Es schreibt: Lena Dorn

(E*forum, 7. 7. 2021)

„Linguistic landscapes take us into the spatiality of language.“ (Alastair Pennycook und Emi Otsuji: Metrolingualism: Language in the City, 2015, S. 148)

 

Die kulturhistorische Übersetzungsforschung stellt sich immer wieder die Frage, wie sich die Analyse der Übersetzungsprozesse von eingefahrenen nationalen Blickwinkeln lösen lässt. Eine mögliche Antwort auf diese Frage lautet: durch den Fokus auf das Lokale. Diesen Weg verfolgt auch der neue Band Translating in Town: Local Translation Policies During the European 19th Century, herausgegeben von Lieven D’hulst und Kaisa Koskinen (London: Bloomsbury, 2020), die in der Einleitung anmerken, es handle sich bei der Verbindung von Übersetzungsforschung und Stadtforschung um einen neuen Forschungstrend.

 

Michael Cronin und Sherry Simon hatten die Stadt und ihre mannigfaltigen öffentlichen und institutionellen Räume bereits als „translation zone“ bezeichnet, wobei sie an das Interesse für Städte als Aushandlungsorte von kultureller Diversität anknüpften. „What is surprising is that language, itself an essential instrument and domain of the public, the medium through which public discussion takes place, is simply taken for granted“ (Introduction: The city as translation zone, 2014, S. 119). Die Begegnungszonen in Städten werden hierbei in Bezug zueinander gesetzt. Auch die oben zitierten Pennycook und Otsuji sind Referenzautoren des Bandes.

 

D’hulst und Koskinen wählen eine dezidiert historische Herangehensweise und beleuchten das lange 19. Jahrhundert und seine städtischen Übersetzungspolitiken. So handeln die Texte meist von den verschiedenartigen Verflechtungen von Nationalismus und Multilingualismus. Das Buch besteht aus vier Teilen. Der erste behandelt das Übersetzen in hegemonialen Regimen – die Übersetzungspolitiken norditalienischer Städte während der Napoleon-Ära 1796–1814 (Michael Schreiber) und die Institutionalisierung der Übersetzung in Wien nach 1848 (Michaela Wolf). Der zweite handelt vom Aufkommen lokaler Nationalismen – Mehrsprachigkeit in der Schweiz am Beispiel Genf (Valérie Dullion), die Entwicklung von flämischem Monolingualismus im westlichen Belgien (Lieven D’hulst) und schließlich das Beispiel Tampere, wo die Übersetzungspolitik in den 1870ern und 1880ern von einer Monolingualität in eine andere führte, vom Schwedischen zum Finnischen (Kaisa Koskinen). Der dritte Teil hat das Dolmetschen in Hafenstädten zum Thema und umfasst zunächst eine biografische Perspektive auf Gerichtsdolmetscher in Cork Harbour, Irland, 1860–1910 (Mary Phelan) und dann das Beispiel Barcelona, wo die offizielle spanische Übersetzungspolitik für den Bereich des maritimen Handels im 19. Jahrhundert gescheitert sei (Albert Branchadell). Im vierten Teil schließlich steht das Übersetzen für den öffentlichen Raum im Vordergrund – zum einen die Beschaffenheit der Berichte über Übersetzungen in einer slowenischen Zeitschrift Ljubljanas Ende des 19. Jahrhunderts (Nike K. Pokorn), zum anderen die Übersetzungspraktiken in Zypern und Nikosia, wo weder unter osmanischer noch unter britischer Einflussnahme große Bemühungen um eine Institutionalisierung von Sprach- und Übersetzungspolitiken erkennbar waren (Georgios Floros).

 

Ein Dreh- und Angelpunkt ist die Institutionalisierung von Übersetzungspolitiken, und das Interesse gilt dem Zusammenhang zwischen Sprachpolitik und Übersetzungspolitiken. Letztere verwirklichen sich auf verschiedenen Ebenen: erstens in den konkreten Praxen, zweitens in den mit einem Sprachgebrauch verbundenen Wertvorstellungen und drittens in der autoritativen Einflussnahme bzw. regulativen Eingriffen.

 

In der Einleitung betonen die HerausgeberInnen, dass sie das Übersetzen als eine lokale Praxis begreifen. Die Stadt als Ort zahlreicher Sprachkontakte biete die Möglichkeit, die Übersetzung als Interaktion zu analysieren, durch ein „micro-cosmopolitan thinking from below“ (S. 1). Wichtig ist für D’hulst und Koskinen das 19. Jahrhundert mit seinen Bedingungen politischer Neuordnung: Hier seien die Sprachen zu bedeutenden Vektoren der nationalen Ideologien geworden. Sprachgebrauch wurde zum Teil neu interpretiert, und vormals regional bestimmte Sprachen konnten zu nationalen werden. Gerade dieser Gesichtspunkt gewinnt an Kontur in diesem Buch, das teilweise weit auseinander liegende und sehr unterschiedliche lokale Politiken miteinander konfrontiert. Beim Lesen bekommt man eine Ahnung, wie viel Bewegung in den Übersetzungen lag, wie viele politische Aushandlungen in der Frage der Sprachverwendungen stattfanden. Mitunter konnte die nationale Zugehörigkeit dabei durch anders gelagerte Loyalitäten überdeckt werden, etwa eine religiöse, berufliche, gesellschaftliche oder eben auch eine auf die Region oder Stadt bezogene. Doch das Sprechen war zugleich eine Art permanente Praxis. Die Sprache blieb unersetzliches alltägliches Kommunikationsmittel, während sie zugleich zum Politikum wurde.

