Es schreibt: Petra Liebl

(E*forum, 30. 12. 2020)

Die tschechische Literatur ist in Deutschland eher weniger bekannt, was schlicht an der niedrigen Zahl an übersetzten Titeln liegt – trotz des sprunghaften Anstiegs im Zusammenhang mit der Leipziger Buchmesse 2019, deren Gastland die Tschechische Republik war: von durchschnittlichen 5,5 Büchern noch im Jahr 2017 auf 25 im Jahr 2019. Generell nimmt die Übersetzungsliteratur auf dem übersättigten deutschen Büchermarkt in den letzten Jahren lediglich ca. 12 Prozent der Gesamtveröffentlichungen dar: Laut den Angaben des Deutschen Börsenvereins dominiert dabei die englische Sprache eindeutig. Die Vermarktung unbekannter Autoren aus kleineren Staaten stellt für deutsche Verlage ein ökonomisches Risiko dar.

 

Der 2004 gegründete Verlag Voland & Quist, in dem die zu besprechende Publikation Die letzte Metro. Junge Literatur aus Tschechien (Hg. Martin Becker / Martina Lisa), Dresden und Leipzig: Voland & Quist, 2017 erschienen ist, nimmt dieses Risiko bewusst in Kauf, indem er sich neben der Literatur moderner Genres, wie z. B. der Spoken-Word-Lyrik, auch auf Romane und Erzählungen junger süd-, ost- und mitteleuropäischer AutorInnen spezialisiert hat. Eine seiner Übersetzerin ist Martina Lisa, die die Texte für Die letzte Metro oft erstmals ins Deutsche übertrug.

 

Die Anthologie mit dem ansprechenden Umschlagmotiv einer aus einem Tunnel herausfahrenden U-Bahn beinhaltet 32 Kurztexte von insgesamt 18 tschechischen Autorinnen und Autoren. Genau genommen sind es 33 Texte von vermutlich 20 Autoren, denn Die letzte Metro beginnt nicht mit einem klassischen Vorwort, sondern mit einer eigenen gleichnamigen Kurzgeschichte, einem „Erfahrungsbericht“ (S. 9ff.) aus der Feder der Herausgeber. Ein brillanter Text, der in der Ich-Form eines Kollektoren-Bewohners im etwas traumhaften, an Legenden erinnernden Stil viele Themen und Figuren des Bandes lose vorwegnimmt und dabei zwei „Institutionen“ besonders hervorhebt: zum einen die Prager U-Bahn mit ihrer Geschichte und insbesondere mit dem Phänomen der „letzten Metro“ und zum anderen die Kneipe bzw. das Gespräch beim Bier. Was der Text jedoch keineswegs verrät, ist, wie die Herausgeber bei der Auswahl der Texte vorgegangen sind. Den einzigen Hinweis bietet der Klappentext: „Wie und wo begegnet man der jungen tschechischen Literatur? Womöglich in der Prager Metro? Und ist die tschechische Kneipe immer noch der ultimative Ort der Inspiration? Das Bafeln beim Bier als literarischer Topos ist in diesem Buch nur der Ausgangspunkt für eine wilde Fahrt durch Bilder, Stile und Stimmen der eigenwilligen tschechischen Gegenwartsliteratur.“

 

Die Palette an vertretenen Genres und Stilen zeigt sich tatsächlich als sehr vielfältig: Gedichte, Liedtexte, Kurzgeschichten, Romanauszüge oder Kolumnen. Manche Texte sind nur ein paar Zeilen lang, andere nehmen fast 20 Seiten ein. Die stilistische Reichweite erstreckt sich vom klassischen Erzählstil (z. B. bei Dora Čechova, S. 122ff.) bis hin zur experimentellen Kalenderlyrik (bei Ondřej Buddeus, S. 173ff.). Thematisch führt uns der Band von der Metro über Kneipen und dortige Biergespräche, Emigration, Auslandserfahrungen bis hin zu Beziehungsproblemen aller Art (homo- und heterosexuelle, allgemein zwischenmenschliche). Die Geschlechterverteilung ist bei den Autorinnen und Autoren sehr ausgeglichen, wobei der Frauenanteil mit 10:8 sogar leicht überwiegt. Vertreten ist mit der russischstämmigen Dora Čechova sogar eine Schriftstellerin mit Migrationshintergrund. Bereits aufgrund dieser skizzenhaften Aufzählung lässt sich sagen: Eine bunte Mischung, und zwar auf mehreren Ebenen. War das der Auswahlschlüssel?

 

Etwas irreführend ist der Untertitel des Bandes – junge Literatur. Vertreten sind nämlich alle Geburtsjahrzehnte zwischen den Jahren 1946 und 1992 – zwei der Autoren, Vladimíra Čerepková und Filip Topol, sind sogar bereits vor einigen Jahren verstorben. Zudem sind die meisten der Namen auf dem tschechischen Bücher-, Musik- oder publizistischen Markt etabliert, einige (allen voran Rudiš, Viewegh, Hakl) bereits mehrfach ins Deutsche übersetzt, Rudiš schrieb seinen letzten Roman Winterbergs letzte Reise sogar direkt auf Deutsch. Die Bezeichnung „jung“ bezieht sich also vermutlich lediglich auf die in Tschechien jüngst erschienenen und in vielen Fällen tatsächlich erstmals für den vorliegenden Band ins Deutsche übersetzten Texte. Das Wort „zeitgenössisch“ wäre hier eindeutiger gewesen.

