Es schreibt: Tereza Czesany Dvořáková

(E*forum, 13. 1. 2021)

Peter Demetz (Jahrgang 1922), ein bedeutender und renommierter amerikanischer Germanist mitteleuropäischer Herkunft, muss hier wahrscheinlich nicht ausführlich vorgestellt werden. Die Schwerpunkte seiner akademischen Arbeit waren Literaturtheorie sowie die Übersetzung, Lehre und Vermittlung von deutscher und auch tschechischer Literatur in den Vereinigten Staaten. Seit den siebziger Jahren war er zudem als Mitarbeiter der Literaturredaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung tätig, und zur Jahrtausendwende wurde er einer der Herausgeber und Übersetzer der respektablen 33-bändigen deutschsprachigen Ausgabe tschechischer klassischer und moderner Literatur, der Tschechischen Bibliothek (München – Stuttgart: DVA, 1999–2007).

 

Ungefähr seit seiner Pensionierung in den neunziger Jahren erweiterte Demetz sein schriftstellerisches Betätigungsfeld und begann neben Übersetzungen und theoretischen Arbeiten auch sein essayistisches und autobiografisches Werk zu veröffentlichen. Dieses kombiniert er auf spannende Weise mit dem Genre der geschichtswissenschaftlichen Literatur und akzentuiert darin deutlich seine tschechischen Wurzeln, aber auch überhaupt das kulturelle Wurzelgeflecht der Zwischenkriegs- und Kriegszeit in Zentraleuropa. Sein primäres Ziel ist nicht immer unbedingt die Veröffentlichung neuer Erkenntnisse aus umfangreichen wissenschaftlichen Forschungen. Vielmehr beruhen seine populärwissenschaftlichen Bücher auf den Forschungen anderer WissenschaftlerInnen und sind für eine breite Öffentlichkeit bestimmt, welche an diesen Veröffentlichungen insbesondere die Einblicke neue Zusammenhänge und die persönlichen Erinnerungen eines Zeitgenossen, der im kulturell reichen deutsch-jüdisch-tschechischen Umfeld aufwuchs, zu schätzen weiß. Um nur einige dieser Titel zu nennen: Böhmische Sonne, mährischer Mond (Wien: Deuticke, 1996), Prague in black and gold: scenes from the life of a European city (Macmillan, 1997) [deutsch Prag in schwarz und gold: sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt. München; Zürich: Piper, 2000], Air show at Brescia, 1909 (Macmillan, 2002) [deutsch Die Flugschau von Brescia. Wien: Zsolnay, 2002], Böhmen böhmisch (Zsolnay, Wien 2006) und schließlich Prague in danger: the years of German occupation, 1939–45: memories and history, terror and resistance, theater and jazz, film and poetry, politics and war (Farrar, Straus and Giroux, New York, 2008) [deutsch Mein Prag. Wien: Zsolnay, 2007].

 

In seinem neuesten Werk, dem Buch Diktatoren im Kino. Lenin – Mussolini – Hitler – Goebbels – Stalin, erweitert Demetz sein Interessenfeld noch weiter. Diesmal untersucht er das Medium Kinofilm, von dem er seit seiner Kindheit begeistert ist, und zwar anhand von Persönlichkeiten, die mit dem europäischen Totalitarismus des 20. Jahrhunderts verbunden sind. In der Einleitung erläutert er, dass der Anstoß für dieses Buch von der rein informativen Anthologie Il cinema dei dittatori: Mussolini, Stalin, Hitler (1992) kam, die ihn als Leser nicht befriedigt hatte, da bei diesem Thema „gerade das Vielfache eine einheitliche Perspektive als wünschenswert herausforderte“ (S. 14). Demetz erweiterte das Forschungsfeld über Benito Mussolini, Josef Stalin und Adolf Hitler hinaus um Wladimir Iljitsch Lenin und Hitlers Minister für Volksaufklärung und Propaganda, Joseph Goebbels. Aus filmwissenschaftlicher Perspektive ist diese Auswahl keine ganz systematische, da Lenin in die Entwicklung der Filmpolitik der Sowjetunion sehr viel weniger eingriff als Mussolini, Stalin oder Hitler, und Goebbels war kein Diktator, sondern „nur“ ein enger Mitarbeiter eines solchen. Jedoch war das Ansinnen des Autors nicht, eine perfekt systematische Abhandlung abzuliefern, sondern vielmehr, seinen eigenen Blick auf die Beziehung konkreter historischer Persönlichkeiten zur Kinematographie darzustellen.

 

Demetz hatte im respektablen Alter von 95 Jahren nicht mehr die Ambition, neue Archivrecherchen zu unternehmen, und kommt für seine Überlegungen problemlos mit einer Zusammenstellung der mehr oder weniger bekannten Informationen aus, die andere bereits entdeckt und publiziert hatten. Dabei muss hinzugefügt werden, dass er vor allem ältere Quellen benutzt hat und einige wichtige Beiträge zur Thematik aus den letzten zwei Jahrzehnten in der Literaturliste fehlen. (Stellvertretend seien die Forschungen von Benjamin G. Martin genannt, der zu den Verbindungen der italienischen und deutschen Kulturpolitik in der Zeit von Faschismus und Nationalsozialismus gearbeitet hat.) Mit dem Anmerkungsapparat geht Demetz zwar sparsam um, fügt aber Quellenverweise in konkreten Abschnitten des Buchs ein. Es ist also anders als im letzten Buch Mein Prag, welches nur eine Literaturliste am Ende enthält, was – sicherlich unbeabsichtigt – zu einer bedauerlichen Entwertung der verwendeten historischen Forschungsarbeiten führte. Dies betrifft vor allem die Arbeit mit Forschungen, die nur auf tschechisch publiziert wurden (konkret etwa diejenigen von Petr Bednařík, Vladimír Just und Jiří Doležal), auf die ForscherInnen aus deutsch- und englischsprachigen Feldern nicht zurückgreifen können, weshalb sie in ihren Arbeiten leider überwiegend nur auf Demetz verweisen, der sie nur zusammengestellt und popularisiert hat.

