Es schreibt: Marie Bláhová

(25. 8. 2021)

Seit den 1970er Jahren wird die Reihe von Themen, auf die die Historiker ihr Interesse richten, vom Themenbereich „die Fremden“ und „das Fremde“ ergänzt. In den letzten zwei Jahrzehnten erlebte dieses Thema eine regellrechte Konjunktur. Während man sich in der ersten Phase v. a. mit den Kontakten zu und mit den Erfahrungen mit dem außereuropäischen Fremden beschäftigte (etwa mit den Entdeckungsreisen, dem Kulturaustausch zwischen den voneinander weit entfernten Völkern oder mit den Darstellungen exotischer Landstriche), konzentriert sich das Interesse in den letzten Jahren immer intesiver auf die Erforschung nicht nur des entfernten Fremden, sondern auf die Fremden und das Fremde in unserem nächsten Umfeld. Infolgedessen kommt es zu einer Verschiebung der Forschungsperspektive, die Forscher wenden sich den diesbezüglich bislang nicht erschlossenen Quellen zu, welche für die ältere Perspektive als weniger ertragreich scheinen mochten, wie etwa historiographische Werke, hagiographische Schriften, normative Quellen, v. a. Kapitularien, ebenso Fürstenspiegel, itinerare Texte und andere Quellentypen. Analog verändert sich auch die Herangehensweise an die Quellen. Die Wissenschaftler beschäftigen sich nicht nur mit dem Beschriebenen, sondern auch dem Beschreibenden, d. h. dem Urheber der Quelle, dessen mentaler Disposition und kulturellem Netzwerk.

 

In diesem Geist fasst Anna Aurast das Thema der/des „Fremden“ in ihrem Werk auf, das im Rahmen des Historischen Seminars an der Universität Hamburg entstand und den Titel Fremde, Freunde, Feinde trägt. Sie beschäftigt sich mit der sich auf nahe, oder sogar nachbarliche Gruppen beziehenden Aufassung der Fremden und des Fremdseins bei mittelalterlichen Autoren. Behandelt wird das Thema am Beispiel zweier hochmittelalterlichen historiographischen Quellen osteuropäischer Provenienz und lateinischen Kulturkreises (d. h. Quellen von der „europäischen Peripherie“). Diese Quellen stammen aus Polen und Böhmen und wurden ungefähr zur gleichen Zeit verfasst, d. h. im ersten Viertel des 12. Jahrhunderts. Zum Gegenstand der Analyse wurden staatlich-nationale Chroniken beider Länder, die Cronica et gesta ducum sive principum Polonorum („Chronik und Taten der Herzöge und Fürsten von Polen“) eines unbekannten Autors und die Chronica Boemorum („Chronik der Böhmen“ oder „Böhmische Chronik“) des Dekans des Prager Domkapitels Cosmas von Prag. Die Grundinformationen über die älteste polnische Chronik und deren Verfasser bezog die Autorin aus dem „referenziellen“ Werk des führenden polnischen Historikers Marian Plezia, die neuesten, die Herkunft des Verfassers betreffenden Hypothesen reflektiert sie nicht. Im Falle der Persönlichkeit des Prager Dekans Cosmas und seiner Chronik griff sie auf die teilweise umstrittene Arbeit von Lisa Wolverton zurück. Die Autorin ging v. a. den folgenden Fragen nach: In welcher Art und Weise widerspiegeln sich die Einstellungen zu Fremden in beiden Werken? Inwiefern gleichen oder unterscheiden sich die Ansichten beider Verfasser? Bis zu welchem Grad lassen sich die tieferen Mentalitätsstrukturen der Eliten im mittel-/osteuropäischen Kulturraum am Anfang des 12. Jahrhunderts aufgrund dieser Erkenntnisse umreißen? Welche Interpetationen und Wertungen präsentieren beide Quellen?

 

Bevor die Autorin an die Analyse der Quellen herantritt, definiert sie ihre methodologischen Ausgangspunkte, v. a. legt sie dar, wie sie in ihrer Arbeit das „Fremde“/den „Fremden“ versteht. Sie greift hierbei auf ältere Literatur zurück und bezieht sich insbesondere auf die Texte der Historiker Jerzy Strzelczyk, Christian Lübke, Hans-Werner Goetz, des Soziologen Zygmunt Bauman und v. a. des Philosophen Bernhard Waldenfels. Diese Kriterien erweitert sie in ihrer Arbeit noch, so dass sie einen Fremden in räumlicher/zeitlicher, ethnisch-politischer, religiöser, kultureller, sprachlicher und sozialer Bedeutung unterscheidet.

 

Unter diesem Blickwinkel behandelt sie auch die beiden oben erwähnten Quellen, die überhaupt eine erste Bearbeitung der polnischen, bzw. böhmischen Geschichte vorstellen, wobei sie zunächt die Quellen getrennt analysiert; anschließend vergleicht sie sie und fasst die Ergebnisse zusammen. Notwendigerweise berücksichtigt sie hierbei auch den Charakter beider Quellen, v. a. die Stellung und Selbstdarstellung beider Verfasser sowie die Vorstellungen, die ihr Verständnis der/des „Fremden“ begreiflicherweise deutlich prägten. In der folgenden, übersichtlich strukturierten und systematischen Analyse behandelt sie beide Quellen zunächst hinsichtlich des Vorkommens von Begriffen, die das Fremdsein zum Ausdruck bringen (alienus, advenus, extraneus, exul), sie konzentriert sich dann auf die Kategorien „Wir“ und „Sie“ und betrachtet die „Fremden“ anhand der oben definierten Gesichtspunkte.

