Es schreibt: Marie Krappmann

(E*forum, 12. 5. 2021)

„Gegen Ende des Jahres 1931 begann Charlotte von Weisl, geb. Popper-Michlup, die 1868 in Lokšany, dem Judenviertel der böhmischen Kleinstadt Bresnitz/Březnice, geboren wurde und 1888 aus Prag nach Wien übersiedelt war, als Witwe im Alter von 63 Jahren mit der Niederschrift ihrer Familiengeschichte, die sie ihren Nachkommen schon mehrmals mündlich erzählt hatte.“ (S. 7) Mit diesen Sätzen wird die von Dietmar Goltschnigg herausgegebene Monographie Böhmische Juden auf Wanderschaft über Prag nach Wien eingeleitet, die den Untertitel Charlotte von Weisls Familiengeschichte trägt. Die in dem Titel und Untertitel angekündigte Einbindung der persönlichen Mikrogeschichte in einen komplexeren historischen und gesellschaftlichen Kontext ist das Hauptziel des relativ umfangreichen Kommentarteils. Als Ausgangspunkt dienen die von Charlotte von Weisl verfassten Memoiren, in denen sie die verzweigten genealogischen Linien ihrer Familie bis ins 17. Jahrhundert verfolgt. Hiermit gehört der in der Monographie analysierte und kommentierte Text zu einem sehr heterogenen Genre, das von Rudolf Dekker und anderen Literaturtheoretikern unter den Begriff „Egoliteratur“ zusammengefasst wurde. Es wird überdies die Beziehung zu der genuin jüdischen Erinnerungsliteratur hergestellt, die zwar vom autobiographischen Stoff ausgeht, die jedoch zugleich die Funktion der ethisch-moralischen Musar-Literatur ausüben soll. Die Funktion der Musar-Literatur bestand in erster Linie darin, vorbildhafte Verhaltensmodelle zu kommunizieren. Daher ist das einleitende Kapitel der insbesondere im judaistischen Kontext bekannten Persönlichkeit Glikl von Hammeln gewidmet, die ihre Memoiren auf Jiddisch verfasste. Angemerkt sei an dieser Stelle, dass Glikl von Hameln nicht 1675 geboren wurde, wie auf S. 13 angeführt ist, sondern ungefähr dreißig Jahre früher, um das Jahr 1646/7.  Etwas störend wirkt auch die Tatsache, dass auf derselben Seite in Anm. 1 der hebräische Titel der Memoiren in hebräischen Buchstaben von links nach rechts statt von rechts nach links abgedruckt wurde. Die Verortung Charlotte von Weisls „Familiengeschichte“ an der Schwelle zwischen dem autobiographischen und dem didaktisch ausgerichteten ethisch-moralischen Genre ist durchaus angebracht, denn genau dieses Genre strebte Charlotte von Weisl mit ihren Memoiren offenbar an, wie hier später gezeigt wird.

 

Die autobiographische Komponente stellt eine höchst spannende Verwebung von individuellem und kollektivem Gedächtnis dar, wie im zweiten Kapitel des Kommentars nahegelegt wird. Insbesondere in den Passagen, in denen Charlotte von Weisl die zeitlich weit zurückliegenden Ereignisse schildert, ist sie ausschließlich auf orale Überlieferungen angewiesen. Das Hauptanliegen war offenbar nicht, historische Ereignisse möglichst präzis zu vermitteln, sondern „den Familiensinn auf […] (die) Kinder zu übertragen, auf dass diese die Erinnerung an ihre Ahnen dereinst in ihren Kindern weiterleben lassen“ (S. 91). Neben der ethisch-moralischen Wirkung und der genealogischen Informationsvermittlung ist es also das Herbeibeschwören des Ahnenstolzes, worauf Charlotte von Weisl mit ihrer Familiengeschichte abzielt. Dies wird im dritten Kapitel des Kommentars thematisiert, in dem der Prozess der „Feudalisierung“ des jüdischen Bürgertums angesprochen wird.

 

Die zum Teil stark idealisierte Schilderung der Ahnenlinien lässt sich jedoch meines Erachtens nicht auf diesen Kontext reduzieren, zumal – wie der Herausgeber selbst anmerkt – die mütterliche Linie der Vorfahren betont wird. Es stellt sich also die Frage, inwieweit die so detaillierte Schilderung des Stemmas der Familienzweige nur von dem Bestreben nach der „Feudalisierung“ bedingt war. Die Ahnenverehrung und moralisierende Idealisierung der Ahnenlinien war ja auch kennzeichnend für das Genre der autobiographisch geprägten Musar-Literatur. Obwohl bereits die Familie der Großmutter von Charlotte von Weisl stark assimiliert war, muss dennoch zugleich hervorgehoben werden, dass auch im genuin jüdischen Kontext ein großer Akzent auf der genealogischen Tradition lag.

