Es schreibt: Rudolf Kučera

(21. 7. 2021)

Eine Gesamtgeschichte Österreichs zu schreiben, war nie eine leichte Aufgabe. Das heutzutage national klar abgegrenzte Staatsgebilde südlich des heutigen Tschechiens ist bekanntlich ein relativ neues Konstrukt, genauso wie die Vorstellung eines Österreichers, der sich mit diesem Staat identifiziert. Die Grundfrage „Was ist Österreich eigentlich und wer waren seine Einwohner?“ wird daher im Hinblick auf die Vergangenheit sehr unterschiedlich beantwortet. Trotzdem, oder gerade deswegen, weist die österreichische Historiographie – geht es um große Synthesen – eine reiche Tradition auf. Einen aktuellen Beitrag diesbezüglich stellt das beinah 700 Seiten umfassende Opus eines der Nestoren der gegenwärtigen österreichischen Geschichtsschreibung, Ernst Bruckmüller, mit dem bezeichnenden Titel: Österreichische Geschichte. Von der Urgeschichte bis zur Gegenwart dar.

 

Der Altmeister der österreichischen Sozialgeschichte fasst in dieser umfangreichen Publikation einerseits die Geschichte der Alpenländer zusammen, die (wohl mit der Ausnahme von Salzburg und Burgenland) bereits seit dem 16. Jahrhundert ohne Zweifel den Kern dessen ausmachen, was man heutzutage Österreich nennt. Andererseits richtet er seine Aufmerksamkeit auf andere Gebiete, nämlich auf diejenigen, die in der Zeit ebenfalls zum Territorium der Habsburgermonarchie gehörten. Das Buch dürfte somit sicherlich auch in der Tschechischen Republik seine Leser finden, deren Geschichte spätestens seit dem 16. Jahrhundert und bis 1918 aufs Engste mit der österreichischen verbunden war. Bruckmüllers Geschichte Österreichs ist so gesehen v. a. eine Geschichte der Territorien, die seit der Etablierung des Geschlechts der Habsburger im Laufe des späten Mittelalters bis 1918 in verschiedenen Zeiträumen unter der Herrschaft und Verwaltung der Habsburger standen. Im ersten Teil stellt also die Geschichte des Alpenraums und dessen Verbindung mit dem Heiligen Römischen Reich im Zentrum der Darstellung. Der zweite Teil schließt dann v. a. die Böhmischen Länder mit ein, die neben dem Großteil des heutigen österreichischen Gebiets das Gros der ständig in Verwandlung begriffenen Habsburgermonarchie ausmachten. Der dritte Teil konzentriert sich dann ausschließlich auf Österreich, so wie wir es heute kennen, d. h. wie es infolge der Reorganisation von Mitteleuropa nach 1918 entstand.

 

Inhaltlich beschränkt Bruckmüller sich keineswegs nur auf die klassische politische Geschichte voller Monarchen, Schlachten und internationaler Verträge. Der Schwerpunkt der Arbeit liegt in einem dezidierten Fokus auf Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Obwohl Bruckmüller auch etwa auf eingehende Kapitel aus der Kulturgeschichte nicht verzichtet, vgl. z. B. die spannenden Passagen über die „Barockisierung Österreichs“, sind es trotzdem die sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen und Umbrüche, die in seiner Perspektive das wichtigste Movens der „Österreich-Geschichte“ bilden. Im Mittelalter erscheinen so die Pestepidemien als zentral, die einen beträchtlichen demographischen Rückgang und folglich auch Mangel an Arbeitskräften zur Folge hatten. Dies führte allerdings zu einer gewissen Verbesserung der sozialen Situation der Bauer, die für die Bodenbesitzer zur Mangelware wurden. Das späte Mittelalter erscheint dann ferner als ein Zeitraum, der nicht nur durch gespannte Beziehungen der Habsburgerdynastie zu Dynastien der Nachbarländer (die Przemysliden miteingeschlossen), sondern v. a. durch die einsetzende soziale Ausdifferenzierung gekennzeichnet sei, in deren Lauf sich neue Gesellschaftsschichten herauskristallisierten, die ihre Existenz nicht von Bodenbebauung, sondern von den sich neu etablierenden Sektoren – wie etwa Bergbau, Hüttenwesen und dem damit zusammenhängenden Handwerk – ableiteten.

 

Für den tschechischen Leser wird sicherlich Bruckmüllers Auffassung des Ständeaufstands in Böhmen 1618–1620 attraktiv sein, den der Autor als Ausgang eines über ungefähr ein Jahrhundert akkumulierten Konfliktpotenzials zwischen dem Herrscher und dem Adel bezüglich der Kompetenzen bei der Verwaltung des Staates versteht. Als zu diesem schwelenden Konflikt infolge der europäischen Reformation noch die konfessionelle Andersartigkeit des Monarchen (im Vergleich mit einem großen Teil des Adels) hinzukam, war eine gewaltsame Auseinandersetzung Bruckmüller zufolge eigentlich die einzige mögliche Lösung. Die Niederlage der Stände am Weißen Berg sei somit das Ergebnis des tiefliegenden Konflikts um die Zukunft der habsburgischen Besitzungen, dessen Anfänge Bruckmüller noch weiter rückverfolgt als nur bis zum Anfang des 16. Jahrhunderts, und der zugunsten des folgenden Herrscherabsolutismus und zu Ungunsten der Adelsrepublik (etwa nach dem Vorbild der Niederlande oder der Polnisch-Litauischen Union) entschieden wurde. Erst die Niederlage am Weißen Berg ermöglichte im Laufe der darauffolgenden Reformen den Rechtsstatus einer Reihe von Einwohnern anzugleichen, die Patrimonialverwaltung einzuführen und im Allgemeinen ein klar definiertes Gebiet festzulegen, auf dem das Monopol der Steuereinziehung ausgeübt, das Recht erzwungen und staatliche Gewalt angewandt werden konnte – eigentlich handelte es sich um die Bausteine moderner Staatlichkeit.

