Es schreibt: Reto Caluori

(24. 3. 2021)

Unter den Künstlerinnen und Künstlern, die in den Dreißigerjahren in der Schweiz Zuflucht vor der nationalsozialistischen Verfolgung suchten, befanden sich viele, welche die schweizerische Theaterszene in den Jahren ihres Exils belebten und prägten. Für die meisten blieb die Schweiz jedoch eine Zwischenstation. Nur wenige fanden hier eine neue, zweite Heimat wie der heute weitgehend vergessene Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller Peter Lotar, der zum „Schweizer Schriftsteller tschechoslowakischer Herkunft“ wurde, wie er sich später selbst bezeichnete (Neue Zürcher Zeitung, 28. 10. 1968, zitiert nach: Michaela Kuklová: Peter Lotar (1910–1986). Kulturelle Praxis und autobiographisches Schreiben. Böhlau, 2019, S. 172).

 

Peter Lotar war freilich ein Künstlername, eine gewählte Identität, denn geboren wurde er 1910 als Lothar Chitz in Prag, wo er als zweisprachiges Kind eines österreichisch-jüdischen Vaters und einer tschechischen Mutter aufwuchs. Die Kultur- und Translationswissenschaftlerin Dr. Michaela Kuklová hat mit Peter Lotar (1910–1986). Kulturelle Praxis und autobiographisches Schreiben eine überarbeitete Fassung ihrer Dissertation vorgelegt, in der sie Lotars Lebensweg, sein literarisches Schreiben und seine kulturelle Vermittlungstätigkeit umfassend darstellt und eingehend analysiert.

 

Lotars Nachlass befindet sich heute im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern, wo er von der Autorin geordnet und ausgewertet wurde. Entsprechend erweist sie sich als intime Kennerin von Lotars Vita und seiner kulturellen Tätigkeit. Der Gemeinplatz von Leben und Werk würde dieser Monographie aber bei Weitem nicht gerecht werden, setzt sie doch – theoretisch gut abgestützt – die beiden Bereiche in eine äußerst fruchtbare und aufschlussreiche Beziehung.

 

Als Ausgangspunkt für die Untersuchung von Lotars Texten eröffnet eine Biografie den Band, in der die Autorin seinen Lebensweg erstmals detailliert nachzeichnet. Aufgewachsen in Prag, besuchte Lotar die Schauspielschule des Deutschen Theaters in Berlin, die er 1930 mit dem Diplom abschloss. Anschließend spielte er einige Saisons an Theatern in Breslau/Wrocław, Mährisch-Ostrau/Ostrava und Reichenberg/Liberec, bevor er 1933 ein mehrjähriges Engagement an den Städtischen Bühnen in Prag antrat und auch am Nationaltheater gastierte. Gleichzeitig begann er sich in den Dreißigerjahren für den deutsch-tschechischen Kulturaustausch einzusetzen – eine Aktivität, die sich zum politischen und antifaschistischen Engagement entwickelte und darin mündete, dass er im Mai 1939 in die Schweiz flüchten musste.

 

Lothar hatte Glück, erlangte eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung und erhielt 1939 ein festes Engagement am Städtebundtheater Biel-Solothurn, einem kleinen Stadttheater in der Schweizer Provinz. Dort wirkte er bis Kriegsende als Schauspieler und Regisseur, wobei er auch seine ersten eigenen Bühnenwerke inszenierte. Eine Reise in die Tschechoslowakei 1945 erwies sich als Enttäuschung: Unter dem Eindruck der politischen Entwicklung entschied er sich, in die Schweiz zurückzukehren. Er begann 1946 in Basel als Dramaturg im Bühnenverlag Reiss zu arbeiten und trug dort zur Entdeckung und Förderung des jungen Friedrich Dürrenmatt bei.

 

Ab den Fünfzigerjahren arbeitete Lotar – inzwischen verheiratet und Schweizer Staatsbürger geworden – über dreißig Jahre als erfolgreicher Hörspielautor, verfasste aber auch Theaterstücke, Fernsehspiele und zwei autobiografische Romane. Die Existenz als freier Schriftsteller schien ihm die beste Voraussetzung zu bieten für ein sinn- und wahrheitssuchendes Engagement, mit dem er „explizit eine gesellschaftliche Wirkung seines Werks anstrebte“ (S. 18), so Kuklová. Ein Engagement, das von der Erfahrung des Exils sowie der Kriegs- und der Nachkriegszeit motiviert war, das sich auf christlich-humanistische Werte stützte und das sich in einer vermittelnden Tätigkeit zwischen verschiedenen Identitäten, Traditionen und Kulturen äußerte.