 

Im vierten und fünften Kapitel des Kommentars wird der politische und nationale Hintergrund skizziert, vor dem sich die Schicksale der einzelnen Familienmitglieder in Charlotte von Weisls Erinnerungen abspielten. Insbesondere anhand der Passagen und biographischen Angaben über Ernst Franz Weisl, den Ehemann der Autorin der Memoiren, und seinen Bruder Hugo Weisl wird die komplexe, scheinbar widersprüchliche nationale und politische Identität des höheren jüdischen Bürgertums in der ehemaligen Habsburgermonarchie und in der Zeit unmittelbar nach ihrem Zusammenbruch erörtert. In den Kommentarteil wurden solche Ausschnitte aus der Familiengeschichte ausgewählt, die eine tiefere Einsicht in die vielschichtige Denkweise Ernst Franz Weisls bieten. Diese offenbarte sich etwa in dem scheinbaren Widerspruch zwischen der Sympathie gegenüber der tschechischen Nationalbewegung einerseits und vollkommener Loyalität gegenüber dem Habsburgerreich andererseits. Da eine besondere Aufmerksamkeit der Wechselbeziehung zwischen der deutschen, jüdischen und tschechischen Identität gewidmet wurde, wäre eine intensivere Berücksichtigung der Studien von Kateřina Čapková zu erwarten gewesen, die sich mit diesem Thema langfristig befasst.

 

Das neunte Kapitel mit dem Titel Sozial- und kulturgeschichtlicher Rückblick auf „die böhmischen Juden vor der Sintflut“ ist im Grunde eine historische Vertiefung und Synthese der in den Kapiteln vier und fünf aufgeworfenen Fragestellungen. Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, dass die Juden sich während der Belagerung Prags im Dreißigjährigen Krieg tatsächlich tapfer gegen die Schweden gewehrt haben, wovon unter anderem das auf Jiddisch verfasste Shvedesh lid ein Zeugnis ablegt, allerdings nicht im Jahre 1632, wie Goltschnigg auf S. 65 anführt, sondern erst im Jahre 1648. Obwohl der historische und gesellschaftlich-politische Hintergrund mit viel Erudition skizziert wurde, deuten manche Details und Ungenauigkeiten darauf hin, dass die Realien der böhmischen Länder eher aus der verallgemeinernden Perspektive der deutschsprachigen Geschichtsschreibung heraus betrachtet wurden. Zu solchen Details gehört etwa die Bezeichnung der in Mähren liegenden Stadt Olmütz als einer „böhmische[n] Stadt“ (S. 32). Dies ist natürlich nicht falsch, allerdings auch nicht ganz richtig.

 

Anhand der Geschichte der Familie Herschel (mütterliche Linie) wird in diesem Kapitel der exemplarische Erfolgsweg einer jüdischen Familie im Textilunternehmen geschildert, begleitet vom gesellschaftlichen Aufstieg, der sich etwa in der Bildung, Erziehung oder materiellem Wohlstand widerspiegelte. Die auf den Recherchen beruhenden Auskünfte über die Wohnorte und Aktivitäten der Familie Herschel wurden durch passend ausgewählte Ausschnitte aus den Memoiren ergänzt.

 

Während im vierten, fünften und neunten Kapitel des Kommentarteils eher der allgemeine historische, gesellschaftliche und politische Kontext skizziert wurde, werden im sechsten, siebten und achten Kapitel die unmittelbar mit der jüdischen Identität zusammenhängenden Themen angesprochen: Antisemitismus, Assimilation, Dissimilation und Zionismus. Goltschnigg versucht dabei auf die Diskrepanzen hinzuweisen zwischen der narrativen Bearbeitung der Themen in Charlotte von Weisls Erinnerungen und der tatsächlichen historischen Sachlage. So wird etwa zutreffend festgestellt, dass Antisemitismus in den Memoiren kaum angesprochen wird, obwohl Ernst Franz Weisl, der Ehemann der Autorin, dieses Thema offenbar als brennendes Problem empfand und sich ihm in verschiedenen Periodika häufig widmete. Im siebten Kapitel mit dem Titel Dissimilation versus Assimilation wird dann die Entwicklung von einer assimilationsbegeisterten Haltung, die sich etwa in exzessiven Weihnachtsfesten zeigte, hin zu einer assimilationsskeptischen Gesinnung, die sich auf zionistischem Gedankengut gründete, dargestellt. Ernst Franz Weisls Beziehung zu Theodor Herzl und Max Nordau wurde das achte Kapitel gewidmet, das vorwiegend von den entsprechenden Passagen in den Memoiren ausgeht und sich zudem auf die in verschiedenen Periodika (Neue Freie Presse, Die Welt) abgedruckten Artikel stützt.

