Es schreibt: Tilman Kasten

(E*forum, 14. 4. 2021)

Mit Ludwig Winder ist das erste Kapitel von Kurt Krolops wissenschaftlichem Œuvre aufgerufen, welches wiederum wichtiger Bezugspunkt für die aktuelle germanobohemistische Forschung ist. Dies bezeugen u. a. nicht nur entsprechende Beiträge zum E*Forum Ladislav Futteras (E*forum 30. 5. 2016) oder Václav Petrboks (E*forum 1. 5. 2019), sondern dies belegt auch die Namensgebung der Kurt Krolop Forschungsstelle für deutsch-böhmische Literatur, anlässlich deren Eröffnung Krolops 1967 verteidigte Dissertation Ludwig Winder. Sein Leben und sein erzählerisches Frühwerk. Ein Beitrag zur Geschichte der Prager deutschen Literatur (Olomouc: Univerzita Palackého v Olomouci, 2015) veröffentlich wurde. Der zweite Teil des Untertitels dieser Studie verweist bereits darauf, worum es Krolop über die detaillierte Analyse von Leben und Werk Winders hinaus ging und worin die Relevanz seiner Studie für die heutige Forschung u. a. besteht: um Möglichkeiten der Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem Werk eines Autors und dem breiteren literaturgeschichtlichen Kontext. Dessen (Neu-)Konzeptionalisierung (als Prager, deutsch-böhmische, deutsch-mährische, tschechoslowakische, sudetendeutsche etc. Literatur) ist u. a. Ziel zahlreicher jüngerer Studien zur (nicht nur deutschsprachigen) Literatur der böhmischen Länder bzw. der Tschechoslowakei.

 

Mit Chantal Puechs Studie Ludwig Winder – das Prosawerk. Wege aus der Unmündigkeit – eine Ethik des Handelns und der Pflicht (Würzburg: Königshausen& Neumann, 2019) liegt eine weitere Monographie zum Werk des Autors vor. Es handelt sich dabei um die deutsche Übersetzung einer 2017 in französischer Sprache veröffentlichten Studie (Ludwig Winder. De l’état de dépendance vers une éthique de l’action et du devoir [Paris: L'Harmattan, 2017]), welche wiederum auf eine bereits im Jahr 2000 an der Université de Toulouse II eingereichte Dissertation zurückgeht. Welchen Beitrag kann die Studie zu aktuellen Diskussionen der Forschung angesichts dieser Publikationsgeschichte leisten? Zugegeben, dieses ist nur „ein“ Kriterium, hinsichtlich dessen Puechs Arbeit beurteilt werden könnte. Beliebig ist dessen Wahl aber nicht, hängt doch der Ertrag einer wissenschaftlichen Veröffentlichung u. a. davon ab, wie sie den Diskussionszusammenhang, in dem sie notwendigerweise steht, aufgreift und fortschreibt. Nicht nur in Bezug auf den Gegenstand, das Werk Ludwig Winders, sondern auch mit Blick auf das Schreiben über diesen ist also die Bestimmung des Verhältnisses von (hier: wissenschaftlichem) Text und Kontext von besonderem Interesse.

 

Im Fokus der Studie sollen „sämtliche Romane“ (S. 33) Ludwig Winders stehen (bewusst ausgespart werden allerdings Hugo und teilweise auch Der Thronfolger). Damit grenzt sich Puech von der bisherigen Forschung ab. Diese postuliere anknüpfend an Krolops Periodisierung von Winders Schaffen zwar eine „Kohärenz des Gesamtwerks“ (S. 35), d. h. eine Kontinuität über (vermeintliche) biographische, historische oder ästhetische Zäsuren hinweg, sie könne diese aber aufgrund einer selektiven Zusammenstellung des jeweiligen Textkorpus oder aufgrund einer Fokussierung auf bestimmte Aspekte nicht „ausreichend“ beleuchten. Indem Puech das Textkorpus ausweitet, soll „einseitigen und fälschlichen Interpretationen“ (S. 34) vorgebeugt und die werkgeschichtliche „Kontinuität überprüft und offengelegt werden, auf welchen Kriterien sie sich gründet.“ (S. 35)

