Es schreibt: Mirek Němec

(21. 4. 2021)

Ein Reisebericht ist ein Bericht von einer Reise, der den Leser mit den Leiden, aber auch den Freuden des Reisenden vertraut machen soll. So kann er die Neugierde des Lesers wecken, fesselt ihn durch eine spannende Handlung wie ein Abenteuerroman an die Lektüre und kann dabei zugleich Bildungspotential entfalten. Auch durch abwechselnde Erzähltechniken ist der Reisebericht ein klar heterogenes Genre. Der Reisebericht, den Julius Payer (1841–1915) im Jahr 1876 in Wien auf deutsch veröffentlichte, entspricht dieser breiten Definition genau. Payer schildert darin das Schicksal der österreichisch-ungarischen Expedition, die im Sommer 1872 an Bord des mit Dampfmotor ausgestatteten Segelschiffs Tegetthoff aufbrach, um Möglichkeiten für die Schifffahrt zwischen Europa und dem Fernen Osten sowie möglicherweise auch Amerika über die sogenannte Nordostpassage zu erkunden. Die 24 mutigen Männer unter der Leitung von Carl Weyprecht konnten ihre Aufgabe aber nicht erfüllen, da das arktische Klima noch längst nicht so durch das menschliche Handeln beeinflusst war wie heute. Schon nach wenigen Wochen wurde das Schiff samt Besatzung unwiderruflich von einem Eispanzer eingeschlossen. Dennoch, oder besser gerade deshalb, gelang es der Expedition dank des langsam driftenden Eises und der Unbeweglichkeit, zu der das darin befindliche Schiff verdammt war, im Lauf der 812 Tage der Gefangenschaft im Eis einige interessante Entdeckungen über die Geografie, Biologie und Geologie der unerforschten und nie von Menschen besuchten nördlichen Region zu erzielen. Zweifelsohne war ihr größter Erfolg die Entdeckung des später so genannten Franz-Joseph-Landes, einer dauerhaft eisbedeckten, auf ungefähr 80 Grad nördlicher Breite liegenden Inselgruppe. Als erster überhaupt versuchte Julius Payer diese unbekannte und unwirtliche Inselgruppe zu kartieren.

 

Der in Schönau bei Teplitz (heute ein Teil des nordböhmischen Teplice) geborene Payer erwies sich nicht nur als hervorragender Kartograf, kompetenter und mutiger Polarforscher, Alpinist und Kommandant dreier Forschungsreisen zum zugefrorenen Archipel, sondern auch als hervorragender und literarisch begabter Dokumentarist. Sein in gekürzter Form ins Tschechische übersetzte Werk wird in dieser wie auch in der ersten Ausgabe von 1969 von zwei recht umfangreichen Texten von Jaroslav Hošek gerahmt, dem Übersetzer und Herausgeber der ersten Ausgabe. In seinem Vorwort mit dem bezeichnenden Titel Was vorher geschah (Co předcházelo, S. 17–84) schildert Hošek sehr weitschweifig die Geschichte der Erforschung des Polargebiets vor Payers Expedition. In die Aufzählung der kanonisierten Koryphäen der Entdeckungsreisenden integriert er auch quasi unbekannte russische Forscher wie z. B. den Kartografen und Admiral Nikolai Gustawowitsch Baron Schilling (1828–1910), sowie Pjotr A. Kropotkin (1842–1921), der weniger durch die Kartografie, sondern mehr durch seine politischen, anarchokommunistischen Aktivitäten bekannt geworden ist. Des weiteren erinnert Hošek an Payers alpinistische und militärische Abenteuer in Norditalien sowie an seine Verdienste bei der Kartierung der Südtiroler Alpen. Man erfährt von seiner Beteiligung an der Expedition nach Grönland 1869/70 und von den komplizierten Vorbereitungen der beschriebenen Expedition. Im Nachwort mit dem wiederum vielsagenden Titel Was danach geschah (Co bylo potom, S. 381–420) befasst sich Hošek kurz mit den späteren Expeditionen nach Franz-Joseph-Land, um sich dann noch den Biografien von „fünf Landsleuten“ und des Kommandanten Carl Weyprecht zuzuwenden.

