mit dem Romantikforscher Josef Körner.

 

Im dritten, literaturtheoretischen Abschnitt analysiert Daniel Vojtěch Fischers Rezeption psychologischer Theorien bis hin zur Psychoanalyse; Myriam Isabell Richter und Hans-Harald Müller beschreiben den germanistischen Kontext von Fischers Schaffen unter besonderer Berücksichtigung seiner Förderung durch August Sauer; Irina Wutsdorf untersucht Fischers Beziehung zum Prager Zirkel um Jurij Tynjanov und Jan Mukařovsky, wobei Fischers posthume Eingemeindung als „Vertreter des Prager Strukturalismus“ wohl zurecht mit einem Fragezeichen versehen wird; Manfred Weinberg arbeitet anhand von Fischers Vortrag über Das Problem der Erinnerung und deren Bedeutung für die Poesie auf dem IV. Internationalen Kongress für Philosophie in Bologna (1911) heraus, wie Fischer auf Friedrich Schleiermacher zurückgreifend eine die Autorperspektive überschreitende Interpretation vorstellte und – zu Weinbergs Staunen – Gedanken ventilierte, die geradezu als Vorwegnahme von Wolfgang Isers rezeptionsästhetischem Ansatz lesbar sind. Daniel Řehák beschreibt den Einfluss tschechischer und europäischer Dichter auf Fischers literarisches Werk und sein Selbstverständnis als Wirken im Grenzbereich, gemäß Fischers Bekenntnis: „mé místo: křižovatka, můj osud: rozhraní … (mein Ort die Kreuzung, mein Schicksal das Grenzgebiet …“.) (S. 328). Filip Charvát schließlich befasst sich in teilweiser Überschneidung mit den Beiträgen von Daniel Vojtěch und Steffen Höhne mit Fischers Literaturpsychologie sowie seiner Auseinandersetzung mit Richard Weiner.

 

Im vierten Abschnitt wird Fischers Beschäftigung mit einzelnen Autoren thematisiert, Dieter Heimböckel analysiert seine Kleist-Rezeption, Alice Stašková seine Befassung mit Heine, Steffen Höhne seine Gottfried-Keller-Lektüre, Claus Zittel die tschechische Nietzsche-Rezeption, Lucie Merhautová Fischers Beschäftigung mit Hugo von Hofmannsthal und anderen Wiener Autoren vor dem Ersten Weltkrieg und Štěpán Zbytovský Fischers Beitrag zur Wedekind-Rezeption in Prag.

 

Gerade dieser Abschnitt macht deutlich, wie intensiv Fischer auf einzelne Autoren einging. Heimböckel zeigt, wie Fischer Kleist nicht als Klassiker interpretierte, sondern als „Unzeitgemäßen“, dessen Werk „bei aller motivischen, atmosphärischen und psychologischen Nähe zur Romantik sich von ihr stilistisch abhob und daraus sein einzigartiges und unverwechselbares Profil bezog“ (S. 357). Stašková stellt dar, wie Fischer in seiner Doppelbegabung als „Dichterphilologe“ (S. 370) Heines Widersprüchen nachging, die er als „paradox und zerwühlt“ beschrieb und kritisch konstatierte, dass Heine „selten … gemäß seinem inneren, als Geheimnis verborgenen und allem zu Trotz dennoch einheitlichen Rhythmus begriffen“ werde (Fischer 1923, S. 377). Höhne erläutert am Beispiel des Grünen Heinrichs von Gottfried Keller, wie der psychoanalytische Interpret Eduard Hitschmann die „ödipal-inzestuöse Verstrickungen des Autors“ (S. 398) in das Zentrum seiner Auslegung rückte und damit die „Vermischung von Autor- und Werkebene“ (S. 399) in Kauf nahm, wogegen Fischer „sorgfältig zwischen biographischer und textueller Ebene“ (S. 400) differenzierte. Und Zittel zeigt, wie Fischer zum „wichtigsten Vertreter“ der Nietzsche-Rezeption in der Tschechoslowakei wurde und seine zunächst „vorwiegend ästhetisch-psychologische“ Lesart durch eine „zunehmend politisch ausgerichtete Betrachtung“ ergänzte, die ihn davor warnen ließ, dass Nietzsches Lehre durch die nationalsozialistische Rezeption „zu einem engstirnigen nationalistischen Evangelium reduziert würde, zu einer Verherrlichung der rein germanischen Tugenden“ (S. 421).