 

Die darauffolgenden aufklärerischen Reformen versteht Bruckmüller dann als einen dynamischen Ausbau des bürokratisierten Staatsgebildes, das sich Anfang des 19. Jahrhunderts an der Schwelle der modernen Ära sah, die viele rapide wirtschaftliche und soziale Umwälzungen mit sich brachte. Charakteristisch für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts sei dann das Aufkommen einer völlig neuen Bürgerschicht, die zum Antrieb nicht nur wirtschaftlicher, sondern auch gesellschaftlicher Innovationen wurde. Der Akzent auf Versammlung in diversen Vereinen und Gesellschaften, auf die Presse- und Druckkultur sowie auf aktive Teilnahme am öffentlichen Leben jenseits des eigenen Profits ließ somit die Bedingungen für die Entstehung einer aktiven Bürgergesellschaft entstehen, die infolge der Entfernung feudaler Barrieren nach 1848 eine breite Palette sozialer Aktivitäten entfalten durfte, die nun keineswegs mehr nur ein Privileg der mittelständischen „Männer von Besitz und Bildung“ waren. Die Etablierung neuer gesellschaftlicher Schichten und die damit einhergehende Ausdifferenzierung der sozialen Interessen vermochten so, in der konstitutionellen Ära von Österreich nach 1861, allmählich den autoritativen, bürokratischen Staat in ein funktionierendes parlamentarisches System umzuwandeln, das den Bürgern ungefähr die gleichen Rechte garantierte, wie es in Westeuropa üblich war.

 

Das Österreich der Zwischenkriegszeit hält Bruckmüller nicht für einen direkten Vorgänger der jetzigen „zweiten Republik“, sondern für einen Raum, in dem nach dem Zerfall der Monarchie im „restlichen Österreich“ die eindeutig deutschsprachige Mehrheit verblieb, und somit stand dem alten Wunsch nichts im Wege, Österreich an Deutschland anzuschließen. Bereits seit den 1920er Jahren wurde die „Erziehung zum Deutschtum“ intensiviert, laut der die einzig mögliche Zukunft Österreichs in der Vereinigung mit Deutschland bestand. Der Anschluss im Jahre 1938 dürfe daher nicht als Beweis des „ersten Opfers von Hitler“ gesehen werden, sondern als eine große „Volksfeier“, die Bruckmüller mit einem religiösen Fest vergleicht. Er reflektiert hiermit die neueste österreichische Geschichtsschreibung, die in den letzten Jahrzehnten definitiv die frühere nationale Interpretation verabschiedet, welche dazu neigte, die gegenwärtige österreichische Identität viel weiter zurück in die Vergangenheit zu projizieren als empirisch haltbar.

 

Die Grundsteine des jetzigen Österreichs wurden somit nach dem Zweiten Weltkrieg gelegt, als der dezimierte und besiegte Staat es dank der großzügigen Hilfe Amerikas innerhalb von kurzer Zeit schaffen konnte, wieder auf Beine zu kommen und die goldene Ära des „Ford‘schen Kapitalismus“ anzukurbeln, der bis zur Mitte der 1970er Jahre ein früher unvorstellbares wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand mit sich brachte. Der Umbruch von den 1950ern zu 1960er Jahren stelle dabei einen Wendepunkt angesichts des modernen wirtschaftlichen und sozialen Modells der Alpenrepublik dar, das gerade in diesem Zeitraum auf einem entwickelten sozialen Dialog und auf einer intensiven Einbeziehung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern in die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik aufbaute. Die so definierten Grundsteine des österreichischen sozialwirtschaftlichen Modells wurden laut Bruckmüller anschließend in der Ära des Bundeskanzlers Bruno Kreisky weiterentwickelt, der mithilfe von grundlegenden Reformen des Bildungssystems die Dynamik der sozialen Mobilität ankurbelte, von der Österreich bis heute profitiere.

 

Bruckmüllers Geschichte Österreichs ist nicht in erster Linie ein Buch für Fachleute. Der Text wurde nicht mit einem Fußnotenapparat versehen, am Buchende findet man lediglich eine Auswahlbibliographie. Ein leserfreundlicher Stil und die Suche nach den auf den ersten Blick verborgenen Zusammenhängen macht aus diesem umfangreichen Band eine ideale Lektüre für eine breitere interessierte Öffentlichkeit, die die Möglichkeiten und Grenzen des Nationalstaates zur Zeit der Corona-Krise wieder entdeckt. Die Genealogie eines solchen Staatsmodells am Beispiel unseres südlichen Nachbarn wird von Bruckmüller sehr nachvollziehbar, lesefreundlich und mit einem beneidenswerten Gefühl für das Wesentliche geschildert. Wiewohl es eine schwierige Aufgabe ist, eine Gesamtgeschichte Österreichs zu schreiben, muss man feststellen, dass Ernst Bruckmüller diese Arbeit gelungen ist, und sie daher die Bezeichnung „Standardwerk“ verdient.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Ernst Bruckmüller: Österreichische Geschichte. Von der Urgeschichte bis zur Gegenwart. Wien / Köln / Weimar: Böhlau, 2019, 692 S.


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