 

Beide Texte von Hošek sind voller Faktenwissen, welches einen Eindruck von der Faszination des Übersetzers und von seinem Fleiß gibt. Er las nicht nur die damalige Presse und die erhaltenen Tagebücher, oder besser gesagt Notizen einiger Besatzungsmitglieder, sondern sein intensives Forschen führte ihn auch zu Archivreisen ins Wiener Militärarchiv und in zahlreiche tschechische Archive. Trotz dieser bewundernswerten Arbeit muss ich jedoch auf den Irrtum bei der Angabe zu Geburtsjahr und -ort (Darmstadt) des Kommandanten Carl Weyprecht (1838–1881) hinweisen. Problematischer als die faktografischen Ungenauigkeiten und die monotone, der Menge des gesammelten Materials untergeordnete Struktur beider Texte sind jedoch einige Schlussfolgerungen Jaroslav Hošeks. Diese entsprechen nicht dem heutigen Stand der historiografischen Forschung und nötigen den mitdenkenden Leser zum Widerspruch. Vor allem fällt Hošeks Bemühen auf, die ethnische Herkunft einiger Besatzungsmitglieder aufzuschlüsseln und fünf von ihnen als ethnische Tschechen zu bewerten. Jan Neruda behandelte in einem seiner Feuilletons am Beispiel Otto Krisch oder Ota Kříž (1845–1874), dem einzigen Todesopfer der Drangsale von Payers Expedition, die Frage, ob die damalige tschechische Gesellschaft ihre Persönlichkeiten und Repräsentanten nicht genug wertschätze. Dies bringt den Klassiker journalistischer Literatur zu dem sarkastischen Satz: „Es wäre ein seltsamer Zufall, würde das am nördlichsten gelegene Grab einen Sohn der tschechischen Nation bergen!“ Hošek jedoch verlässt Nerudas Konditional und spricht direkt vom „nördlichsten tschechischen Grab“. Ein ähnliches Problem taucht in der Biografie von Josef Pospíšil (1850–1906) auf. Aus der Aufzählung der familiären Peripetien wird klar, dass sich schon Josef Pospíšil als österreichischer Beamter wahrnahm, der auf Deutsch nicht nur kommunizierte, sondern auch sein Tagebuch schrieb. Und der Lebensmittelpunkt der Familie war Wien. Sein Sohn Ota Pospíšil kam als k. u. k. Soldat im Ersten Weltkrieg in Gefangenschaft und heiratete 1919 im usbekischen Samarkand eine Russin. Noch vor Ort bekamen sie zwei Kinder, Evžen und Irma. Diese sollten jedoch auf der leidvollen Heimreise, also auf dem Weg nach Wien, ums Leben kommen. Doch auf der nächsten Seite lässt Hošek Evžen von den Toten auferstehen, um ihn in einer Wehrmachtsuniform sterben zu lassen, „obwohl ihm nicht ein Tropfen deutschen Blutes in den Adern floss“.

 

Hošeks Überlegungen sind nicht nur vom heutigen Standpunkt aus obsolet, und es ist schade, dass Zdeněk Lyčka, der Herausgeber der zweiten Ausgabe, sie unverändert stehen ließ und in seinem allzu kurzen Vorwort (S. 7–12) nicht kritisch kommentiert. Es wäre außerdem verdienstvoll gewesen, hätte er Payers Text in einen aktuelleren Rahmen gestellt, wobei er an seine Erfahrungen aus der Polarwelt hätte anknüpfen können. Vor allem aber hätte er sich mit den Positionen und Ungenauigkeiten in Hošeks Text kritisch auseinandersetzen sollen.

 

