Es schreibt: Václav Šmidrkal

(27. 1. 2021)

Der zwölfte Teil der österreichischen Reihe Die Habsburgermonarchie 1848–1918 ist der letzte eines mehrbändigen historiografischen Werks, das über eine Zeitspanne von fünfundvierzig Jahren erschien. Der erste Teil, der sich mit der Wirtschaftsgeschichte der Habsburgermonarchie beschäftigte, wurde von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften bereits im Jahr 1973 herausgegeben, während der letzte, zwölfte Teil unter dem Titel Bewältigte Vergangenheit? 2018 erschien. Mit diesem Band kommt also nicht nur ein großes Editionsvorhaben langsam zum Abschluss, sondern es wird auch die wichtigste Aufgabe der Kommission für die Geschichte der Habsbugermonarchie erfüllt, die an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften mit der Herausgabe betraut war.

 

Im Einleitungstext beschäftigt sich Helmut Rumpler, einer der Herausgeber der Reihe, mit der Position der Habsburgermonarchie in der internationalen und nationalen Geschichtswissenschaft und verweist auf ein allmählich wachsendes Interesse an diesem Thema im Zusammenhang mit dem zunehmenden zeitlichen Abstand. Während im Kalten Krieg die US-Amerikanischen Universitäten im Zentrum der Forschungen gestanden hatten, erweiterte sich das Interesse später wieder zurück nach Europa. Das derzeitig aufblühende Interesse an der Geschichte der Habsburgermonarchie stellt er in Zusammenhang mit den politischen Veränderungen in Zentral- und Osteuropa nach 1989 und der Erweiterung der Europäischen Union, was für die Forschung neue nationale und internationale Kooperationsmöglichkeiten eröffnete und zugleich die Frage nach der räumlichen Ordnung Zentraleuropas aktualisierte.

 

Der Band ist in drei Hauptteile gegliedert. Der erste richtet den Blick auf den Ersten Weltkrieg und die Interpretationen seiner Bedeutung für den Untergang der Habsburgermonarchie und die neue Weltordnung der Nachkriegszeit. Neben allgemein gehaltenen Beiträgen zur historischen Bedeutung des Ersten Weltkriegs und seiner charakteristischen Merkmale bieten die AutorInnen einen Überblick über die erinnerungskulturellen und historiografischen Arbeiten, die die Ursachen und Gründe für den Untergang der Monarchie und die Bedeutung der „deutschen Frage“ für die Ordnung der internationalen Beziehungen in der Zeit des Ersten Weltkriegs ausloten.

 

Der zweite ist mit neun Beiträgen der umfangreichste Teil des Buches, er widmet sich den Nationalgeschichtsschreibungen der Nachfolgestaaten. Einige der Texte sind chronologische Überblicksdarstellungen der zentralen Entwicklungstendenzen innerhalb der Nationalhistoriografien (etwa der tschechischen oder polnischen), andere befassen sich nur mit einigen konkreten nationalen Motiven (der italienische „verstümmelte Sieg“, die Idee von „Großrumänien“, die misslungene ukrainische Staatsbildung, Ungarns Trianon). Wieder andere beschäftigen sich mit der serbischen Erinnerungskultur zum Attentat auf den Thronfolger Franz Ferdinand von Österreich-Este oder mit der Problematik der Formierung einer österreichischen nationalen Identität in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

 

Der dritte Teil mit dem Titel Das Neue Europa umfasst sechs Beiträge zur Frage der Außenpolitik der Großmächte (Großbritannien, Frankreich) gegenüber Europa in der Zwischenkriegszeit, zum Wandel der internationalen Diplomatie Ende des Ersten Weltkriegs unter dem Einfluss der Zusagen von W. Wilson und W. I. Lenin, zur Situation im Nahen Osten nach dem Zerfall des Osmanischen Reichs, zur russischen Geschichtsschreibung über den Untergang der Habsburgermonarchie und zur Frage des Föderalismus in den Nachfolgestaaten.

 

Dieser kurze thematische Überblick über die einzelnen Teile des Buchs gibt bereits einen Eindruck von ihrer Heterogenität. Auf diese verweist auch der komplizierte Untertitel, der da lautet Die nationale und internationale Historiographie zum Untergang der Habsburgermonarchie als ideelle Grundlage für die Neuordnung Europas. Zur Entschlüsselung der Bedeutung dieser Formulierung hilft leider auch das kurze Vorwort der HerausgeberInnen nicht weiter. Diesem zufolge geht es im Buch nicht um eine Faktografie der Gründe für den Zerfall der Monarchie und das Entstehen der neuen internationalen Ordnung, und eigentlich auch nicht um die Geschichte der historiografischen Verarbeitung dieser Ereignisse. Vielmehr soll es um den „Schlussstrich“ der Nachfolge- und anderer Staaten unter die Entwicklung vor 1918 gehen, und darum, wie sich mit der Zeit der historiografische Umgang mit diesem Schlussstrich veränderte.