 

Die Beobachtungen, mittels derer die Verfasserin diese Kontinuität aufzuzeigen versucht, werden in drei großen Kapiteln dargestellt. Die ersten beiden Kapitel verbinden zunächst narratologische und figurenpsychologische Aspekte. In umfangreichen Analysen der vor 1933 entstandenen Romane versucht Puech nachzuweisen, inwiefern in diesen Texten einem „Urerlebnis“ (S. 37) in der Kindheit der Figuren eine erzählökonomische Funktion zukommt (sie setzten „die Handlung in Gang“ [S. 37)]). Diese Urerlebnisse motivierten das Handeln der Figuren im Sinne einer Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen, politischen etc. Umwelt und fungierten darüber hinaus als „symbolische Weltdarstellung im Dienst des Anliegens, das der Autor mit seinem Roman verfolgt.“ (S. 37) Auf die erzählökonomische Dimension der Kindheitsdarstellungen hat im Übrigen bereits Krolop hingewiesen (Nachwort in: Der Thronfolger, Berlin: Rütten & Loening, 1984, S. 615), was Puech an entsprechender Stelle allerdings nicht thematisiert. In einem zweiten Schritt analysiert Puech die Pläne der Protagonisten, die diese als Reaktion auf ihr jeweiliges Urerlebnis auf ihrem weiteren Lebensweg verfolgen. In dem Zusammenhang führt sie den von Alfred Adler geprägten Begriff des „Lebensplans“ ein. Zwischen diesem und dem „Schema Winders“ existiere insofern eine „Analogie“ (S. 68), als in beiden Fällen ein individualpsychologischer Finalismus leitend sei. Unbestimmt bleibt hier freilich, in welchem Verhältnis die wirkungsgeschichtliche Vermutung und die erzählanalytische Anwendung des Begriffs stehen. Im dritten Großkapitel konzentriert sich Puech v. a. auf die nach 1933 erschienenen Romane und hält in Bezug auf diese fest, dass Urerlebnis und Lebensplan hier keine Rolle mehr spielten. Die Protagonisten müssten den am Entwicklungsroman orientierten, z. T. scheiternden Lernprozess der Figuren aus den Romanen bis 1933 nicht durchlaufen. Sie seien oder würden „autonom, urteilen und handeln verantwortlich, besitzen ein moralisches Gewissen und tragen zum Aufbau einer brüderlichen Gesellschaft bei“ (S. 269). Sie können letztlich als Verkörperungen einer „Ethik des Handelns und der Pflicht“ (S. 37), eines humanistischen und universalistischen Credos, begriffen werden, welches gegen jede Form von Totalitarismus und Dogmatismus gerichtet sei.

 