 

Auf die Multikulturalität der Tschechoslowakei verweisend, erinnert Kuklová gleichzeitig daran, dass das Erleben von nationaler und kultureller Vielfalt lange vor der Emigration zu Lotars Leben gehörte. Die Erfahrung des Exils schildert die Autorin insofern auch nicht als biografischen oder künstlerischen Bruch, sondern als Ausgangspunkt eines forcierten Akkulturationsprozesses, in dem die Erinnerungs- und Vermittlungsarbeit zum zentralen, weil identitätsstiftenden Thema wird. Kuklová zeichnet sorgfältig nach, welche literarische Kraft die Auseinandersetzung mit den eigenen prägenden Erfahrungen freizusetzen vermag und wie es Lotar gelungen ist, sie ästhetisch produktiv werden zu lassen.

 

Für die Untersuchung von Lotars Texten bringt Kuklová neuere literaturwissenschaftliche Gedächtniskonzepte zur Anwendung, insbesondere von Astrid Erll und Ansgar Nünning, die sich wiederum auf das mimetische Modell von Paul Ricœur stützen. Ausgehend davon, dass Erinnerung sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene für die Ausprägung von Identität grundlegend ist, richtet dieser Ansatz die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Beziehungen, die Erinnerung und Identität eingehen können.

 

Im Hinblick auf literarische Texte lassen sich drei Spielarten unterscheiden: Wie beziehen sich Texte auf eine Realität, die sich nicht aus der literarischen Erzählung erschließt? Wie wird innerhalb von Texten das Verhältnis von Erinnerung und Identität ausgestaltet? Und schließlich: Wie wirken Texte auf die Welt und die Wirklichkeit zurück, d. h., wie tragen sie zur individuellen und kollektiven Identitätsbildung bei? Diese Fragestellungen legt Kuklová in der Folge an Lotars Texte aus verschiedenen literarischen Gattungen an.

 

Die Gattung, in der Erinnerungsarbeit und Identitätsbildung naturgemäß die größte Rolle spielen, ist die Autobiographie. Lotar veröffentlichte mit Eine Krähe war mit mir (1978) sowie Das Land, das ich dir zeige (1985) gleich zwei autobiografische Romane, von denen bezeichnenderweise der erste mit der Flucht aus Prag endet und der zweite mit der Ankunft in der neuen Heimat beginnt. Im Wissen um die Unzuverlässigkeit bzw. die Konstruiertheit der eigenen Erinnerung entband die Romanform Lotar vom Zwang zur Faktizität und verlieh ihm die Freiheit zu einer modellhaften, exemplarischen Darstellung, die seinem Anspruch auf gesellschaftspolitische Wirkung von Literatur entsprach.

 

Wie und wo sich nationale, politische und religiöse Identität herausbildet, legt die Autorin in einer minuziösen Analyse überzeugend dar. So lässt sich Identitätskonstruktion zum einen auf formaler Ebene nachvollziehen, denn beide autobiografischen Romane haben zwar dieselbe Hauptfigur, unterscheiden sich jedoch in den Mitteln der Gestaltung: Steht im ersten ein Er-Erzähler noch außerhalb der Handlung, ist der zweite in der Ich-Form geschrieben. Während sich die personale Identität im ersten Band vor den Augen des Lesers herausbildet, ist sie im zweiten als Resultat einer zurückliegenden Erfahrung bereits vorhanden.

 

Zum anderen identifiziert Kuklová in Lotars autobiografischen Romanen das Theater als den zentralen Raum, in dem nationale, politische und religiöse Identitäten verhandelt und neu formiert werden, und zwar sowohl auf persönlicher wie auch auf kollektiver Ebene. Die Autorin zeichnet nach, dass Lotar dem Theater dabei ganz unterschiedliche Funktionen zuschreibt: sei es als ein Ort, der sprachlich-ethnisch heterogene Gruppen zusammenführt; als Plattform, auf der gesellschaftliche Fragen öffentlich verhandelt werden und als Bühne, auf der sich durch die Arbeit an Rollen die Identitäten von Schauspielern und Figuren durchdringen.

