Es schreibt: Vlasta Reittererová

(10. 2. 2021)

Im Laufe des 19. Jahrhunderts profilierten sich Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft, Literaturwissenschaft und andere Geisteswissenschaften als eigenständige Disziplinen. Damit ging ihre weitere Differenzierung und Spezialisierung Hand in Hand, zugleich wurde allerdings auch das Wahrnehmen der gemeinsamen Bezüge und Kontexte schwächer und eine enge, einseitige Sichtweise nahm überhand. Im Falle der Oper und des Musiktheaters lässt sich das bis heute an unterschiedlichen Herangehensweisen der Musik- und Theaterwissenschaftler verfolgen, die sich mit der Geschichte sowie mit der Musik- oder Theaterkritik beschäftigen. Was das Verhältnis von Musik und Literatur im breiteren, oder der Musik und des Dramas im engeren Sinne anbelangt, ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit unentbehrlich, manche Disziplinen fingen zum Glück daher wiederum an, einander zu begegnen und sich auszutauschen.

 

Die Germanistin, Historikerin und Theaterwissenschaftlerin Amanda Baghdassarians beschäftigt sich in ihrer Doktorarbeit Franz Werfels andere Moderne mit dem aus Prag stammenden Autor Franz Werfel, konkreter mit dessen Roman Verdi. Roman der Oper (1. Ausgabe 1924). Werfels Buch ist keine Autobiographie, es demonstriert die antagonistischen Beziehungen im kulturellen Denken der Zeit, zu deren Projektion die Personen von Giuseppe Verdi und Richard Wagner dienen. Mithilfe der Romananalyse kontextualisiert die Autorin die ästhetische Wahrnehmung der 1920er Jahre und deren Paradigmen, die für die Disziplinen der Musikästhetik, Musiksoziologie und teilweise auch der Musikpsychologie kennzeichnend waren. Die Verwandlung der musikalischen Sprache, die in der Aufgabe der Tonalität und der traditionellen Formen bestand, thematisiert sie nur am Rande; um die Konturen von Persönlichkeiten zu umreißen, die bei allen Widersprüchen manches gemeinsam hatten, muss man sich nicht unbedingt in musiktheoretischen und kompositionstechnischen Problematiken vertiefen. Verdis und Wagners Bestreben verband im Endeffekt der gleiche Nenner, das Ziel, eine ausbalancierte musikalisch-dramatische Form zu schaffen, deren Komponenten einander nicht beeinträchtigten, sondern gegenseitig unterstützten.

 

Am Anfang ihrer Arbeit stellt die Autorin das Konzept des deutschen Musikkritikers (und auch Dirigenten und Theaterintendanten) Paul Bekker (1882–1937) vor, der als Begründer der Musiksoziologie sowie Befürworter der „neuen Musik“ gilt, der er in seiner Schrift aus dem Jahr 1919 ihren Namen verlieh und die er der formalistischen Musikästhetik Eduard Hanslicks gegenüberstellte. Der zweite Teil behandelt die entscheidenden Aspekte der Einstellungen zur Oper (zum Musiktheater), die für die Nachwagnergeneration typisch waren, als Ferruccio Busonis Schrift Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst (1907, resp. 1916) und Hans Pfitzners Broschüre Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz (1920) den Diskurs aufwühlten. Busoni, ein Italiener väterlicherseits, deutschstämmig mütterlicherseits – breitbeinig zwischen zwei Kulturen stehend – forderte, dass das Theater seine Verspieltheit wiedergewinne, er lehnte Wagners Illusionsbühne und Psychologisierung ab. Nichts ist allerdings eindeutig, es sei angemerkt, dass Busoni die Parsifal-Partitur im Jahre 1913 (am Ende dieses Jahres lief die Schutzfrist für die alleinige Aufführung der Oper in Bayreuth aus) als „meisterhaftschön“ bezeichnete und hinzufügte, dass „keine Gesetze, für, noch wider, an ihren horizontalen und vertikalen Linien, etwas ändern können“. Busoni wollte diese juristische Maßnahme nicht nachvollziehen, „man gebe dem lebenden genialen Manne Geld, damit er schaffen könne, aber nicht Zinsen seinen Erben“ (Vossische Zeitung, 6. 1. 1913).

