Es schreibt: Sabine Eickenrodt

(16. 12. 2020)

„Ich bin tschechoslovakischer Attasché. Daher so sehr in Eile.“ (1926; S. 711). Neben dieser Briefaussage gibt es kaum Hinweise auf Kenntnisse des Schweizer Autors Robert Walser (1878–1956) über den 1918 neu gegründeten Staat der ČSR, als dessen „Botschafter“ er sich hier bekennt. Jedenfalls hat der in Bern ansässige Dichter, Feuilletonist und Romancier, der 1929 für den Rest seines Lebens in der Psychiatrie verschwand, weder Prag noch Bratislava gesehen. Bis heute gilt manchen seine Mitarbeit für Prager Zeitungen als Verlegenheitslösung eines Schriftstellers, der in den Blättern der Schweiz und des Deutschen Reichs nur noch mit Mühe publizieren konnte. Seine Texte schienen gestelzte Sätze aus dem Musterkatalog eines literarischen Möchtegerns feilzubieten: „Mein Haar war von strengster Gekämmtheit“ (Der Sternheimsche Riese; S. 226) oder: „Wie gab sich Goethe um die deutsche Sprache Mühe.“ (Frühlingsblumen; S. 414); und in einem despektierlichen Nekrologgedicht auf den 1926 verstorbenen Rilke: „Friede sei nun / mit dir, du Zier im Lyrikersaale“ (Rilke†; S. 238). Der Eindruck des Dilettantischen geriet auch bei freundlichen Walser-Interpreten nicht selten zur bedenklichen Diagnose: Einem Borderliner sei eben nichts anderes übrig geblieben, als im fernen Prag weiterzudilettieren – „am Rande der westlichen Welt“.

 

Von 1925 bis 1937 erschienen insgesamt 208 Texte Walsers in 194 Zeitungsausgaben der deutschsprachigen Prager Presse, überwiegend in der sonntäglichen Literaturbeilage Dichtung und Welt. Die von Hans-Joachim Heerde und Barbara von Reibnitz edierten Bände der Kritischen Walser-Ausgabe (KWA III 4.1-2) versammeln alle hier gedruckten Beiträge, unter ihnen zahlreiche Dichter-, Maler- und Kritikerporträts in Vers und Prosa wie das Selbstporträt Walser über Walser (S. 27) oder Texte zu Jean Paul, Brentano, Beardsley, Brueghel, Renoir, Hauff, Hesse, Tolstoi, Kleist und anderen „Lorbeerkranzbedürftig[en]“ (Kleist-Essay, S. 656). Weitere Bände mit Walsers Texten im Prager Tagblatt werden im Rahmen der Abteilung III (Drucke in Zeitungen) erscheinen. Die Edition folgt den bereits bewährten Prinzipien der Herausgeber*innen, die Texte nicht nach ihrem Werkzusammenhang zu publizieren, sondern nach ihrem Druckort. Dieses Verfahren nimmt die kleinen Formen im Kontext ihres Erscheinens ernst und weist der Feuilletonforschung neue Wege. Nicht mehr geht es nur um (literar-)historische Hintergründe, um das redaktionelle Profil der Zeitung, sondern auch um die Frage, wo ein Artikel auf der Seite verortet ist, ob er mit anderen Beiträgen oder mit der politischen Berichterstattung „über dem Strich“ kommuniziert. Damit ist die Autorfrage zumindest relativiert: denn Inhalt und Aussagekraft eines Zeitungsartikels werden nicht nur als originäres Schreibprodukt betrachtet, sondern auch als Kompositionsleistung der Redakteure.