 

Das Exemplarische eines menschlichen Schicksals zu zeigen und die Konsequenzen menschlichen Handelns sichtbar werden zu lassen, sind genuine Merkmale der dramatischen Form. So erstaunt es nicht, dass Lotar in seinen Hörspielen und Theaterstücken häufig auf zeitgenössische Themen Bezug nahm, etwa in Das Bild des Menschen (1952), einem seiner erfolgreichsten Werke, in dem er sich mit dem deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus auseinandersetzte. Mit Mitteln der literarischen Montage lässt Lotar darin verschiedene Figuren aufeinandertreffen, die im Angesicht des Todes ihre Überzeugungen und ihr Handeln reflektieren und sich ihrem Gewissen stellen. Dieser „multiperspektivische Erinnerungsprozess“(S. 172), so Kuklová, verband die Aufarbeitung des Geschehens mit einer ethischen Botschaft, die auf die öffentliche Wahrnehmung des deutschen Widerstandes in den Fünfzigerjahren einwirken sollte.

 

Den Hauptteil von Lotars Werk bilden rund drei Dutzend Hörspiele, die ab den frühen Fünfzigerjahren entstanden sind. Die neuartige, populäre Kunstform versprach ihm nicht nur ein Einkommen, sondern er konnte dadurch auch ein erheblich größeres (und jüngeres) Publikum als im Theater erreichen, was seinem aufklärerischen Impetus entsprach. In den Hörspielen konzentrierte sich Lotar „auf die Vermittlung von Lebenskonzepten aus christlicher Perspektive“ (S. 139). Er bearbeitete die Lebenswege von Schriftstellern, Philosophen und Wissenschaftlern – genannt seien Albert Schweitzer und Tomáš Masaryk –, deren geistige Werte und persönliches Handeln ihm vorbildhaft erschienen und mit denen er sich dem vermeintlichen Werteverlust einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft entgegenstellte. Kuklová weist insbesondere auf die ästhetische Methode und die damit verbundene Funktion hin: So montierte Lotar die Hörspiele aus Zitaten und Zeugnissen der historischen Figuren, die aus verschiedenen biografischen, autobiografischen und literarischen Quellen stammten. Für Kuklová folgt dieses Vorgehen Lotars Intention: Indem die historischen Personen ihre Erinnerungen und Äußerungen erneut verbalisieren, komme es zu anschaulichen Prozessen der De- und Rekonstruktion ihres Lebenswegs und ihres Handelns. Dieses Prozesshafte führe dazu, dass die Rezipienten nicht einfach eine etablierte und erstarrte Deutung vorgesetzt bekommen, sondern dass sie in einem das Modellhafte der Biografierten selbst erkennen können.

 

Abschließend lenkt Kuklová den Blick auf Lotars Tätigkeit, mit der er sich zeitlebens für den Kulturtransfer zwischen dem deutschen und dem tschechischen Sprachraum einsetzte. Als Beispiel führt sie Lotars Bemühungen an, das Theater zu einem Raum des transnationalen Austauschs zu machen – etwa durch die Aufnahme tschechischer Dramen in den Spielplan am Städtebundtheater Biel-Solothurn, aber auch durch die Versuche, schweizerische Autoren in der Tschechoslowakei bekannt zu machen. Zudem verweist sie auf Lotars journalistische Beiträge sowie seine Übersetzungen tschechischer Lyriker.

 

Das Zusammenspiel von Erinnerung und Identität erweist sich als ein Deutungsmuster, das Lotars Leben und sein Werk kohärent und schlüssig zu analysieren vermag. Kuklová zeichnet in ihrer klar strukturierten Monographie überzeugend nach, wie sich die Bildung individueller und kollektiver Identität mittels einer literarischen Rekonstruktion von Vergangenem als Konstante durch seine Romane, Dramen und Hörspiele zieht und einer spezifischen Wahrheit dient: Der Vermittlung humanistischer Werte und demokratischer Werthaltungen.

 

 

Michaela Kuklová: Peter Lotar (1910–1986). Kulturelle Praxis und autobiographisches Schreiben. Köln: Böhlau Verlag, 2019, 228 S.


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