 

Hier eröffnet sich ein breiterer Kontext als derjenige, mit dem die Autorin arbeitet, er hängt mit dem Teil von Werfels Leben zusammen, den er in der kulturellen Atmosphäre des damaligen Prag verbrachte. Werfels Prager Freund Max Brod erwähnt in seiner Autobiographie Streitbares Leben die Ungereimtheiten zwischen ihm und Werfel bezüglich Wagner. Werfels Ablehnung von Wagner führte er auf die mangelhafte musikalische Bildung seines Freundes zurück, der für komplizierte Musikstrukturen keinen Sinn gehabt habe und deswegen ein kritikloser Bewunderer Verdis gewesen sei. Die Anfänge von Werfels Bewunderung für diesen Komponisten lassen sich bekanntlich auf die Gastauftritte Enrico Carusos im Neuen deutschen Theater Prag 1904 in Verbindung setzen, wo der vierzehnjährige Werfel ihn als Herzog in Rigoletto gehört hatte. Ernst Krenek erinnerte sich wiederum, Werfel und Alma Mahler „gingen stundenlang die Klavierauszüge von Verdis Opern durch, wobei Werfel in recht angenehmer Weise alle Vokalpartien sang“ (Ernst Krenek: Im Atem der Zeit. Hamburg, 1998, S. 358). Die Verdi-Wagner-Polarität ist Gegenstand mancher Publikationen. In einer der jüngsten Arbeit zu diesem Thema, einer Doppelmonographie, steht, Werfels fiktive Biographie „ist nicht gegen Wagner gerichtet [...], sondern gegen seine eigenen Zeitgenossen, die frei vom 19. Jahrhundert nach neuer Musik suchten im Zeitstück, in der neuen Sachlichkeit, als Gebrauchsmusik oder in atonalen Konstruktionen, was alles Werfel verabscheute“ (Eberhard Straub: Wagner und Verdi. Zwei Europäer im 19. Jahrhundert. Stuttgart, 2012).

 

Amanda Baghdassarians verbindet Werfels antiwagnerianische Einstellung mit seiner Begeisterung für Verdis und Busonis Auffassungen des Musiktheaters. Sie widmet sich Werfels dramaturgischen Eingriffen in Verdis Opern, vor allem bei Don Carlos (aufgeführt am 15. 5. 1932 in der Wiener Hofoper). Hier wurde von der Autorin ein spannendes Thema aufgegriffen, das mit dem häufig diskutierten sog. „Regietheater“ und mit dem Recht auf Aktualisierung historischer Theatertexte im Allgemeinen zusammenhängt, deshalb erlaube ich mir eine eigene Überlegung anzufügen. Die Verdi-Renaissance, an der Werfel einen grundlegenden Verdienst hatte, fing bereits mit seiner Bearbeitung von Die Macht des Schicksals an, aufgeführt am 20. 3. 1926 in Dresden und kurz danach am 27. 11. 1926 in Wien (am 12. 12. desselben Jahres auch im Neuen deutschen Theater in Prag). Werfel, selber Dramatiker, betrachtete die Operntexte aus der Perspektive des Dramas, und es stellt sich somit die Frage, ob man im Falle seiner Revisionen von Opernlibretti überhaupt von einer Bearbeitung, bzw. Adaptierung sprechen kann. Obwohl Werfel selbst den Begriff „Bearbeitung“ verwendet, äußert er sich im Artikel, der im Zusammenhang mit der Aufführung von Die Macht des Schicksals in Wien (Die Bühne, 11. 11. 1926) publiziert wurde, zu kritischen Stimmen, die nach der Aufführung in Dresden verlauteten, dass „meine Bearbeitungen dem Original [...] zu getreulich folgen“. Er weist auf die Vertragsbedingungen mit dem Verlag Ricordi hin, die „dramaturgische Veränderungen von irgendwelcher Bedeutung, neue Motivierungen, Streichungen, Hinzufügungen und dergleichen“ verböten. Im Weiteren spricht Werfel dann von „Retuschen“. Einen größeren Eingriff erlaubte er sich bei den Volksszenen, in denen er den von Verdi geprägten Freiheitsgedanken (anstatt von „Lobpreisungen des Krieges“) in den Vordergrund stellte – die Pointierung der Schlussszenen in diesem Sinne veränderte logischerweise dann auch die Wirkung des Werkes. Werfels Bearbeitung von Die Macht des Schicksals hat v. a. einen poetischen Charakter, sie hat es zum Ziel, „aus einem Durchschnittsoperntext, den der alte, seiner Zeit bewährte Übersetzer J. C. Grünbaum in deutsche Reime übertragen hat, so gut wie es die Vorlage gestattete, Verse zu machen“ (die Übersetzung von Johann Christoph Grünbaum entstand 1863, erstaufgeführt 1878 in Berlin; V. R.). Die Autorin stellt sich nicht die Frage, inwiefern und ob überhaupt Werfel mit dem italienischen Original arbeitete (fähig war zu arbeiten), dabei ist es bekannt, dass es bei einer Überführung zu gravierenden Sinnverschiebungen kommt, wenn der übersetzte Text an die Musik angepasst werden muss.