 

Sehr hilfreich ist das zehnte Kapitel Zentrale Figurenpaare und Resümee, in dem eine übersichtliche Vorausschau der Figurenkonstellationen geboten wird, und das von Patrizia Gruber nach Vorlagen Nova von Weisls erstellte Gesamtstemma der Familienzweige (S. 280 f.).

 

Die Memoiren, die dem Kommentarteil folgen, vermitteln eine komplexe Einsicht in die Struktur einer sich seit dem 18. Jahrhundert immer intensiver assimilierenden jüdischen Familie, deren letzte Generation neue Wege einschlug, beeinflusst etwa durch den Zionismus oder die tschechische nationale Bewegung. Charlotte von Weisl beginnt ihre Familiengeschichte Mitte des 17. Jahrhunderts zu erzählen, indem erstmals die Schicksale des Familienzweigs geschildert werden, aus dem ihre Großmutter Charlotte Singer (geb. Herschel) hervorging. Diese Frau ist die Schlüsselfigur in Charlotte von Weisls Narration; die Parallele, die Dietmar Goltschnigg zieht zwischen der verherrlichenden Charakterisierung von Glikl von Hameln durch Bertha von Pappenheim und der idealisierenden Darstellung der Großmutterfigur in der „Familiengeschichte“, trifft völlig zu. Auch die von dem Herausgeber in der Einleitung erwähnte Tatsache, dass Charlotte von Weisl ihre Erinnerungen in erster Linie auf die mütterliche Linie der Ahnenreihe fokussiert, während die väterliche Linie – die Geschichte des Familienzweigs Popper – lückenhaft bleibt, fällt bei der Lektüre der Memoiren sofort auf.

 

Die zweite weibliche Persönlichkeit, die in den Erinnerungen eine zentrale Rolle spielt, ist eine der Töchter der Großmutter, Marie Michlup, die Tante der Erzählerin, die zusammen mit ihrem Ehemann Simon Michlup ihre Nichte adoptierte. Diese wird in den Erinnerungen stets liebevoll „Mama“ genannt, im Unterschied zu der leiblichen Mutter Franziska Popper (geb. Singer), die in den Memoiren als „Mutter“ kaum Raum findet.

 

Die zweite Hälfte der Familiengeschichte wird von den Erinnerungen an den Familienzweig des Ehemanns der Erzählerin dominiert, Franz Ernst Weisl. Er und sein Vater, Wolf Weisl, sind die männlichen Schlüsselfiguren, die in einer ähnlich idealisierenden Art und Weise charakterisiert werden wie die Großmutter der Erzählerin. Zugleich verschiebt sich mit der Erzählung über diese genealogische Linie der Handlungsort von den böhmischen Kleinstädten und der Hauptstadt Prag, wo die Familienchronik bisher lokalisiert war, nach Wien. Der topographische Akzent, der auf Böhmen gelegt wird, ist laut Goltschnigg eine der Besonderheiten in Charlotte von Weisls Memoiren. Aus dem im Vorwort gezogenen Vergleich mit den bekannten Autobiographien der habsburgischen Moderne ergeben sich noch zwei weitere Spezifika: der sehr lange Zeitraum, über den sich die Familienchronik spannt, und die weibliche Perspektive, die in den letzten Dekaden ins Blickfeld der Forschung rückte.

 

Die Erinnerungen wurden von dem Herausgeber mit einem umfangreichen Anmerkungsapparat im Umfang von 266 Eintragungen versehen. Die Anmerkungen zeugen davon, dass die Monographie auch für breiteres Publikum bestimmt ist, das nicht auf judaistische Themen spezialisiert ist; es werden grundlegende Termini aus dem Bereich des religiösen Lebens erläutert, wie etwa „Bar Mitzva“ (Anm. 33) oder „Shiva“ (Anm. 81). Es werden überdies diverse Begriffe außerhalb des judaistischen Kontextes erklärt, bei denen der Herausgeber voraussetzte, sie könnten den LeserInnen nicht geläufig sein (in Anm. 87 werden etwa „Tantalusqualen“ erklärt, in Anm. 115 der Terminus „Barchent“ definiert etc.) Häufig werden auch verschiedene historische Zusammenhänge und Realien spezifiziert, die in den Memoiren selbst als allgemein bekannt vorausgesetzt werden (etwa die Rolle der Sozialdemokraten in Wien in Anm. 258).

 

Insgesamt ist die von Dietmar Goltschnigg herausgegebene Monographie ein höchst lesenswertes Buch, das den LeserInnen anhand der von Charlotte von Weisl verfassten Familienchronik einen tiefen Einblick in die Lebenswelten einer jüdischen bürgerlichen Familie in den böhmischen Ländern gestattet.

 

 

Dietmar Goltschnigg (Hg.): Böhmische Juden auf Wanderschaft über Prag nach Wien. Charlotte von Weisls Familiengeschichte. Text, Kontext, Kommentar, Analyse. Wien: Böhlau Verlag, 2019, 298 S.


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