Was das zentrale Anliegen der Studie – den Nachweis einer Kohärenz des Winder’schen Werkes – betrifft, ergeben die Argumente Puechs kein Gesamtbild. Zunächst einmal ist nicht nachvollziehbar, warum Puech ihre werkgeschichtlichen Befunde dadurch schwächt, dass sie den 1937 erschienenen Roman Der Thronfolger aus inhaltlich-systematischen Gründen gemeinsam mit den vor 1933 erschienenen Roman analysiert (S. 34). Abgesehen davon wird v. a. nicht klar, inwiefern genau die vor und die nach 1933 bzw. im Exil entstandenen Werke eine werkgeschichtliche Einheit bilden. Dies mag u. a. darin begründet liegen, dass Puech am Ende des dritten Großkapitels darauf verzichtet, die Ergebnisse ihrer Romananalysen in einem Zwischenfazit zusammenzuführen, wie sie dies in Kapitel I und II jeweils tut. Stattdessen schließt an Kapitel III gleich das Gesamtfazit an. Dieses wird mit dem Befund eröffnet, dass die Analyse „sowohl thematische als auch strukturelle Kontinuitäten“ aufzeigen konnte. Es sei deutlich geworden, dass die „Exilerfahrung keine Zäsur darstellt“ (S. 325). Doch wie verhält sich diese Negation einer werkgeschichtlichen Zäsur zur einleitenden Feststellung, im Verzicht auf die Darstellung von Urerlebnis und Lebensplan in den Werken nach 1933 manifestiere sich ein neuer „Abschnitt in der Evolution des Gesamtwerks“ (S. 37)? Worin konkret der über die bisherige Forschung hinausgehende Beitrag zur Periodisierung des Winder’schen Werkes bestehen soll, bleibt sowohl auf der Ebene der analytischen Befunde als auch auf der Ebene der in Anschlag gebrachten Konzepte (Zäsur, Abschnitt, Evolution, Kontinuität, Kohärenz) unklar. Das Versprechen einer innovativen Periodisierung wird wiederholt und variiert, eingelöst wird es nicht. Die detaillierten Interpretationen der einzelnen Werke weisen so letztlich zahlreiche „lose Enden“ auf, die zu keinem abschließenden Gesamtbild verknüpft werden.

 

Für ein solches Gesamtbild fehlt der Studie letztlich auch der entsprechende heuristische Rahmen. So stellt sich die Frage, für welche übergreifenden wissenschaftlichen Fragestellungen die These über die Kontinuität des Winder’schen Werks Aussagekraft besitzt. In Krolops Dissertation etwa ist die Frage nach der Periodisierung eng verknüpft mit einer – wenn auch eher andeutungsweise formulierten – Bezugnahme auf den breiteren literaturgeschichtlichen Kontext (der Prager deutschen Literatur). Werkbiographische Abschnitte und (literar-)historische Rahmenbedingungen werden hier in ein Wechselverhältnis gesetzt (vgl. bei Krolop S. 199–202). Bei Puech hingegen scheint sich der Ertrag der (Neu-)Periodisierung des Werks im Selbstzweckhaften zu erschöpfen. Bereits die Überschrift des für die Buchveröffentlichung eigens erarbeiteten Kapitels zum „Forschungsstand“ ist missverständlich, werden hier doch nicht nur wissenschaftliche Werke erörtert, sondern auch die Neuauflagen von Winders Werken thematisiert. Auch stellt das Kapitel weniger eine auf die Fragestellung der Arbeit fokussierte Auseinandersetzung mit der Forschung dar, sondern vielmehr eine Dokumentation der wissenschaftlichen und breiteren öffentlichen Aufmerksamkeit, die das Winder’sche Werk seit 1945 erfahren (oder auch nicht erfahren) hat. Die Autorin bezieht dabei auch abseitige Informationen zu Lehrveranstaltungen, Tagungen (auch zu einer Tagung, auf der „kein“ Vortrag zu Winder vertreten war [S. 32]) und Vorträgen (nebst Raumangabe [S. 31, Anm. 106]) in ihre Ausführungen mit ein. Es geht hier offenbar primär darum, die „Wiederentdeckung“ Winders nachzuzeichnen, wobei die genauen Konjunkturen des Interesses unklar bleiben (die gesamte Winderrezeption seit den 1960er-Jahren erscheint letztlich als eine Phase der „Wiederentdeckung“, S. 19) und zum Teil mit fragwürdigen Argumenten belegt werden sollen (so habe u. a. eine 2009 eingereichte Diplomarbeit einen Beitrag zur „Wiederentdeckung“ [S. 28] Winders geleistet). Bezeichnenderweise spielt die Darstellung des „Forschungsstands“ im abschließenden Fazit Puechs keine Rolle.