 

Peter Demetz strebt es mit dem Buch nicht an, SpezialistInnen für sowjetische, nationalsozialistische oder faschistische Filmgeschichte zu beeindrucken, sondern einer breiteren Leserschaft die Vielschichtigkeit der Beziehung von Regime und Kunst zu zeigen, oder anders gesagt: „den Rhythmus der Diktatorenherrschaft und die Filmgeschichte mehr oder minder gleichzusetzen“ (S. 15). Der Autor rekonstruiert fünf interessante Arten von historischen Persönlichkeiten, die sich aus verschiedenen Perspektiven und in unterschiedlicher Intensität auf den Film bezogen. Der Traditionalist W. I. Lenin zeigte mit Ausnahme einiger kurzer Lehrfilme und Wochenschauen praktisch kein Interesse am Film, und seine berühmte These über den Film als wichtigste Kunstform war wahrscheinlich aus dem Kontext gerissen. B. Mussolini blickte als Fan von Genre-Filmen und mit Kenntnissen zum globalen Kontext der Filmindustrie auf die Kinematographie, und er delegierte die Betreuung des Films. – Er stellte in seinem Umfeld ein Netzwerk von Managern zusammen (darunter war auch sein Sohn Vittorio), die eine neue, moderne italienische nationale Kinematographie aufbauten, einschließlich einiger Institutionen, die bis in die Nachkriegszeit erhalten blieben (die Filmfestspiele von Venedig, die Filmschule des Centro Sperimentale di Cinematografia, die Zeitschrift Bianco e Nero u. a.). Adolf Hitler, in der Zwischenkriegszeit Liebhaber von deutschen, aber auch amerikanischen Filmen, hatte im Unterschied zu Mussolini ein größeres Bedürfnis in die Filmbranche des Reichs persönlich zu intervenieren und sich dazu zu äußern. Seine Reaktionen auf konkrete Filme, die er sich in seiner Residenz regelmäßig vorführen ließ, waren schwer vorherzusagen. Bekannt ist sein Vertrauen in das Werk der selbstständigen Regisseurin Leni Riefenstahl, die zum Aufbau von Hitlers visueller Repräsentation beitrug und deren Werk im Rahmen des Filmkanons des Dritten Reichs hinausragte. Joseph Goebbels wird von Demetz vor allem als Architekt einer neuen, verstaatlichten Reichskinematografie vorgestellt, der zwar in vielen Fällen mit Hitlers Ansichten über Filme und Filmemacher nicht übereinstimmte, aber den Gehorsam und die Verehrung gegenüber seinem Führer immer aufrecht erhielt. Auch die amouröse Episode mit Lída Baarová wird nicht ausgespart. Dagegen verbleiben Goebbels’ theoretische Aufsätze, in denen er die nationalsozialistische Unterstützung für den Genre- und Zuschauerfilm erläuterte und die avantgardistische Linie des Autorenfilms ablehnte, außerhalb des Interesses des Autors. Bei Hitler und Goebbels geht der Autor auch auf ihren Einfluss auf die Schicksale konkreter FilmemacherInnen mit jüdischem Hintergrund ein. Im Fall von Josef Stalin führt Demetz die Anfänge des Interesses dieses Politikers für den Film Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre an, als er persönlich in die Produktion des Films Die Generallinie von Sergei Eisenstein eingriff, und später setzte er sich beispielsweise immer wieder für seine Lieblingstitel ein: etwa den Propagandafilm Tschapajew, bis heute hervorragende Komödien von Grigori Alexandrow oder auch verschiedene Titel aus der Geschichte der sowjetischen Völker.

 

Überraschenderweise enthält Demetz’ Buch kein Fazit, die Schlussfolgerung überlässt der Autor seinen LeserInnen selbst. Das wahrscheinlich Wertvollste für tschechische LeserInnen und ausländische SlawistInnen befindet sich meines Erachtens allerdings – ebenfalls unerwartet – auf den ersten sieben Seiten des Buchs. Es handelt sich um die Kindheitserinnerungen des Autors an seine Erlebnisse in den Brünner Kinos Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre. Demetz’ Erinnerungssplitter vermitteln einen Eindruck von der Atmosphäre der Filmvorführungen, vom kulturellen Leben in der mährischen Metropole und von der Entstehung seiner tiefen Liebe zum neuen Medium Film, die ihn auch im Verlauf der verschiedenen Wirrungen seines Lebens, der politischen Verfolgung und der folgenden Jahrzehnte des produktiven akademischen Lebens, nie verlassen hat.

 

Übersetzung: Lena Dorn

 

 

Peter Demetz: Diktatoren im Kino. Lenin – Mussolini – Hitler – Goebbels – Stalin. Wien: Paul Zsolnay Verlag, 2019, 255 S.


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