 

Die Autorin konstatiert, dass die Definition der/des „Fremden“ sowie die Beziehung beider Autoren (d. h. der Vertreter der zeitgenössischen Eliten) zu den/zum „Fremden“ nicht nur stark von deren Persönlichkeiten, sondern auch von deren Stellung und dem Ort ihrer Tätigkeit beeinflusst war. Während der Verfasser der ältesten polnischen Chronik, der von der modernen Historiographie als Gallus Anonymus bezeichnet wird, seine Identität verschwieg und man daher nur aus dem Text herauslesen kann, dass er ein Ausländer war – er selbst hielt sich für einen „Ausgewiesenen und Pilger“ (exul et peregrinus), also es handelte sich höchstwahrschienlich um einen Benediktinermönch adeliger Herkunft mit einer unsicheren Stellung im Land, wo er wirkte und wo er eine Integration anstrebte und sich daher keine Feinde machen wollte –, war der Autor der ältesten böhmischen Chronik, Cosmas von Prag, ein außerordentlich gebildeter Dekan der promineten Kircheninstitution, des Prager Domkapitels, er identifizierte sich mit dem Prager Kapitel und der Prager Kirche sowie mit Böhmen, gehörte der inländischen Elite an und reflektierte die Stellung der einheimischen Intellektuellen im Vergleich zu den Ausländern, die die hohen Posten bekleideten, auf die die Einheimischen Anspruch erhoben. Dementspechend formulierte Gallus also den Begriff „Wir“ oder „Unser“ – „nos“, „nobis“, „noster“ – anhand der Form Pluralis Modestiae, d. h. auf eine bescheidene Art, als ob er um Nachsicht gebeten hätte, dass man ihn, den Ausländer, zu der Aufgabe ermächtigt hätte, die polnische Chronik zu verfassen. Er bestritt sein „Fremdsein“ in Polen zwar nicht, er bemühte sich allerdings, es nicht allzu sehr zu exponieren. Deshalb mag er in seinem Text den Fremden im räumlichen oder geographischen Sinne weniger Aufmerksamkeit gewidmet haben, als dies Cosmas tat. Deshalb mag er ferner auch ein kleineres Interesse an der Nationalsprache der Polen gezeigt haben im Vergleich mit Cosmas, der die Nationalssprache als ein deutliches Abgrenzungsmerkmal für die Trennung zwischen den jeweiligen Gruppen, d. h. als die Heimatsprache der Böhmen, betrachtete. Im Gegensatz zu Cosmas war Gallus den Fremden/Ausländern gegenüber nicht feindlich eingestellt und plädierte logischerweise nicht dafür, dass sie aus wichtigen Ämtern im Lande entfernt würden. Aus den gleichen Gründen bemüht Gallus sich, eben die Interessen in den Vordergrund zu rücken, die er mit seinen Lesern teilt. Er betont daher die kulturelle Abgrenzung gegenüber den Fremden mehr, denn er erblickte in der Bildung und Kultur gemeinsame Interessen für sich selbst und für seine Leser, die polnische geistliche und weltliche Elite. Beide Autoren distanzieren sich hingegend übereinstimmend von den niedrigeren Gesellschaftsschichten, die sie negativ bewerten.

 

Einen differenzierten Standpunkt vertraten beide Autoren als Christen, die für Christen schrieben, zu den Fremden im religiösen Sinne, sowohl im Falle der Juden als auch der „Heiden“. Gallus rekurriert auf Juden nur kurz und tut es auf eine stereotype Weise, nur um die Familie seines Auftraggebers, des Piasten-Herzogs Boleslav III., positiv hervorheben zu können, wenn es um die Traktierung der Juden geht. Er versteht die Heiden v. a. als Außenfeinde, gegen die Kriegszüge organisiert werden, bei denen die Vertreter der Piasten-Dynastie sich hervortaten. Cosmas‘ Einstellung zu den Juden entspricht einer typischen Attitüde mittelalterlicher Autoren, er grenzt sich von ihnen im religiösen Sinne deutlich ab und beurteilt sie negativ. Die gegenwärtigen Heiden sieht er als dumm und töricht an, während er die Heiden der mythischen Zeit positiv, etwa als Vorbild für die Ermahnung seiner herrschenden Zeitgenossen, präsentiert.

 

Auch die Ausrichtung beider Werke unterscheidet sich jeweils hinsichtlich der Stellung der Verfasser. Während Gallus – wohl wissend um seine unsichere Stellung – die Interessen seiner Auftraggeber vertrat und versuchte, ihnen nicht zu schaden, schrieb Cosmas sein Werk aus innerer Veranlassung und äußerte – obwohl er einige Einzelheiten verschweigen musste – seine Ansichten über das Staatswesen und die Aufgabe der Kirche frei. Diese Tatsachen widerspiegeln sich einerseits in einer anderen Darstellungsart, andererseits jedoch auch in den ähnlichen Interessen beider Chronisten. Gallus konzipierte seine Chronik als eine Dynastiechronik mit dem Höhepunkt, verkörpert durch den aktuellen Herrscher, seinen Auftraggeber. Der sich stolz zu Böhmen bekennende Cosmas schrieb jedoch eine nationale Chronik, im Mittelpunkt seiner Darstellung stand die Nation.

 

Mit Hilfe der Analyse zweier neun Jahrhunderte alten Chroniken konnte Anna Aurast zeigen, dass die Problematik der Einstellung von Menschen zu den/dem „Fremden“ für die menschliche Gesellschaft langfristig bezeichnend ist. Die Ergebnisse ihrer Forschung erweisen sich somit auch heute als aktuell.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Anna Aurast: Fremde, Freunde, Feinde. Wahrnehmung und Bewertung von Fremden in den Chroniken des Gallus Anonymus und des Cosmas von Prag. Verlag Dr. Dieter Winkler, Bochum, 2019, 337 S.


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