 

Puech selbst tritt als Anwältin des literarischen Erbes Ludwig Winders auf, etwa wenn sie festhält, dass das Ziel ihrer Studie u. a. sei, „der noch weitgehend verkannten Stimme Ludwig Winders ein anderes, ein neues Gehör [zu] schenken [sic!]“ und ihr „die Anerkennung zu verschaffen, die ihr gebührt“ (S. 14). Die Verfasserin formuliert dies vor dem Hintergrund zweier für die Winder-Rezeption prägenden Aspekte: Max Brods Bezeichnung des Autors als „Kafkas Nachfolger im Prager Kreis“ sowie Winders Zuordnung zur deutschsprachigen Exilliteratur unter weitestgehender Vernachlässigung seiner Werke vor 1939. Puech ist beizupflichten: Beide Zuschreibungen verstellen den Blick auf die Gesamtheit des Winder’schen Werkes eher, als dass sie ihn schärfen helfen. Aber statt Werturteile über Winders Werk zu formulieren, hätte Puech ihre Frage nach der Kontinuität innerhalb des Werkes zielgenauer auf die literaturgeschichtlichen Kontexte von Winders Schaffen beziehen können und so zur Frage nach möglichen Kontinuitäten der deutschsprachigen Literatur der böhmischen Länder/Tschechoslowakei über die politischen Zäsuren der 1930er- und 1940er-Jahre hinweg einen Beitrag leisten können. Umso erstaunlicher ist, dass Puech sowohl in Kapitel III als auch im Gesamtfazit ihre Befunde zu Winders Pflichtbegriff unvermittelt mit einem gänzlich neuen literaturgeschichtlichen Kontext in Bezug setzt: Sie vergleicht ihn mit dem Konzept der Pflicht im Werk Siegfried Lenz’ (S. 269, 287, 327). Die Funktion sowie Begründung dieses Vergleichs stehen in keinem Verhältnis zu den in der Einleitung genannten Fragehorizonten und erschließen sich letztlich nicht, steht doch Lenz’ Werk in einem gänzlich anderen generationellen und literaturhistorischen Zusammenhang. So fraglich der Mehrwert des Vergleichs ist, so fragwürdig erscheint übrigens auch die in dem Zusammenhang in gänzlich unkritischer Weise referierte Forschungsliteratur, die das Thema „Pflicht“ mit stark essentialistischer Tendenz, d. h. bezogen auf postulierte deutsche Eigenarten, behandelt (Claus Nordbruch: Über die Pflicht. Eine Analyse des Werkes von Siegfried Lenz. Versuch über ein deutsches Phänomen, Hildesheim/Zürich/New York: Olms – Weidmann, 1996).

 

Anknüpfend an den vorangegangenen Absatz der Versuch eines Fazits: Der in der Winder-Rezeption geradezu topische Rekurs auf den Status als vergessener Autor oder Autor in Kafkas Schatten ist selten eine einfache Feststellung, sondern impliziert (zumindest im Fall von Puechs Studie) den Standpunkt, dass dieser Status zu ändern sei. Eine wissenschaftliche Arbeit kann sich in den Dienst entsprechender Bemühungen stellen, sieht sich dann aber auch mit der besonderen Notwendigkeit konfrontiert, die eigenen Wertmaßstäbe und die eigene Positionalität zu reflektieren, zu begründen und daraus weiterführende Fragestellungen (mit) zu generieren. Die Komplexität dieses Zusammenhangs mag darauf hinweisen, dass die Verknüpfung erinnerungspolitischer Anliegen und literaturwissenschaftlicher Fragestellungen Forschende in einen stärkeren Begründungszwang führen können, als dies auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Vielleicht wäre es (nicht nur in Bezug auf Winder) in literaturwissenschaftlicher Hinsicht manchmal ertragreicher, bei der Formulierung von Erkenntniszielen (zunächst) das kulturelle Vergessen zu vergessen und auf die Erinnerungsleistung des Forschens selbst zu vertrauen.

 

 

Chantal Puech: Ludwig Winder – das Prosawerk. Wege aus der Unmündigkeit – eine Ethik des Handelns und der Pflicht. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019, 360 S.


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