 

Jedem Artikel Walsers wird von den Herausgeber*innen ein graphisches Schema vorangestellt, das die Position des Textes kenntlich macht. Eine Legende schlüsselt die Überschriften auch der anderen benachbarten Artikel auf, und in der über einen Zugangscode einzusehenden KWAe-online ist die betreffende Zeitungsseite (wie auch das Frontcover) sowohl als Faksimile als auch in der Transkription abzurufen. Weitergehende Recherchen können auf die täglich dreimal erschienenen Druckausgaben zurückgreifen (vgl. Nachwort, S. 693) oder das im Nationalmuseum Prag erarbeitete Digitalisat der Prager Presse zu Rate ziehen. Ein alphabetisches und ein chronologisches Verzeichnis der Texte schließen die beiden Bände ab. Sämtliche Titel Walsers können zudem über das im open access laufend aktualisierte elektronische Findbuch recherchiert werden. Dies ist umso wichtiger, als Walsers mehrstufiges Verfahren der Textproduktion es Editoren nicht gerade leicht macht: Insgesamt 182 Drucke lassen sich mikrographischen Entwürfen zuordnen (vgl. Nachwort, S. 679; Anhang, S. 787ff.), also Walsers Arbeiten in Miniaturschrift, die in der Abteilung VI der KWA nach und nach – auf der Grundlage von Bernhard Echtes und Werner Morlangs Entzifferungsleistung – in Zürich von Fabian Grossenbacher, Angela Thut und Christian Walt neu ediert werden. Darüber hinaus sind Walsers 100 handschriftliche Druckmanuskripte vergleichend einzubeziehen, die zum Prager Nachlass des Chefredakteurs Arne Laurin gehören (Literární archiv Památníku národního písemnictví, LA PNP). Sie liegen seit 2018 als Faksimiles im Originalformat und transkribiert in der KWA V.2 (Prager Manuskripte) vor.

 

Manche Artikel, die Walser der Redaktion hat zukommen lassen, wurden erst Jahre später gedruckt. Der am 14. Mai 1926 an den Feuilleton-Chef Otto Pick gesandte Aufsatz über Bismarck erschien am 14. August 1936 – da hatte Walser seine literarische Produktion bereits eingestellt (vgl. Nachwort, S. 706). Entstanden war er vermutlich unter dem Eindruck des Films über Bismarck von 1925 (in der Regie von Ernst Wendt). Zumindest lässt dies die parodistische Darstellung von dessen Lebenslauf vermuten: „Trotzdem er brav war, führte er Krieg, und trotz der Kriege, die er einzuleiten und zu befürworten schien, war er der zuvorkommendste Gatte.“ (Aufsatz über Bismarck, S. 649) Im Kontext des Bismarck-Mythos, mit dem die Nationalsozialisten Hitler zunächst in die Nachfolge des „Eisernen Kanzlers“ gestellt und als nationale Integrationsfigur gepriesen hatten, erhält der Aufsatz Walsers eine neue Bedeutung: „Was seine Leistungen betrifft, so brauche ich mich kaum weitschweifig darüber zu äußern. Man kennt sie zu Genüge.“ (ebd., S. 650) Unmissverständlich wird schließlich eine scharfe Grenze gezogen zwischen dem Schreiber-Ich und anmaßenden Zeitgenossen: „Vielleicht lächelt man über diese Ausführung, aber gerade darum schrieb ich sie, wie ich überhaupt diejenigen meiner Zeilen für die besten halte, die den Leser veranlassen, sich gegenüber ihrem Verfasser zu überheben.“ (ebd.) Der Ruf des unpolitischen Walser kann angesichts der meisten hier versammelten Texte kaum mehr aufrecht erhalten werden: In der Sonntagsausgabe vom 23. Juli 1933 (S. 614f.) findet sich ein Gedicht mit dem Titel Der Vollendete, das als Hitler-Satire zu lesen ist und vorgeblich das letzte Abendmahl bzw. die Ankündigung des Verrats Jesu in Szene setzt: „Wohl hörtʼ er anderseits die Schüler flehen,“ so heißt es dort: „Gib zu, daß so etwas unmöglich ist, / da du ja unser Stern und Führer bist.“ Ein Blick auf die schematische Abbildung stellt den Bezug des Gedichts zum Leitartikel im Zeitungskopf her. Dieser trägt den Titel „Zwischen Kreuz und Hakenkreuz“ und berichtet über Hitlers im Juli 1933 unterzeichnetes Konkordat mit Rom.