Das Thema der Identitäten ist spannend, doch es hätte sich gelohnt, sie anhand Payers eigenen Textes zu interpretieren. Dieser schreibt mehrmals über die bunte ethnische Zusammensetzung der Besatzung und die dadurch gegebene Pluralität von Muttersprachen und den Umgang mit ihnen während der Expedition. Schließlich fasst er die Problematik in der Beschreibung der Verabschiedung vom norwegischen Harpunier Carlsen folgendermaßen zusammen: „An Bord der ,Tegetthoff‘ hatte er so viele neue Sprachen gelernt, daß seine Angehörigen Mühe fanden, sich mit ihm zu verständigen. […] außer den vorgenannten linguistischen Errungenschaften gab es nur noch drei, mit denen der alte Nordlandsfahrer ans Land stieg, – seinen stets geschonten weißen Renthierpelz, seine Perrücke und seine treue Walroßlanze!“ (S. 457) Die sprachliche Vielfalt der Besatzungsmitglieder führte dazu, dass unter Deck das Kroatische vorherrschte und in den Offiziers- und Kommandokajüten deutsch gesprochen wurde, während die gemeinsame Kommunikations- und Kommandosprache das Italienische war. Das verweist auf drei wichtige Aspekte: Zunächst belegt Payers Werk, dass sich auf dem Schiff das kaiserliche Motto „Viribus Unitis“ durchgesetzt hatte. Mit vereinten Kräften konnte die Besatzung nämlich alle Herausforderungen, die das Leben unter unwirtlichsten Bedingungen bereithielt, bestehen und die Konflikte, die im Leben in der Isolation aufkommen, in Grenzen halten. Der zweite Aspekt ist die Art, wie der Autor von den Nationalitäten spricht, indem er die kulturellen Unterschiede zwischen den einzelnen Besatzungsmitgliedern anerkennt, dabei jedoch die positiven Seiten des Zusammenlebens akzentuiert. Auch in diesem Sinne vertraute Payer der Kunst der einfachen dalmatischen Matrosen, so wie er ihnen gegenüber auch Empathie zeigte, da sie am wenigsten auf das Leben unter Polarbedingungen vorbereitet waren. Hošek leitet aus dem Text sogar eine gewisse Sympathie Payers für die Slawen ab, welche er in der Stunde der Rettung durch russische Fischer und Jäger an der Küste von Nowaja Semlja zum Ausdruck gebracht habe: „[…] breiteten sie die von ihnen erbeuteten Eisbärenfelle, ihre Gegengeschenke, aus; […] die Uebergabe derselben geschah unter dem Impuls der Herzensgüte, welche nur der Nationalität der Spender zuzuschreiben war, aber weder ihrer Religion, noch ihrer Erziehung.“ (S. 457) Und der dritte Aspekt schließlich ist die Tatsache, dass die Last des Schicksals und die militärische Karriere der Besatzungsmitglieder die sprachlichen und kulturellen Unterschiede zu überwinden halfen und dadurch den supranationalen Typ homo austriacus ausbildeten. Gerade diese Charakteristik trifft auf alle Besatzungsmitglieder zu, auch die mit den von Hošek ermittelten (territorial) böhmischen Wurzeln.

 

Payers subjektive Aufzeichnungen enthüllen im Kontext der Identitätsfragen und Selbstreflexionen eine weitere Besonderheit. Die Besatzung lebte unter einer stetig wachsenden Lebensbedrohung, denn das Leben auf dem Schiff, das durch den Druck des Eises jederzeit zusammenbrechen konnte, war gefährlich. Lebensgefährlich waren auch die Kälte von bis zu minus 50 Grad und der Nordwind, der die Gesundheit der Besatzung beeinträchtigte, ebenso wie der Mangel an frischer und vitaminreicher Nahrung. Auch drohte ihnen der Tod durch den arktischen Durst und die Erschöpfung durch die Arbeit unter diesen Bedingungen sowie durch Angriffe von Eisbären (67 gegerbte Felle blieben zum Schluss an Bord des verlassenen Schiffs). Weder der Verlust der Privatsphäre, noch die allgegenwärtige Feuchtigkeit, die Dunkelheit oder im Gegenteil der durch die Sonne verstärkte Sonnenschein taten der ohnehin geschwächten Psyche gut. Trotz dieser harten Lebensbedingungen, die länger als zwei Jahre andauerten, erwähnt Payer an keiner Stelle die Rolle der Religion, obwohl er ansonsten das Leben der Besatzung (einschließlich der Hunde) sehr detailliert beschreibt. Die Indifferenz des Autors gegenüber Glaubensfragen und religiösen Ritualen oder deren komplette Verlegung in die Privatsphäre des Einzelnen, wird zudem auch durch die Aufzählung der in der Schiffsbibliothek befindlichen Bücher belegt. Payer erwähnt klassische literarische Werke in verschiedenen Sprachen, nennt Lessing und wissenschaftliche Schriften, von der Bibel aber schweigt er. Glaube, Liebe und Hoffnung scheinen ausschließlich in den Händen der Besatzung zu liegen, die durch einen erfahrenen Kommandanten geführt wird: „Die Erfolge von Unternehmungen dieser Art, fern von der Beredsamkeit und Gewalt des Gesetzes, hängen zum größten Theil von dem guten Willen der Mannschaft ab, und wer sie befehligt, darf sich nicht begnügen, persönlich an allen Anstrengungen sich zu betheiligen, sondern muß auch in allen Fällen, wo es nicht der strengen Pflichterfüllung gilt, als theilnehmender Freund sich erweisen, damit das unwillkürliche Vertrauen sich bis zu dem Glauben an die Unfehlbarkeit des Führers steigere. In dieser und in fast allen andern Hinsichten konnte es kaum ergebenere und ausdauernde Männer geben, als jene, die hier in der Sonne lagerten […].“ (S. 313)

 