 

Bei der Arbeit an Don Carlos genossen der Bearbeiter Werfel und der Regisseur Lothar Wallerstein deutlich mehr Freiheit. Von dieser Oper gibt es von Verdi selbst mehrere Versionen, und die Operndramaturgen und Regisseure nutzten sie bis heute kreativ für ihre Zwecke. Trotzdem ging es jedoch auch hierbei um eine sehr heikle Arbeit, an der – wie Werfel anmerkt – der Regisseur Wallerstein einen größeren Anteil hatte (Beilage zu Neue Freie Presse, 8. 5. 1932). Beiden war klar, die Musik müsse unberührt bleiben und „ein gewissenhafter Opernbearbeiter gleich[e] einem guten Bilderrestaurator“. Um weitere Ablenkungen in ihrem Buch zu vermeiden und sich ans Gesamtkonzept ihrer Publikation zu halten, verzichtete die Autorin auf Erwähnung der damaligen Reaktionen bezüglich der Inszenierung, die für die Rezeptionsgeschichte und die Beurteilung der damaligen ästhetischen Einstellungen jedoch nicht unbedeutend erscheinen – diesen Aspekt entbehre ich im rezensierten Buch allerdings. Nach der Premiere in Wien am 10. 5. 1932 (das Neue deutsche Theater in Prag führte Wallersteins und Werfels Version am 12. September 1934 auf) schrieb man etwa, Werfel habe mit seiner Textrevision und dramaturgischen Eingriffen Verdis Opern zum neuen Leben geweckt, die „an ihrem Libretto starben“, der vollendete Genuss käme allerdings erst mit der Musik, die ein unfassbarer Reichtum „an Klangsinn und Klanggebilden, fortreißender Dramatik und bezaubernder Zartheit“ darstelle (Illustrierte Kronen-Zeitung, 11. 5. 1932). Dagegen steht eine ausführliche Rezension von Julius Korngold (Neue Freie Presse, 11. 5. 1932), der sich auch Schillers Vorlage als politischem Drama widmete, wobei in der Verbindung mit Musik gezwungenermaßen das Liebesdrama in den Vordergrund habe rücken müssen. Er schätzt, dass Werfel und Wallerstein die Qualität der deutschen Übersetzung gehoben hätten, sie hätten jedoch in die Handlung sowie in die Musik eingegriffen. Korngold erwähnt jedoch, man fände in Don Carlos nichts „von dem Reichtum, der Mannigfältigkeit, der betörenden Magie, dem seelischen Ausdruck, der psychologischen Treffsicherheit der Ariosi des Othello oder gar jener unfaßbaren Aida-Erfindung anzutreffen. [...] Die Don Carlos-Melodie ist bis auf wenige Ausnahmen kraftloser, blässer, einfallsschwächer. [...]. Eigentümlich sind der Oper getragene kurze Orchestervorspiele und Ritornelle, die wie mit schillerischer Pathetik und Rhetorik geladen sind.“

 

In diesem Teil der Arbeit von Amanda Baghdassarians wird das epische Musiktheater und Werfels Zusammenarbeit mit Kurt Weill und Max Reinhardt am Oratorium Der Weg der Verheißung zum Thema, zu dessen Realisierung (und einem finanziellen Fiasko) es allerdings erst 1937 im Exil in New York unter dem Titel The Eternal Road kam. Weills amerikanische Oper Street Scene von 1946 erwähnt die Autorin beinahe nur beiläufig, im Zusammenhang mit Weills Studium von Werfels Bearbeitungen von Shakespeare-Vorlagen. Sie erwähnt die Autoren des Operntextes (Libretto: Elmar Rice, Liedtexte: Langston Hughes) nicht einmal, denn hiermit täte ein nächstes Problemfeld sich vor ihr auf: Die Oper, in der Jazz-Merkmale integriert sind, hätte Werfels opernästhetischen Vorstellungen – wenn er die Uraufführung erlebt hätte – sicherlich nur wenig entsprochen.