 

In Bezug auf die Donaumonarchie wurde zur Mehrsprachigkeit des 19. Jahrhunderts bereits viel geforscht. So taucht auch das Beispiel Wien im Band auf, analysiert von Michaela Wolf, die ausgewiesene Expertin für die Übersetzungspolitiken im Habsburgerreich ist. Ihr Beitrag, den ich hier hervorheben möchte, thematisiert Wien gegen Ende des Bestehens der Monarchie, in der zu diesem Zeitpunkt zwölf Sprachen gesprochen wurden. Der Fokus ihres Textes liegt auf der Institutionalisierung der Übersetzung in der Hauptstadt und Metropole Wien. Dabei betrachtet sie zum einen, wie Übersetzungen ins Deutsche organisiert wurden und bezieht Wiener Verlagshäuser in die Analyse ein. Besondere Aufmerksamkeit schenkt sie zum anderen dem Übersetzungsprojekt des Redaktionsbureaus des Reichsgesetzblattes, welches über Jahrzehnte daran arbeitete, die Gesetzestexte aus dem Deutschen in andere Sprachen zu übersetzen. In ihrem Fazit stellt sie fest, dass die maßgeblichen Regulationsfaktoren von Übersetzungsprozessen die Zensur, die Urheberrechtsregelungen und die staatliche Lizenzierung von Buchhandlungen gewesen seien. Zugleich wird in diesem Teil des Buches etwa deutlich, dass das Thema Migration in der Stadt- und Übersetzungsforschung eine große Rolle spielt. Wolf konstatiert, dass die Nationalisierung der Konflikte die Institutionalisierung der Übersetzungsprozesse vorangetrieben habe, zugleich aber seien durch die starke Migration auch besondere hybride Kommunikationsräume in der Stadt entstanden.

 

Was verbindet nun aber Wien mit Tampere, Genua, Cork oder anderen Städten, die von sehr unterschiedlicher Größe, Lage und Politik gekennzeichnet sind, wo liegen dagegen Unterschiede? Diese Frage wird hier konsequent in Bezug auf Übersetzungen beleuchtet, denn klar ist: Übersetzt wird überall. Und das ist der spannende Ansatz dieses Buches, denn in den Städten und Orten wurde das Übersetzen unterschiedlich gehandhabt, und es ging aus unterschiedlichen Bedingungen hervor. Wien und Genua verbindet, dass es Städte waren, in denen die Übersetzungen von Gesetzen oder staatlichen Verlautbarungen organisiert werden mussten – in Genua sprachen die Menschen Italienisch, während Französisch im untersuchten Zeitraum die offizielle Verwaltungssprache war. Michael Schreiber nennt dies auch die performative im Gegensatz zur informativen Übersetzung (S. 22). Dabei war jedoch die eine Stadt das politische Zentrum der österreichischen Monarchie, die andere lag eher an einem der Ränder, wodurch sich auch übersetzerische Unterschiede ergeben. In Cork wiederum drehten sich die Übersetzungspraxen vor allem um die zahlreichen Handelsreisenden und Seeleute, wohingegen die ansässige Bevölkerung nicht in hohem Maße mehrsprachig war. Dokumentiertes institutionelles Übersetzen findet sich hier deshalb in erster Linie im Bereich von Gerichtsverhandlungen. In der Geschichte Nikosias (Zypern) wird deutlich, dass zwar eine breite und wenig regulierte Multilingualität, Translationalität oder auch ein städtischer „Metrolinguismus“ (S. 219) praktiziert wurde, dieser jedoch keineswegs verhinderte, dass hier später ein starker Nationalismus entstand.

 

So könnten für die Übersetzungs- als Stadtforschung vielleicht doch gemeinsame Gebiete identifiziert werden, die immer wieder an relevanter Stelle auftauchen und an welchen eine breitere vergleichende Forschung ansetzen könnte, zum Beispiel das offizielle und inoffizielle Übersetzen von Gesetzen und Anordnungen, die Übersetzungspraktiken in der Migration, der Handel, die lokalen Zeitungen, andere privat organisierte Veröffentlichungsorgane oder das Gerichtsdolmetschen.

 

Es geht hier wieder einmal um die Frage, „whether translation has been able to achieve a closer interaction between the members of local communities or, on the contrary, whether official bilingualism should be considered one of the possible causes of their further growing apart“ (Lieven D’hulst und Kaisa Koskinen, S. 16). Vermutlich werden weitere übersetzungsgeschichtliche Studien folgen, die daran weiter forschen und die dem immer wieder unsichtbar scheinenden Übersetzen und seinen Implikationen zu mehr Sichtbarkeit verhelfen.

 

 

Lieven D’hulst und Kaisa Koskinen: Translating in Town: Local Translation Policies During the European 19th Century. London: Bloomsbury, 2020, 237 S.


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