 

Die Leser*innen sind gefordert, sich diese Zusammenhänge zu erschließen: Auf einen Anmerkungsapparat haben die Herausgeber*innen verzichtet, geben aber in ihrem vorzüglich recherchierten Nachwort (S. 675–713) eine Fülle an Informationen. Diese konnten auf Forschungen zur Prager Presse zurückgreifen, darunter vor allem auf die Arbeiten einer Kennerin der deutschsprachigen Zeitungslandschaft in der ČSR, Barbara Köpplová (Prag), und die Beiträge von Kurt Ifkovits (Wien). Die Prager Presse war 1921 im Regierungsauftrag des neuen tschechoslowakischen Staats gegründet worden: Einerseits sollte sie dazu beitragen, die deutschsprachige Minderheit in der ČSR zu integrieren; andererseits fungierte sie als internationaler „Werbeträger“ für die Neuordnung Europas. Ein Schwerpunkt lag von Anfang an auf dem Kultur- und Literaturressort, dessen Redaktion deutsch-jüdisch-tschechische Kulturvermittler und Übersetzer wie Paul (Pavel) Eisner und Grete (Marketa) Reinerová gewinnen konnte. Der Zeitung, für die Walser ab 1925 schrieb, schlug bereits nach ihrer Gründung das Mißtrauen aus deutschsprachigen Kreisen entgegen. Selbst Robert Musil, ein erklärter Sympathisant des Projekts, der den Chefredakteur Arne Laurin (d. i. Arnošt Lustig) aus der Zeit der gemeinsamen Tätigkeit im Wiener Kriegspressearchiv kannte, gab seiner Skepsis gegenüber einer Zeitung Ausdruck, die vielen als Sprachrohr des tschechoslowakischen Außenministeriums galt. Die anfänglichen Schwierigkeiten der Redaktion, Autoren zu gewinnen, und die Bemühung, Lesegewohnheiten der deutschsprachigen Bevölkerung nicht zu düpieren, ließen zunächst das Bild eines gestrigen Literaturgeschmacks entstehen. Die ersten Nummern wurden von der expressionistischen Lyrikergeneration mit Namen wie Albert Ehrenstein, Oskar Loerke, Max Hermann-Neiße und anderen dominiert und veranlassten Karl Kraus in der Fackel zu dem Urteil, es handele sich um ein „expressionistisch orientierte[s] Regierungsblatt“, das die Aufgabe habe, „die Deutschen in Böhmen dadurch für die tschechische Sache zu gewinnen, daß es ihnen die deutsche Sprache in verhunztem Zustand“ (Die Fackel, 1922, H. 595–600, Nr. 7, S. 53) darbiete.

 

Walsers Publikationen in Prag gingen wahrscheinlich auf die Initiative Franz Bleis zurück, aber der Schweizer Autor war in der Prager deutschen Literaturszene Mitte der 1920er Jahre ohnehin kein Unbekannter mehr: Otto Pick, der Feuilletonchef der Prager Presse und selbst Dichter und Kritiker, war wie auch Walser bereits 1913 im Jahrbuch für Dichtkunst Arkadia vertreten, das im Kurt Wolff Verlag erschien. Im selben Heft konnte man die Erzählung Das Urteil des damals noch unbekannteren Franz Kafka lesen. Zwei Jahrzehnte später musste die Prager Presse mit ihren überwiegend jüdischen Redaktionsmitgliedern äußerst vorsichtig agieren, da sie mit Animositäten nicht nur aus sudetendeutschen Kreisen, sondern auch aus einem tschechisch-nationalistischen antisemitischen Umfeld konfrontiert war. Laurin rät in einem Brief an Blei 1934 sogar bitter-ironisch von einer Porträtierung Kafkas ab, weil dieser ein „Prager deutscher Jude gewesen [sei], so dass er auch nicht auf der Plus-Seite stehen kann.“ Der Brief wurde in die von Michal Topor (Prag) verdienstvoll edierte Auswahlausgabe der dreisprachigen Korrespondenz Arne Laurins aufgenommen (Topor, S. 596), die seine 2019 erschienene Monographie Arne Laurin (1889–1945: portrét novináře ergänzt. Beide Publikationen Topors geben Einblicke in das weitgespannte Netzwerk der Redaktion der Prager Presse und sind somit auch für die zukünftige Walser-Forschung relevant.