 

Den Hauptteil der Publikation von Amanda Baghdassarians bildet der dritte Teil, hier widmet sie sich konkret der Analyse des Romans Verdi. Roman der Oper von Werfel, seinem Aufbau, den realhistorischen, in fiktive Handlungen integrierten Figuren sowie rein fiktiven Romanfiguren, die den Hintergrund für die Darstellung gesellschaftlicher und ästhetischer Normvorstellungen Verdis – und Werfels Zeit bilden. Es gibt viele literarische Werke, die keine reine (egal, ob wissenschaftlich oder belletristisch konzipierte) Biographie sind und die eine realhistorische Persönlichkeit als Projektionsfläche für die Thematisierung vieler Probleme nutzen. Solche Publikationen haben ihre Bewunderer, sie werden jedoch auch zum Gegenstand nicht objektiver Kritik, die das Phänomen der literarischen Lizenz außer Acht lässt, der die konkrete realhistorische Persönlichkeit zur Darstellung einer Modellsituation dient (z. B. die bekannte, von Puschkin bis zu Formans Film Amadeus andauernde Gegenüberstellung von Mozart und Salieri). Werfels Roman über Verdi diente Thomas Mann bei der Arbeit an Doktor Faustus (erschienen 1947). Beide Romane ziehen die Aufmerksamkeit bereits dadurch auf sich, indem sie zu Hypothesen verführen, wer und zu welchem Grad in Werfels Fischböck (Josef-Matthias Hauer, oder Ernst Krenek – Krenek lehnte die Gleichsetzung mit Fischböck allerdings ab) und in Manns Adrian Leverkühn (Arnold Schönberg) porträtiert sei. Werfel brauchte Fischböck als „Katalysator“, um an ihm das grundlegende Dilemma der Verbindung zwischen Schöpfer und Publikum illustrieren zu können. Die Analyse differierender künstlerischer und menschlicher Einstellungen, die man in diesem Teil des Buches vorfindet, gehört zu den spannendsten Passagen im Buch. Nur am Rande sei hinzugefügt, dass das Thema des Schöpfer-Publikum-Verhältnisses im Bereich der Oper etwa Pfitzners Oper Palestrina, Der ferne Klang von Franz Schreker oder Hindemiths Mathis der Maler aufgreifen.

 

Der abschließende Teil, Werfels Metaphysik der Kunst und der Sprache gewidmet, befasst sich mit den Fragen, die die intellektuelle Welt vor dem Ersten Weltkrieg aufwühlten und zu denen auch Werfel sich äußerte – z. B. zur Krise des Historismus und zur Krise der (übertechnisierten) Wirklichkeit, Kritik des künstlerischen Realismus u. a. Bei der Lektüre wird uns klar, wie aktuell die erwähnten Probleme auch heute noch sind. Die Aussage von George Michael, die als Motto für die ganze Arbeit steht, erweist sich in diesem Sinne als völlig gerechtfertigt; nichts wiederholt sich (I don’t think youth culture will produce people like myself, Madonna and Prince anymore. I don’t think it’s gonna happen again. It’s too fragmented now). Am Schluss widmet sich die Autorin in Bezug auf das zentrale Thema (Antagonismus der sog. Moderne und „Antimoderne“) Werfels literaturtheoretischen Studien und weiteren Roman- und Theaterwerken nur noch selektiv. Im Hinblick auf den Umfang und die Vielfältigkeit des Materials und der Ideen, von denen eine jede ein neues Problemfeld vor uns auftun lässt, ist es aber verständlich. Das Buch ist mit einem ausführlichen bibliographischen Apparat versehen und redaktionell konsequent vorbereitet, nur auf Seite 66 wurde ein Tippfehler im Titel der Schrift von Franz Spemann übersehen (anstatt von Stimmen aus der deutschen Stundenbewegung heißt es freilich Studentenbewegung), anstatt von Berliner Philharmonie soll es Berliner Philharmoniker heißen (S. 24) und die Namen der österreichischen Institutionen, in denen der Kunsthistoriker Alois Riegl tätig ist, wurden nicht korrekt angeführt (S. 60); dies ist allerdings nur eine Tüftelei meinerseits.

 

Es fragt sich, ob das fehlende Namenregister Absicht war: Der Leser wird „gezwungen“, das ganze Buch durchzulesen, er kann sich nicht mit dem Ratschlag des Bibliothekars in Musils Der Mann ohne Eigenschaften zufriedengeben. Und das Buch ist nicht nur lehrreich, sondern als interdisziplinärer Beitrag enorm inspirativ, es ist lesens-, nachdenkens- und aufgreifenswert.

 

Übersetzung: Lukáš Motyčka

 

 

Amanda Baghdassarians: Franz Werfels andere Moderne. Musikästhetische und kunstsoziologische Konzepte in Franz Werfels Roman „Verdi. Roman der Oper“. 2. korrigierte Auflage. Verlag Königshausen & Neumann GmbH: Würzburg, 2019, 277 S.


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