In zahlreichen Bemerkungen in Payers Text kommt seine Bemühung zum Ausdruck, die Besatzung zu beschäftigen, damit sie nicht unter Müßiggang und Langeweile leide, denn „es war charakteristisch zu sehen, wie wenige Tage ohne Arbeit und Aussicht hinreichen, Menschen unter solchen Umständen zu demoralisieren“. (S. 340) Eventuelle Hoffnungslosigkeit und Angst vermeidet man laut Payer am besten folgendermaßen: „Um uns solchem niederbeugenden Eindruck zu entreißen, konnten wir nichts Besseres thun als alle Gedanken an die Zukunft grundsätzlich zu vermeiden.“ (S. 391)

 

Die angeführten Zitate geben einen Eindruck von Payers Erzählstil. Eigene philosophische Überlegungen und Gedanken zum Leben mischen sich mit der packenden Erzählung von Bärenjagden, von abenteuerlichen Erkundungstouren auf Schlitten, wobei der spannendste Aufsatz der Schluss ist, zwischen dem Verlassen des im Eis festsitzenden Schiffes und dem qualvollen Weg zur endgültigen Rettung. Payer zitiert oft Passagen aus seinem Tagebuch, die vor allem wissenschaftliche Entdeckungen, Abhandlungen über die polare Flora und Fauna, geografische Entdeckungen und meteorologische Beobachtungen enthalten. Bei der Dokumentation stellt er auch sein unbezweifelbares künstlerisches Talent unter Beweis. Und das nicht nur durch Zeichnungen, die den Text begleiten und von seiner Begabung zeugen, die er in späteren Jahren noch verwerten sollte, sondern auch durch originelle poetische Passagen, mit denen er die Exotik der Arktis beschreibt: „Seit einigen Tagen hatten wir eine den Meisten an Bord völlig fremde Welt betreten; dichte Nebel umhüllten uns häufig, aus dem zerrissenen Schneekleide des noch fernen Landes starrten uns seine verfallenen Zinnen unwirthbar entgegen. Alles rings um uns predigte Vergänglichkeit; denn unausgesetzt herrscht das Nagen des Meeres und die geschäftige Emsigkeit des Schmelzprozesses an den Gefilden der Eiswelt. Bei bedecktem Himmel gibt es Nachts wohl kein melancholischeres Bild, als dieses flüsternde Hinsterben des Eises; – langsam stolz wie ein Festzug zieht die ewige Reihenfolge weißer Särge dem Grabe zu, in der südlichen Sonne. Für die Dauer von Secunden erhebt sich das immerwiederkehrende Rauschen der auslaufenden Dünnung als Brandung unter den ausgehöhlten Schollen; von den überragenden Flarden fällt das Sickerwasser in flüsternder Monotonie herab […].“ (S. 11)

 

Payers Reisebericht lässt sich auf verschiedene Arten lesen: als literarisch gelungenes und spannend geschriebenes Abenteuerbuch, als Traktat über den Sinn des Lebens, als Zeugnis von einer unzerstörten Natur, die sich heute durch menschliches Handeln und als Folge der globalen Erwärmung für immer verändert hat (der nördliche Seeweg von Asien nach Europa ist inzwischen auch für Handels- und Tankschiffe geöffnet), aber auch als ungewöhnliches kulturhistorisches Dokument. Schade ist nur, dass der Herausgeber den formalen Aspekten nicht mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat. Das Leseerlebnis wird durch häufige Tipp- und Druckfehler, vor allem aber durch die wirklich schlechte Papier- und Druckqualität getrübt, die (zumindest in der hier rezensierten broschierten Ausgabe) Payers zahlreiche Illustrationen und das Kartenmaterial nicht zur Geltung kommen lässt. Payers Geschichte, die 1984 zum Thema von Christoph Ransmayrs Roman Die Schrecken des Eises und der Finsternis wurde, der 2019 sogar in einer tschechischen Übersetzung von Pavla Weber erschienen ist, hätte eine bessere Form, vielleicht sogar eine filmische Verarbeitung, verdient.

 

Übersetzung: Lena Dorn

 

 

Julius Payer: Expedice na Severní pól. Původní překlad Jaroslava Hoška vydal a předmluvou doplnil Zdeněk Lyčka. Praha-Podlesí: Dauphin, 2019, 421 S.

 

[Julius Payer: Die österreichisch-ungarische Nordpol-Expedition in den Jahren 1872–1874, nebst einer Skizze der zweiten deutschen Nordpol-Expedition 1869–1870 und der Polar-Expedition von 1871. Wien: Alfred Hölder, 1876, 696 S.]


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