Es schreibt: Anna Habánová

(15. 10. 2021)

2018 publizierte das Autorenkollektiv unter der Leitung von Editor Beat Steffan einen umfangreichen monographischen, Emil Pirchan (1884–1957) gewidmeten Band. Es handelt sich um eine erschöpfende Darstellung der Persönlichkeit und des Schaffens des aus Brünn stammenden Bühnenbildners, Graphikers, Architekten und Designers. René Grohnert merkt in seinem kurzen Vorwort an, das Buch bringe „den ganzen Pirchan“. Den Hintergrund für die Entstehung der Publikation stellte die Erschließung des Nachlasses, der – wie die Leser bei der Lektüre der einzelnen Beiträge erfahren – sich v. a. in drei Archivfonds befindet, dar. Im Unterschied zu vielen anderen Autoren und Autorinnen aus Böhmen, Mähren und Schlesien ermöglichte ein solch reiches Bild- und Schriftquellenmaterial eine ganzheitliche Perspektive auf das vielschichtige und umfangreiche Oeuvre quer durch alle Zeitphasen. Als Hauptinitiator dieses Projekts kann man den Editor des Buchs, den Enkel des Künstlers, bezeichnet werden. Die persönliche Sichtweise sowie die Belastung durch Familienzugehörigkeit dürfte somit als etwas Determinierendes betrachtet werden. Das Gegenteil ist jedoch wahr. Steffan gelang es, ein durchaus kompetentes Autorenkollektiv zusammenzustellen, er selbst erfüllte dann seine sachlich abgesteckte Aufgabe und belastete als Mitautor seine eigenen Texte nicht durch übertriebenes Pathos. Im Gegenteil versuchte er die hellen und dunklen Seiten im Leben des Künstlers objektiv zu balancieren.

 

Wer war also Emil Pirchan und wie ist das ihm gewidmete Buch im Einzelnen?

 

Pirchan stammte aus einer Industriellen- und Künstlerfamilie in Brünn, sein Vater war der akademische Maler Emil Pirchan der Ältere (1844–1928). Er studierte an der Akademie der bildenden Künste in Wien, sein Studium schoss er 1906 im Atelier von Otto Wagner ab. Im Laufe seiner Studien verkehrte er nicht nur mit seinem um vierzehn Jahre älteren Cousin zweiten Grades, Josef Hoffmann, sondern auch mit Oskar Kokoschka und weiteren Vertretern der Wiener Moderne. Nach einem kurzen Intermezzo als Lehrer in Brünn gründete er 1908 sein eigenes architektonisches Atelier in München und wirkte als Bühnenbildner des Bayerischen Staatstheaters. Bis zu seinem Weggang nach Berlin im Jahre 1921 entstanden ferner mehr als 1500 Werke v. a. angewandter Graphik sowie andere Werke. Die Berliner Zeit bedeutete dann einige Hunderte von Theaterausstattungen in der Metropole der Weimarer Republik und auch in anderen europäischen Metropolen u. v. m. erwarb Pirchan u. a. eine Dozentur und legte mehrere eigenständige architektonische Entwürfe vor. Sein Umzug nach Prag 1932 hing mit der verliehenen Professur an der Deutschen Akademie für Musik und darstellende Kunst in Prag zusammen, aus dem gleichen Grund siedelte er 1936 nach Wien um, wo er im Dezember 1957 starb.

 

Bereits der Untertitel der Publikation Ein Universalkünstler des 20. Jahrhunderts deutet an, dass die erwähnten biographischen Angaben und die chronologische Linie nur eine Art Abkürzung sind, dass sie jedoch trotzdem eine der Möglichkeiten darstellen, wie man das Schaffen und die Schicksale des Künstlers handhaben kann. Die Publikation arbeitet allerdings auch mit einem zweiten möglichen Konzept: Die jeweiligen Themenbereiche von Pirchans Schaffen wurden von den Autoren und Autorinnen der jeweiligen Kapitel eingehend bearbeitetet. Der einleitende, umfangreiche Text zeigt Emil Pirchan den Jüngeren mit allen Details in diversen Zeit- und Familienzusammenhängen. Sein Autor, Beat Steffan, bereicherte seine Ausführungen im nachfolgenden Abteil mit dem Titel Universalkünstler um eine kunsthistorische Zusammenfassung. Immer wieder arbeitet er mit den autobiographischen Einträgen aus dem Nachlass des Künstlers, immer wieder kehrt er dabei zum Wesen des Schaffens von Pirchan zurück: Pirchan war laut ihm v. a. ein vielseitig begabter, musikalisch, bildnerisch und technisch fähiger Künstler mit großer Übersicht, die es ihm ermöglicht hätte, sich an so vielen Inszenierungen, Entwürfen und anderen Momenten der Szenographie zu beteiligen. Dies belegt eine Reihe von Reproduktionen von spontanen Zeichnungen, gedanklichen Entwürfen, viele vollendete Werke angewandter Grafik u. v. m. Sonja Pisarik ist die Autorin des Kapitels über Pirchan als Architekt. Nicht nur für den österreichischen Leser entdeckte sie hiermit eine bisher nicht unbedingt bekannte Welt von Entwürfen und Skizzen, denn der Großteil von Pirchans Projekten in diesem Bereich blieb unrealisiert. Eine der Ausnahmen ist die imposante Villa für den Medailleur Viktor Oppenheimer (aus dem mährischen Neu Raußnitz gebürtig), die nach 1909 in München, in der Rauchstrasse 20, erbaut wurde.