 

Ein Teil der Beiträge entstammt einer Konferenz in Wien aus dem Jahr 2014, ein anderer Teil wurde zusätzlich auf Anfrage der HerausgeberInnen geschrieben. Das Buch trägt somit deutliche Züge eines Konferenzbandes, mit all den Vorteilen und Gebrechen des Genres. Ein Vorteil ist die thematische Vielfalt und die Originalität der Herangehensweisen der einzelnen AutorInnen. Die HerausgeberInnen gaben ihnen ganz im Geist eines Sammelbandes hier freie Hand, sodass sie nicht sich nicht in einen vorher festgelegten Rahmen einpassen und ihre Texte an äußere Parameter angleichen mussten. Der Nachteil des Ergebnisses ist die Unausgeglichenheit, in der manche vermutete Themen fehlen, die Anwesenheit von anderen dagegen überrascht. Im Teil über die Nationalgeschichtsschreibungen finden sich zwei Beiträge zur tschechischen Thematik, zur slowakischen dagegen keiner. Noch markanter ist die Abwesenheit der südslawischen Problematik, die nur durch einen einzigen Text zur Erinnerungskultur in Serbien abgedeckt wird. Der anregende Text über die Herausbildung einer österreichischen Nationalidentität wirkt seinerseits etwas einsam. Auch formal ist das Buch heterogen. Manche Texte umfassen mehr als 45 Druckseiten, andere kommen mit bloß neun Seiten aus. Auch ist das Buch in zwei Sprachen geschrieben: Ungefähr zwei Drittel der Beiträge sind auf Deutsch, ein Drittel auf Englisch. Zwar mag das wissenschaftliche Publikum, das sich mit der Geschichte der Habsburgermonarchie beschäftigt, diese beiden Sprachen wahrscheinlich beherrschen, dennoch nimmt dieser sprachliche Dualismus eher Rücksicht auf die Bedürfnisse der AutorInnen und HerausgeberInnen als auf die Leserschaft. Auch wenn einige Beiträge einen zusammenfassenden, lehrbuchähnlichen Charakter haben und es dabei nicht das Ziel ist, neue Ergebnisse grundlegender Forschungen zu präsentieren, kann man das Buch als ganzes dennoch nicht als Handbuch bezeichnen. Hierfür fehlt ihm die notwendige Sorgfalt bei der Konzeptualisierung, und die HerausgeberInnen arbeiteten mit den AutorInnen und ihren Texten nicht dergestalt, dass ein insgesamt kohärentes Werk daraus würde, weder bezüglich der Abdeckung und Bearbeitung der Themen, noch bezüglich formaler Merkmale wie der Länge der Texte und ihrer Struktur.

 

Außerdem bleibt die Frage offen, inwiefern es produktiv ist, den Band grundlegend nach nationalen und internationalen Perspektiven zu sortieren und so die Nation, beziehungsweise den Staat, als Hauptkategorie zu wählen, mit der man sich Gegenstand und Problematik anschaut. Mehrere nationale Blickwinkel in einem Band zu versammeln ist zwar verdienstvoll, aber mit Blick auf aktuelle Trends der Transnationalisierung der historischen Forschung und auf die Debatten rund um die Kategorie der „Nation“ nicht gerade innovativ. Studien, die sich nicht an den rein nationalen Rahmen halten, wie etwa der Text zum Erbe des Föderalismus in den Nachfolgestaaten, sind nur wenige vertreten, sie wirken jedoch erfrischend und legen nahe, dass der Band auch ganz anders hätte angelegt werden können.

 

Auch wenn der Geist der „alten Schule“ durch dieses Buch weht, halte ich es für eine wertvolle Veröffentlichung, da sie aktuelle Zusammenfassungen und anregende Gedanken zu den verschiedenartigen Interpretationen des Ersten Weltkriegs und des Zerfalls der Habsburgermonarchie enthält. Die Stärke des Buchs besteht vor allem in einzelnen Beiträgen, die führende Fachleute zur Problematik verfasst haben und die mal isoliert, mal in zu erahnender inhaltlicher Synergie mit anderen Teilen des Buches einen fundierten Überblick über die erforschten Probleme bieten. Etwas weniger gut funktioniert der Band als ganzer, da ihm ein klares editorisches Konzept fehlt. Die Gewichtigkeit des Themas und das Renommee der einbezogenen AutorInnen hätten dem Buch jedoch das Potential gebracht, im Bereich der „Habsburg Studies“ ein basales Orientierungswerk zur Interpretation des Untergangs des Österreichisch-Ungarischen Staatengebildes zu werden.

 

Übersetzung: Lena Dorn

 

 

Helmut Rumpler / Ulrike Harmat (Hg.): Bewältigte Vergangenheit? Die nationale und internationale Historiographie zum Untergang der Habsburgermonarchie als ideelle Grundlage für die Neuordnung Europas. Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, 2018, 543 S.


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