 

Im fünften und letzten Abschnitt behandelt Martin Maurach Fischers Reaktion auf den Reichstagsbrand von 1933 und die nationalsozialistische Auslegung der Kleistschen Dichtung, Petra Ježková das Wirken Fischers in seinen letzten Lebensjahren als Schauspielchef des Prager Nationaltheaters, wobei sie seine enge Zusammenarbeit mit Karel Čapek hervorhebt, und Zuzana Duchková Fischers Engagement für verschiedene Hilfseinrichtungen, die deutschen Emigranten unter die Arme griffen.

 

Fischer, so machen die Beiträge dieses Sammelbandes deutlich, war nicht nur ein Mann mit erstaunlich vielen Begabungen, sondern auch ein Intellektueller, der in einem vibrierenden Spannungsfeld agierte, in dem er immer wieder angegriffen wurde und sich rechtfertigen musste, nicht weil er einen Standpunkt dogmatisch vertrat, sondern gerade deshalb, weil er nicht bereit war, das Spannungsverhältnis zugunsten eines festen Standpunktes aufzulösen. So verstand er sich als Tscheche, ohne sich auf eine nationalistische Verkürzung seiner Zugehörigkeit einzulassen; als Jude, der sich intensiv mit seiner Herkunft befasste, ohne sich mit tschechojüdischen oder zionistischen Positionen zu identifizieren; als Vermittler der deutschen und französischen Literatur, ohne sein Selbstverständnis als tschechischer Wissenschaftler preiszugeben; als Repräsentant der geistesgeschichtlichen Wende nach der Jahrhundertwende, ohne den philologisch-positivistischen Ansatz der Scherer-Schule pauschal zu verwerfen.

 

Fischer gewann durch diese Haltung die Wertschätzung vieler Wissenschaftler und Schriftsteller, die eine ähnlich offene Sichtweise vertraten, und er wurde von allen angefeindet, die seine Offenheit als Standpunktlosigkeit und Schwäche, im schlimmsten Fall als Verrat empfanden, wobei sich nicht selten wissenschaftliche, nationale und antisemitische Vorbehalte mischten. Wiederholt sah sich Fischer der Kritik ausgesetzt, keine tschechische Haltung zu vertreten. Erhob Antonín Veselý noch vor dem Ersten Weltkrieg den Vorwurf, „wer mit seinem ganzen Fühlen zum Bereich einer fremden Kultur neigt“, könne „kein organischer Vertreter unserer Kultur sein“ (S. 248), so wurde nach dem Erscheinen von Fischers Drama Přemyslovci (1918), die inkriminierende – an manche Einwände der Gegenwart erinnernde – Frage aufgeworfen, „ob ein Jude überhaupt das Recht habe, sich mit Themen der tschechischen Nation auseinanderzusetzen“ (S. 129). Und Jakub Deml spitzte diese Auffassung 1931 mit der Bemerkung zu, „dass die Juden und namentlich Fischer für die tschechische Kultur, die sie sowieso nie verstehen könnten, schädlich seien“.(S. 129-130)

 

Diese Invektiven zeigen, wie explosiv die nationale und antisemitische Gemengelage nicht nur nach dem Ersten Weltkrieg war, welchen Anfeindungen und Spannungen Fischer immer wieder ausgesetzt war, so dass ihm, wie Čapková schreibt, eine „vollständige Integration“ in die „tschechische akademische und künstlerische Elite“ (S. 129) letztlich verwehrt blieb.

 

Der Band so lässt sich ohne Einschränkung sagen, ist eine wahre Pioniertat und ein Appell an die wissenschaftliche Kommunität der deutschsprachigen Länder, Otokar Fischer die Anerkennung zukommen zu lassen, die ihm als herausragendem Germanisten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gebührt.

 

 

Otokar Fischer (1883–1938). Ein Prager Intellektueller zwischen Dichtung und Wissenschaft. Hrsg. von Václav Petrbok, Alice Stašková und Štěpán Zbytovský. Böhlau, 2020, 547 S.


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