 

Deutlich mehr Artefakte (die erhalten geblieben sind) hängen mit dem Bereich der angewandten Grafik (Katja Sebald) und dem Design zusammen, das im Buch von Daniel Resch auf der Grundlage des Nachlasses präsentiert wurde, auch wenn der Künstler sich diesen Entwürfen eine verhältnismäßig kurze Zeit widmete – die letzten Projekte (für das eigene Haus) lassen sich auf 1913 datieren. Für den tschechischen Leser mögen die spannenden Kontextualisierungen (etwa der Einfluss von Hermann Muthesius), ferner auch die mögliche Inspiration von Projekten des Architekten Dušan Jurkovič interessant sein, der im Buch für den tschechischen Leser überraschender Weise als lokaler Architekt firmiert. Das umfangreichste Kapitel (in drei Unterkapitel gegliedert) widmet sich dem Bühnenbildner Pirchan (Autoren: Christiane Mühlegger-Henhapel und Alexandra Steiner-Strauss, Kurt Ifkovits und Jitka Ludvová, Barbara Lesák). Mithilfe von konkreten Beispielen von den Bühnen in Wien, Berlin, Brünn oder Prag wird belegt, dass Pirchan mit Recht für einen Pionier der modernen Bühnenszenographie gehalten wird. Für den tschechischen Leser ist sicherlich die Sonde in Pirchans Prager Zeit am spannendsten, als Autoren zeichnen Kurt Ifkovits und Jitka Ludvová für dieses Kapitel verantwortlich. Diese Autorenzusammenarbeit war von großem Vorteil. Kurt Ifkovits kennt die Fonds des Wiener Theatermuseums sehr gut, Jitka Ludvová konnte hier die Ergebnisse ihrer lebenslangen Forschung fruchtbar machen. Das Resultat ist ein Text, der Pirchans Tätigkeit in Prag im zeitgenössischen tschechischen sowie deutsch-tschechischen Kontext verortet. Behandelt werden nicht nur die Zeit vor dem vierjährigen Engagement (1932–1936), in deren Laufe nahezu fünfzig Inszenierungen entstanden waren, sondern auch die jeweiligen bühnenbildnerischen Realisierungen in den 1910er und 1920er Jahren, in dieser Zeit knüpfte Pirchan nützliche gesellschaftliche Kontakte an. Das exzellente technische Umfeld im Prager Neuen Deutschen Theater erleichterte es Pirchan, opulente Bühnenausstattungen zu realisieren, die ohne das Zusammenwirken einer Reihe von weiteren Theaterakteuren, die im Text auch erwähnt werden, sonst nicht möglich gewesen wären. Den großen Aufstieg von Pirchans künstlerischem und gesellschaftlichem Genius schließt eine Abhandlung über dessen schriftstellerische Tätigkeit ab (Autorin: Alexandra Steiner-Strauss).

 

Für einen enormen Beitrag halte ich den Abschnitt Dokumentation, der ausgewählte Bereiche von Pirchans Schaffen betrifft, die sich angesichts des Zeitaufwands usw. für eine übersichtliche Erfassung als real erweisen. Neben den Plakaten, einer Auswahl angewandter Grafik sowie Exlibris, den bühnenbildnerischen Entwürfen u. a., handelt es sich eben um das Verzeichnis von szenographischen Realisierungen und die eigentliche Bibliographie.

 

Aufgrund der so zusammengestellten Monographie gelang es den Autoren, die Persönlichkeit und das Schaffen des aus Brünn gebürtigen Emil Pirchan kritisch zu bewerten. Das Buch kann als Beispiel dienen, wie man den Nachlass und die einzelnen Aspekte im Schaffen eines Malers, Grafikers, Designers, Architekten und Bühnenbildner in einer Person quer durch ganz Mitteleuropa in den zwei ersten Dritteln des 20. Jahrhunderts erschließen soll. Das Einzige, was man vielleicht vermissen könnte, ist ein Namenregister, das die Orientierung in den publizierten Informationen erleichtert hätte.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Emil Pirchan: Ein Universalkünstler des 20. Jahrhunderts. Hrsg. Beat Steffan, Wädenswil: Nimbus Verlag, 2018, 368 s.

 

 


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