 

Dass die Herausgeber*innen der KWA Walsers Briefe an den Feuilletonchef Otto Pick und weitere Schreiben im Anhang dokumentieren, scheint auf den ersten Blick editorischer Luxus zu sein. Denn sie sind auch in der von Peter Stocker und Bernhard Echte sorgfältig kommentierten Gesamtkorrespondenz Walsers enthalten, mit der 2018 die im Suhrkamp Verlag – parallel zur KWA erscheinende – Berner Robert Walser-Ausgabe eröffnet wurde. Genauer betrachtet ist diese thematische Zusammenführung der Redaktionsbriefe jedoch sinnvoll. Sie gibt Einblicke in die Alltagsfron der Textproduktion, zeigt den fixen Blick von freien Journalisten auf das Honorar: „Das Geld aus der Tschechoslovakei langt immer per Banküberweisung an. Man erhält leider für hundert Kronen bloß zwanzig Franken“. (1926; S. 742) Ähnliche Dauerklagen finden sich in den Briefen Franz Bleis an Laurin, die kaum je ohne Honorarforderungen schließen. Vor allem zeigen sie auch die emotionale Bindung an die Redaktion in Prag, die für viele Autoren bis zum Verbot der Zeitung 1938 zum ökonomischen und politischen Rettungsanker wurde. Dass Walsers Texte – insbesondere die gewöhnlich für zu leicht befundenen Gedichte – von Otto Pick regelmäßig abgedruckt wurden, ist durch die Einblicke, die die beiden Bände der KWA gewähren, jedenfalls nun verständlicher. Der Status eines neutralen Schweizers passte zweifellos bestens in das Programm der Zeitung, aber die Redaktion wusste Walsers Ambivalenzen und ausbalancierten poetischen Normverletzungen taktisch auch zu nutzen.

 

 

Robert Walser. Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte (KWA). Hg. von Wolfram Groddeck und Barbara von Reibnitz im Auftrag der Stiftung für eine Kritische Walser-Ausgabe, Basel. Abteilung III (Drucke in Zeitungen), Bd. 4.1: Drucke in der Prager Presse, Jg. 1925–1928; Bd. 4.2: Jg. 1929–1937 (hg. von Hans-Joachim Heerde und Barbara von Reibnitz unter Mitarbeit von Caroline Socha). Mit Zugangscode zur KWAe-online (E-Book ab Dezember 2020 über Open Access zugänglich). Basel: Stroemfeld Verlag / Schwabe Verlag, 2018.

 

Robert Walser. Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte (KWA). Hg. von Wolfram Groddeck und Barbara von Reibnitz im Auftrag der Stiftung für eine Kritische Walser-Ausgabe, Basel. Abteilung V (Manuskripte zu kleineren Formen), Bd. 2: Prager Manuskripte (hg. von Angela Thut, Christian Walt und Wolfram Groddeck). Mit Zugangscode zur KWAe-online (E-Book ab Dezember 2020 über Open Access zugänglich). Basel: Stroemfeld Verlag / Schwabe Verlag, 2018.

 

Robert Walser. Werke. Berner Ausgabe (BA). Hg. von Lucas Marco Gisi, Reto Sorg, Peter Stocker und Peter Utz, im Auftrag der Robert Walser-Stiftung, Bern. Briefe. 3 Bände. Bd. 1: 1897–1920; Bd. 2: 1921–1956; Bd. 3: Nachwort und Anhang (hg. von Peter Stocker und Bernhard Echte, unter Mitarbeit von Peter Utz und Thomas Binder). Berlin: Suhrkamp Verlag, 2018.


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