 

Die Übersetzerin Martina Lisa scheint keine Verfechterin einer wortgetreuen Übersetzung zu sein – das ist mutig und gelingt ihr oft. Manchmal allerdings führt es zu inhaltlichen oder stilistischen Ungenauigkeiten bzw. einer Verfremdung des Originals. So schreibt sie z. B. in Igor Malijevskýs Das Goldene Glöckchen (S. 16ff) SMS-Nachrichten alle nur mit kleinen Buchstaben, obwohl das der Autor im Original nicht tut und hält die wechselnde Zeitform von Präsens zu Präteritum im Original (ab S. 17 unten) nicht ein. Ähnlich, nur umgekehrt, geschieht es in Dora Kaprálovás Bašu šiši děkni (ab S. 166 unten), wo im Gegensatz zum Original die Zeitform nicht ins Präsens gewechselt wurde. Filip Topols Stil in Tag und Nacht (S. 60ff.) verfremdet sie, indem sie seine manchmal absatzlangen Sätze zerstückelt, was die subjektive Stimmung des Originals schwächt – der Gedankenfluss fließt nicht mehr so unruhig schnell. Die Übersetzung der lyrischen Texte ist eher schwierig zu beurteilen, weil diese häufiger Raum zur Interpretation bieten, der bei der Übersetzung jedoch manchmal eindeutig eingegrenzt werden muss. Das ist der Fall beim dritten Gedicht in Malijevskýs Das Goldene Glöckchen (S. 22 oben). Lisa wählt eine grammatisch mögliche Variante („nicht zu ende gesprochene sätze / wie kinderlose frauen / wahnsinnige bedeutungen / die nichts mehr tragen“). Aussagekräftiger und stärker wäre aber eine dem Original treuere Übersetzung („nicht zu ende gesprochene sätze / sind wie kinderlose frauen / wahnsinnig durch bedeutungen / die sie nicht mehr tragen werden“). Eindeutig falsch ist die Übersetzung eines Verses im ersten Gedicht derselben Kurzgeschichte (S. 17) („röteten das meer / der straßenbahninseln“), im Original steht aber, wortwörtlich übersetzt („röteten das meer / um die straßenbahninseln“). Etwas zu dramatisch übersetzt ist dann in Emil Hakls Planet Žižkov (S. 39) die Wortverbindung „domácí hádka“, wortwörtlich „Hausstreit“, als „häusliche […] Gewalt“. Es finden sich auch ein paar falsch verstandene bzw. übersetzte Wörter: beispielsweise die Redewendung „krákat se za vlasy“, die so viel bedeutet wie „sich schmerzhaft an den Haaren ziehen“, in Lisas Übersetzung aber „liegen sich zwei dicke Frauen krähend in den Haaren“ (S. 39). Diese und andere Ungenauigkeiten und Übersetzungsfehler sind unnötig, die Gesamtaussage der Originale können sie aber nicht verändern. Klassisch geschriebene Geschichten liegen Martina Lisa jedenfalls etwas besser, bei den experimentelleren Texten trifft sie den Stil des Originals manchmal nicht genau.

 

Sehr lobenswert ist die alphabetische Liste der Autorinnen und Autoren am Ende des Bandes, die kurze Grundinformationen zu ihrem Leben und literarischen Wirken sowie den bereits erschienenen Übersetzungen ins Deutsche beinhaltet. Und auch die ebenso alphabetisch geordneten Quellennachweise sind sehr hilfreich, denn sie verraten dem Leser die tschechischen Originaltitel mitsamt der Veröffentlichungsinformationen, was bei weiteren Recherchen eine große Hilfe ist.

 

Trotz aller Kritik und Unklarheiten: Es ist äußerst erfreulich, dass diese Anthologie entstanden ist. Bücher wie Die letzte Metro haben das Potenzial, auf mehrere Autoren gleichzeitig aufmerksam zu machen. Der Anthologie ist es gelungen, viele erfolgreiche zeitgenössische tschechische Autorinnen und Autoren mit ihrer unglaublichen Bandbreite an Stilen, Themen und Genres dem deutschen Publikum vorzustellen. Die Metro und das „Bafeln beim Bier“ sind am Ende doch nicht so allgegenwärtig wie im Klappentext etwas klischeehaft angekündigt, ein erster und durchaus vielseitiger Einblick in die „eigenwillige tschechische Gegenwartsliteratur“ wird jedenfalls überzeugend vermittelt. Der Band hat das Potenzial, im Leser Lust auf mehr zu wecken. Es wäre wünschenswert, wenn bald ganze Bücher der vorgestellten tschechischen AutorInnen auf Deutsch erscheinen könnten. Dank Martina Lisa ist dies mit Tereza Semotamovás in der Anthologie auszugsweise vorgestelltem Roman Im Schrank 2019 bereits geschehen.

 

 

Martin Becker / Martina Lisa (Hg.): Die letzte Metro. Junge Literatur aus Tschechien. Dresden und Leipzig: Voland & Quist, 2017, 208 S.


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